Die EU sei vorerst nichts anderes als ein Klub aus gedemütigten Imperien von einst, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk im Gespräch mit René Scheu. Die europäischen Politiker müssen eine Antwort finden auf die Frage, wie es möglich ist, so gross zu sein wie das heutige Europa, ohne imperiale Ansprüche zu haben.
Peter Sloterdijk, von April bis Juni 2024 haben Sie eine Reihe von Vorlesungen am Collège de France gehalten. Was war es für eine Erfahrung, als Deutscher an der französischen Nobelakademie zu unterrichten?
Vor allem war es ein Test, wie viel Reste an Idealismus bei einem Autor in seinen höheren siebziger Jahren noch am Leben sind.
Sie meinen, es ging mehr um die Ehre als um alles Übrige?
Mir schien, in meinem Alter und bei meiner Biografie gäbe es in äusseren Dimensionen kaum noch Platz nach oben. Im Grunde sah ich nur zwei Ereignisse, die über das Erreichte hinausdeuten könnten, das eine wäre der Nobelpreis, das andere ein Ruf ans Collège de France. Dass das Collège sich tatsächlich bei mir gemeldet hat, das war in meinen Augen fast ein Äquivalent für den Anruf aus Stockholm, der vermutlich auf Englisch käme. Die Einladung nach Paris kam auf Französisch und per Brief. Ich gebe zu, ich musste eine Weile nachdenken, ob ich soll oder nicht? Eine laute innere Stimme riet zunächst ab. Hast du es wirklich nötig, noch einmal auf die akademische Kanzel zu steigen? Musst du wirklich noch einmal wie ein unseliger Professor Unterricht geben, acht Jahre nach der Emeritierung? Immerhin werden neun einstündige Vorlesungen erwartet, die sollten auch originell sein, zudem gibt es im Anschluss an jede Lesung eine Diskussion mit einem Partner eigener Wahl. Es klang nach Verausgabung.
Und nach einer Grossanstrengung. Wie kamen Sie zu dem Schluss, dass Sie nochmals ranmussten?
Dummerweise kam ins Spiel, was ich eben den Rest-Idealismus nannte. Ich dachte auf konfuse Weise, es gibt über der sonst restlos entzauberten akademischen Welt nur noch eine Stelle, wo der Himmel etwas höher ist als anderswo. Als homo academicus weiss ich von vielen eingestürzten Himmeln. Ich war von 1992 bis 2016 im Geschäft, das reicht, um jede Art von akademischer Illusion abzubauen. Die Beamtenpflicht hielt mich dazu an, den Enttäuschungen zum Trotz weiterzumachen – ähnlich wie D. H. Lawrence über Lady Chatterleys Philosophie schrieb: Man musste das Leben einfach nehmen, wie es kommt, «no matter how many skies had fallen». Bei mir hatte sich ein Rest von Illusion an das Collège de France geheftet. Ich dachte, wenn irgendwo der Himmel noch hoch ist, dann dort.
Sie haben sich also aufgerafft, um in einem noblen akademischen Rahmen Ihr Bestes zu geben. Rückblickend – hat sich der Aufwand gelohnt?
Die Frage werden die Leser des Buchs beantworten, die Hörer im Saal waren durchwegs freundlich. Im Übrigen geben ältere Autoren in späten Arbeiten nicht zwangsläufig ihr Bestes, eher ihr Letztes. Eine Wendung wie «Spätphilosophie» oder «letzte Philosophie» impliziert vor allem, dass Philosophen in unseren Tagen zur Zähigkeit tendieren. Vom späten Hans-Georg Gadamer, der 102 wurde, ist der Ausspruch überliefert: «Ich bin die Hoffnung der Sechzigjährigen.» Übertroffen wird das Bonmot nur von einer Wendung des neunzigjährigen Martin Walser: Als er einen Besucher durch sein Haus am Bodensee führte und einen Moment lang auf einem Treppenabsatz durchatmete, soll er bemerkt haben: «Man ist ja nicht mehr achtzig.»
Das Publikum in Paris war illuster, wenn auch überwiegend angegraut. Eine Ausnahme bildete der französische Präsident. Er zeigte lebhaftes Interesse an Ihrer Präsenz in Paris. Im Anschluss an einen der Vortragsabende hat er ins Élysée geladen. Was bespricht man mit Emmanuel Macron bei Tisch?
Ich bin nicht der Schweigepflicht unterworfen, doch ist es nicht ganz einfach, ein Tischgespräch zu resümieren, das bis Mitternacht ging. Zwei Punkte sind mir besonders in Erinnerung: Ich sprach Macron auf die von ihm eingebrachte Idee an, die Europäer sollten die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine erwägen. Seine Erklärung schien mir bemerkenswert: Der Westen habe einen schweren Fehler begangen, indem er Putin von Anfang an das Eskalationsprivileg überliess. Man hatte ausdrücklich auf die Lieferung bestimmter Waffen verzichtet, egal, welche Greuel die russische Seite beging. Diesen Fehler gelte es zu revidieren. Man müsse endlich «strategische Ambiguität» erzeugen, indem man die Fähigkeit des Drohens wiedergewinnt. In Strategielehrbüchern kann man es ja nachlesen: Souverän ist, wer imstande ist, glaubhaft zu drohen.
Und der zweite Punkt?
Der erste war aktuellerer Natur, der zweite eher überzeitlich, er betraf die psychopolitische Verfassung der französischen Nation. Macron stimmte meiner These zu, wonach die Franzosen letztlich aus der Monarchie nie ganz herausgefunden haben. Die Tatsachen sprechen für sich: Das ganze französische 19. Jahrhundert handelt von Rückfällen in die Monarchie. Zuerst kam der Aufstieg Napoleons, der als Kaiser der Franzosen von 1804 an im Amt war, es folgten, nach 1814, Ludwig XVIII. und Karl X., dann war Louis Philippe an der Reihe, der birnenförmige Bürgerkönig, und von 1851 bis 1870 kam Napoleon III. ans Ruder, der Zweitkaiser, den Victor Hugo hartnäckig «den Kleinen» nannte. Auch aus dem 20. Jahrhundert sind zumindest zwei paramonarchische Episoden bekannt, die von de Gaulle und die von Mitterrand. Nach wie vor stellt die fünfte Republik ein paramonarchisches Experiment dar. Die Verfassung von 1958 war dem General auf den Leib geschrieben. Der hielt vom parlamentarischen Leben bekanntlich nicht viel. Auch die 14 Jahre François Mitterrands waren dem Stil nach durchwegs monarchisch. Der Mann im Élysée wusste nicht, was ein Metroticket kostet. Er ging stets ohne Geldbörse aus dem Haus, wie ein Mitglied der königlichen Familie, das Lieferanten anweist, Rechnungen an die Hofkanzlei zu schicken.
Glauben Sie denn, Emmanuel Macron habe vorgehabt, mit der paramonarchischen Tradition zu brechen? Zollt er ihr nicht weiterhin Tribut?
Dass Macron sich in die Traditionen der jupiterhaften Gestik stellte, war von Anfang an klar. Dafür hatte man ihn ja gewählt, man war des glanzlosen Politikbetriebs müde. Die Franzosen haben 2017 die alten Parteien nach Hause geschickt und den jungen Präsidenten mit einer robusten Mehrheit ausgestattet. Wahrscheinlich wollte man wieder erleben, wie ein Präsident von Gottes Gnaden regiert. Man hatte es satt, zuzuschauen, wie ein Mann vom Typus Hollandes, des banalen Vorgängers, dem Volk auf «Augenhöhe» begegnete. Augenhöhe ist ein riskantes Terrain, da kommt leicht Selbstverachtung ins Spiel. In der Figur Hollandes sah man das eigene Nicht-so-toll-Sein direkt im Spiegel, um es so wenig unfreundlich wie möglich auszudrücken.
Macron hatte versprochen, über das endlose Hin und Her der verbrauchten Parteien hinauszugehen.
Dass Macron die joviale Gestik beherrscht, lag von Anfang an zutage – sie gehörte zu seinem Charme, der anfangs unwiderstehlich durchschlug. Jovialität bezeichnet das jupiterhafte Verhalten, das manchmal mit dem etwas problematischen Ausdruck «Herablassung» umschrieben wird. Macron hat sich bald nach seiner Inthronisierung unbeliebt gemacht, weil er sich des Öfteren herablassend gab – eben ganz so, wie man es von ihm erwartete. Nicht nur in Frankreich wirkt die Erinnerung an vertikale Verhältnisse zwischen scheinbar Gleichen skandalös. Das Vertikalitätstabu ist ja das eigentliche Staatsgeheimnis in Demokratien. Man will einen Fürsten und erträgt ihn nicht. Im Übrigen ist das nicht Macrons persönliche Tragik, es ist die Tragik Frankreichs von 1789 bis heute und die vieler Demokratien.
Wenn Sie auf das Europa von heute blicken, das ich der Einfachheit halber mit der EU gleichsetze, was geht Ihnen durch den Kopf?
Der erste Befund, ohne den der Halbkontinent ein Buch mit sieben Siegeln bleibt, lautet: Europa stellt fürs Erste nichts anderes dar als einen Klub aus gedemütigten Imperien von einst. Ohne die Einsicht in die Verfassung der Ehemaligkeit lässt sich in Europafragen überhaupt nichts verstehen. Es genügt, die Landkarte zu visualisieren und von ganz weit westlich bis in den fernen Osten zu wandern – von Lissabon nach Wladiwostok. Da haben Sie die postimperiale Bescherung komplett vor Augen.
Wie soll man das Rätselwort verstehen?
Fangen wir im äussersten Westen an, wie es auch den historischen Daten entspricht. Das portugiesische Imperium war nicht nur das früheste in der europäischen Neuzeit, beginnend mit Territorien in Westafrika und einem eingeschliffenen System der Sklaventransporte, es war auch eines der umfangreichsten, zudem dasjenige, das seine Entkolonialisierung am längsten verschleppte. Erst in den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts konnte es sich dazu durchringen, die Reste an imperialen Prätentionen fallen zu lassen – im Übrigen zu derselben Zeit, als in Spanien mit Francos Tod ein weltpolitischer Traum endete, der mit der Kolumbusfahrt begonnen hatte. Die beiden iberischen Monarchien hatten die Reichsidee weströmischer Prägung auf neuzeitlichem Boden renoviert. Spanien hat überdies den modernen Staatsbankrott erfunden – er wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dreimal deklariert. Seither ist Bankrottvertagung das kaum verhohlene Staatsziel moderner Politik.
Das nehmen wir besorgt zur Kenntnis. Aber lassen Sie uns weiter Richtung Osten gehen.
Das nächste Kapitel auf der Europakarte ist noch gewaltiger als das vorangehende. Im 19. Jahrhundert wurde Frankreich nach Grossbritannien zur grössten Imperialmacht der Erde. Beide Reiche mussten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark zurückstecken. Und wie geht es ostwärts weiter? Wer geglaubt hätte, dass das im frühen 19. Jahrhundert improvisierte Belgien zu klein ist, um im Kolonienspiel mitzumachen, sähe sich schwer getäuscht. Die belgische Präsenz in Afrika bildete eines der düstersten Kapitel jüngerer Geschichte. Und was soll man von den Niederlanden sagen? Das sympathische kleine Land hatte wenig mehr als eine Million Einwohner, aber es war führend im Handel und Schiffbau, es hat sich in der fernöstlichen Inselwelt ein bedeutendes Reich aufgebaut. Die indonesische Reistafel, die man in Amsterdam serviert, erinnert daran.
Kulinarische Erinnerungen müssen nicht die schlechtesten sein.
Bei ihnen bleibt es nicht. Halten wir die ersten fünf imperialen Gebilde fest, von Westen her gezählt: Portugal, Spanien, Frankreich, Holland, Belgien. Doch von den grössten und unruhigsten Reichs-Monstren haben wir noch nichts gesagt – es folgt jetzt nämlich die britische Insel, mit ihren 52 Kolonien in aller Welt. Wer heute «postimperial» sagt, sollte meistens eher «nachbritisch» sagen. Dann erst kommt das alte Reich Deutscher Nation an die Reihe, gewissermassen der ewige Neurotiker der imperialen Familie. Er trat nach 1870 als preussisches Deutschland neu kostümiert auf die Bühne, mit dem fatalen Nachspiel von 1933 bis 1945. Weiter östlich folgt die k. u. k. Monarchie mit ihren 14 Nationen, die nach 1918 auf zentrifugale Kurse gerieten.
Schliesslich Russland.
In der Tat, ganz im Osten taucht schliesslich das Monstrum aller Monstren auf, das Reich der Zaren. Es hat sich unter der sowjetischen Maske 69 Jahre lang schlafend gestellt und ist mit Putin wieder erwacht. Vergessen wir aber nicht, dass auch das kleine Dänemark Ausgriffe übers Meer unternahm; die schwedischen Expansionen im 17. und 18. Jahrhundert wären ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Zu böser Letzt ist der imperiale Furor auch in Italien wiedergekehrt. Mussolini wollte nicht nur die gegenüberliegenden Küsten des Mittelmeeres, sprich Libyen, akquirieren, sondern das ferne Äthiopien. Kurzum, man sieht, in politisch-dramaturgischer Sicht ist Europa ein Konglomerat aus den Resten von zwölf gescheiterten oder aufgegebenen Imperien. Dann aber hat es sich zu etwas Neuem aufgerafft: Es hat sich unter einem historisch beispiellosen Muster neu zusammengefügt, und wie ich immerzu betone, ist das neue Gebilde wesensmässig sowohl postimperial als auch antiimperial verfasst.
Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen, um Europas Lage heute besser zu erklären, den Akzent auf die vormaligen Imperien setzen, nicht, wie unter Historikern üblich, auf die Nationalstaaten?
Die Staaten, die uns noch immer am meisten zu Sorgen Anlass geben, hatten zuvor durchwegs mehr oder weniger die Form von Nationalimperien angenommen, bevor sie begriffen, dass sie bescheidener werden mussten; dann kleideten sie sich als Nationalstaaten neu ein.
Das scheint mir ein wesentlicher Punkt Ihrer Überlegungen zu Europa zu sein. Erklären Sie es näher!
Es dürfte nützlich sein, an die Epoche der Staatenentstehung auf europäischem Boden nach dem 13. Jahrhundert zu erinnern. Die späteren Staaten wuchsen nach und nach heran, weil die Landesherren, ihres Zeichens in der Regel Könige, sich nicht damit begnügten, ein regnum, ein kleines Machtgebiet, zu beherrschen; sie wollten viel grössere Räume ihrer Befehlsgewalt, ihrem imperium, unterwerfen. Am Anfang der extensiven Flächenstaaten heutigen Typs stehen Kronenträume: Ihren Trägern genügte eine einstöckige Krone nicht mehr, ein zweites Stockwerk sollte dazukommen, die entsprechenden Territorien obendrein. Die Königskrone wollte Kaiserkrone werden. Das Delirium war in den europäischen Monarchien mehr oder weniger ausgeprägt am Werk. Neben dem Kronentraum und mit ihm zugleich erwachte das Fiskus-Delirium – aus ihm entwickelte sich die eigentliche moderne Staatsmacht. Schon im Spätmittelalter schrieb ein luzider Beamter bei Hof: Ubi est fiscus, ibi est imperium. Wo die Staatskasse ist, dort ist die höchste Befehlsgewalt. Man könnte glauben, aus der mittelalterlichen Einsicht wurde das Nachtgebet heutiger Finanzminister.
Eine Beobachtung stimmt besonders bedenklich: Kronen konnten abgelegt werden. Der Fiskus hingegen baute seine Macht in einer Weise aus, wie sie Kaisern oder Königen nie gegeben war.
Interessant ist auch, dass der Papst in Avignon sogar eine dreistöckige Krone aufgesetzt bekam – die Tiara, die bis zum Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils in Gebrauch blieb. Nach der Entdeckung der Neuen Welt wurde an der Spitze der Papst-Krone eine Kosmoskugel angebracht, um weltherrschaftliche Ansprüche zu symbolisieren. Die Geste wurde für die kommende Epoche signifikant. Sie leitete ein, was wir heute die Globalisierung nennen. Mir liegt viel an dem Argument, dass das Wort «Globalisierung» nicht von dem Adjektiv «global» abgeleitet werden darf. Richtig verstanden, kommt es von dem Nomen «Globus» her. Der Globus war das entscheidende neue Medium der westlichen Zivilisation, er lieferte das massgebliche «Weltbild». Seine Bedeutung wächst unaufhörlich weiter, besonders seit jüngst das Anthropozän ausgerufen wurde.
Den Weltbild-Globus gibt es wirklich. Er steht – wie nur wenige wissen – im Nationalmuseum Nürnberg, er ist der älteste unter den Globen der Neuzeit. Auf ihm ist Amerika noch nicht zu sehen, weder das nördliche noch das südliche.
Bekannt wurde er unter dem Namen Behaim-Globus, nach dem Nürnberger Kaufmannssohn Martin Behaim, der ihn unter der Anleitung portugiesischer Globografen hergestellt hatte, bezeichnenderweise im Jahr der Kolumbusfahrt 1492. Nach Nürnberg gelangte das Objekt, damit die dortigen Kaufleute sich eine Vorstellung machten, was mit ihrem Geld künftig geschehen würde. Dazu brauchte man einen Erdglobus, auf dem sich die nahen und fernen Häfen eintragen liessen. In diesem Kontext ist zu bemerken, dass man uns über die vielzitierte «kopernikanische Wende» meistens mit falschem Akzent belehrt hat. Das heliozentrische Weltbild hat vermutlich kaum je einen Menschen ernsthaft betroffen, sofern er nicht Theologe oder Kosmologe war. Auch nach Kopernikus hören wir ja nicht auf, zu sehen, wie die Sonne gut geozentrisch auf- und untergeht. Entscheidend war vielmehr etwas ganz anderes: nämlich, dass von da an europäisches Geld in Form von Schiffen, Waren und Nachrichten um die Erde lief. Nur die wenigsten wussten das, aber auf die kam es an. In dieser Wende leben wir weiterhin, nur dass das Geld inzwischen auch von anderswo kommt.
Wenn ich richtig verstehe, bedeutete das Konzept «imperium» zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert praktisch Landraub in fernen Gegenden, auch Menschenraub, ausgeübt von europäischen Agenten. Es bedeutete aber auch, dass die Kronen sich ihre eigenen Länder energischer aneigneten als zuvor. Sie zentralisierten sie, überzogen sie mit Bürokratie, sie schickten Polizisten und Steuereinnehmer bis ins kleinste Dorf. Es gab demnach immer beide Aspekte gleichzeitig, räuberische Expansion nach aussen, Zentralisierung und Fiskokratie nach innen. Jedoch: Die Länder, die Sie aufgezählt haben, sind längst keine Imperien mehr, ihr Ruhm ist dahin. Leiden die modernen Nationalstaaten an Phantomschmerz wegen verlorener Grösse?
Die These findet man bei manchen Sozialpsychologen. Den Briten vor allem sagt man nach, sie beweinten ihr verlorenes Empire. Manchmal hört man, ihr Austritt aus der Europäischen Union habe etwas mit postimperialer Trauer zu tun, vielleicht sogar mit dem melancholischen Trotz von Verlierern. Man habe nicht länger Mitglied in einem Klub sein wollen, der lauter Loser akzeptierte. In der Tat müssen die Briten bemerkt haben, dass man auf dem Kontinent mit dem Verzicht auf Grossmachtposen anders umgeht als auf der Insel.
Was folgt daraus?
Ich deute den Vorgang als eine Selbsttäuschung auf der Linie von normalmenschlicher Bequemlichkeit. Postimperiale Trauer spielt kaum eine Rolle. Bei den Briten herrscht wie bei den kontinentalen Europäern eine gewisse glückliche Vergesslichkeit vor. Der durchschnittliche Europäer unserer Tage hat überhaupt kein historisches Bewusstsein mehr – auf eine «glorreiche Vergangenheit» kann er nicht stolz sein, weil er sie aktiv ignoriert. Und über das, was man ihm jetzt oft aus den kolonialen Zeiten nachträgt, hört er lieber hinweg. Von ein paar Benin-Bronzen trennt man sich ohne Verlustgefühl, egal ob sie Kunstwerke von Rang oder mediokre Bleche sind. Hauptsache, man lässt die lästige Geschichte hinter sich und fühlt sich moralisch wieder gut in seiner Haut.
Der postheroische und postimperiale Mensch ist also geschichtsvergessen?
Mehr noch, mir kommt es vor, als wüsste heute niemand mehr, was es heisst, «in der Geschichte» zu leben. Mein Grossvater lebte noch in ihr. Des Öfteren erzählte er mir, jedes Mal vor Zorn bebend, wie der letzte Nachkomme der Stauferkaiser, Konradin, 16 Jahre alt, im Jahr 1268 auf dem Marktplatz von Neapel nach einem Scheinprozess enthauptet wurde. Schuld an dem unverzeihlichen Verbrechen sei ein Schurke namens Karl von Anjou gewesen, König von Sizilien und Bruder des französischen Königs. Der wiederum sei bloss eine frömmelnde Null gewesen, wenngleich spätere Historiker ihm gern in den Hintern krochen. Die Erzählung hat meinen Grossvater jedes Mal aufgeregt, als wäre es gestern geschehen. Wer empfindet heute noch so? Wer hat in unseren Tagen noch ein wirklich lebhaftes Verhältnis zu – sagen wir – Bismarck? Der Eiserne Kanzler war vor hundert Jahren ein unumgänglicher Orientierungspunkt fürs nationale Geschichtsbewusstsein, heute schreibt jeder Zweite seinen Namen falsch. Bismarck-Denkmäler gab es nach der Reichsgründung in jeder deutschen Stadt, sogar in München, obschon man es so aufstellte, dass es stadtauswärts blickt, Richtung Alpen, die Herrlichkeit der bayrischen Hauptstadt im Rücken.
Es ist aber nicht so, dass der geschichtsvergessene Mensch die Erinnerung durch das Moralisieren ersetzt. Ich möchte eine These wagen: Eine letzte Tendenz zu imperialer Expansion zeigt sich in Form von europäischem Moralismus bzw. von moralischem Expansionismus. Moralismus ohne Grenzen – ist das nicht die verbliebene Mission Europas?
Man muss wirklich erst vom Phänomen Mission reden, bevor man das Motiv der Expansion zur Sprache bringen kann. Der Missionsgedanke ist von der Existenz des zivilisatorischen Komplexes namens Europa nicht zu trennen. Meine Grundthese lautet: Den europäischen Expansionen seit dem 16. Jahrhundert ging der geografisch-anthropologische Schock voraus. Nach Kolumbus wurde mit einem Mal klar, dass die Erde sehr viel mehr Menschen beherbergte als bisher bekannt. Die meisten waren naturgemäss ungetauft, sie hatten also keine Aussicht auf Erlösung. Nun war Eile am Platz, eine unermessliche Aufgabe war am Horizont erschienen. Eigentlich hätte man glauben wollen, das Wort «missio» müsste schon in der ersten Generation nach Christus aufgetaucht sein, dies war aber nicht der Fall. Die frühen Apostel bezeichneten ihr Metier mit ganz anderen Ausdrücken. Wo sie Latein sprachen, bezeichneten sie ihre Predigtreisen etwa als «peregrinationes propter Christum». Auch ein neues Verbum wie «evangelizare» kam früh in Umlauf. Das Wort «missio» im heutigen Sinn ist eine späte Schöpfung, es taucht im 16. Jahrhundert auf.
Nach Ihrer Darstellung geht es auf die Aktivitäten des damals neugegründeten Jesuitenordens zurück?
«Missio» ist ein jesuitischer Terminus technicus, er erscheint prominent zuerst in dem ominösen vierten Gelübde der Angehörigen der Societas Iesu. Ich darf die drei ersten Gelübde als bekannt voraussetzen?
Sie bringen mich in eine missliche Lage. Da wären zunächst wohl Armut, Keuschheit . . .
. . . und Gehorsam, wohlgemerkt. Diese drei können wir noch ziemlich leicht hersagen, spätestens beim vierten Punkt setzt die Allgemeinbildung aus. Um den zu verstehen, muss man auf den Kontext achten. Ein zusätzliches Gelübde wurde sinnvoll für den, der vorhatte, sich dem sichtlich überforderten Papsttum unentbehrlich zu machen. Das vierte Gelübde stammte einerseits aus dem antireformatorischen Kampf, der heftig in Gang war, andererseits aus der Unruhe nach der Entdeckung der Neuen Welt. Mit dem vierten Gelübde legten sich die Jesuiten dem Papst als neueste und schärfste Waffe der katholischen Sache in die Hand. Die Formel beginnt mit: «insuper promitto», «darüber hinaus verspreche ich»: dem Papst und den Oberen des Ordens unbedingten Gehorsam, namentlich in Bezug auf die Angelegenheiten «circa missiones». Von «missio» war anfangs zumeist im Plural die Rede – es gab so viele neue Völker, an deren Adresse «Entsendungen» nötig wurden. Berühmt wurden die Tauferfolge des baskischen Edelmanns Francisco Xavier an der Westküste Indiens, zumal in Goa, wo er grossteils begraben liegt – nur der rechte Arm, der beim Taufen Besonderes geleistet hatte, wurde post mortem nach Rom zurückgebracht.
Einzelheiten wie diese kommen in den üblichen Versionen von Postcolonial Studies nicht vor.
Weil man sie nicht dem nackten Kolonialismus zuordnen kann. Die Missionare von damals wollten den Ungetauften Zugänge zur ewigen Seligkeit erschliessen. Vielleicht lagen sie metaphysisch falsch, niedere Motive kann man ihnen aber nicht unterstellen. Das Elend begann damit, dass die Missionare und die Ausbeuter nicht selten mit denselben Schiffen ankamen.
Um zurück zum Moralismus zu kommen – wo steht die europäische Mission heute?
Der Bogen zur Gegenwart ergibt sich fast von selbst: Könnten Europäer in der Welt noch etwas bewirken, dann am ehesten durch die missionarische Wirkung deutscher Windräder und anderer ökologisch interessanter Erfindungen.
Aber auch wenn Europäer ihre eigene Geschichte kaum mehr kennen, hegen sie mittlerweile ein Gefühl von Verachtung gegenüber ihrer Herkunft. Kultureller Selbsthass ist ein Phänomen, das sich bei uns weit ausgebreitet hat. Wie kam es dazu?
Mit seiner aktiven Stellung im Zentrum der grösstmöglichen Erzählung hatte sich Europa eine Last aufgebürdet, die es seit längerem gern abwerfen möchte. Die wenigen, die sie mit Gewinn weitertragen, sind meistens Intellektuelle, die das schlechte Gewissen der Mehrheiten bewirtschaften. Die Stimmen der realen Anderen – der Kolonialisierten von früher und ihrer Erben – sind noch immer nur am Rand hörbar. Wenn man sie hier wiedergibt, dann, weil sie Dinge formulieren, die wir uns selbst sagen. Postkoloniale Stimmen tauchen auf in dem Mass, wie sie in die Selbstanklage des Westens passen. Schon 1967 hatte die junge Susan Sontag geschrieben: «Die weisse Rasse ist der Krebs der Menschheit.»
Sie sprechen in Ihrer Inauguralrede in Paris von «Leukophobie», das heisst vom Hass auf alles, was von den Weissen kommt. Was ist da im akademischen Denken – und im Denken ganz allgemein – verrutscht, bis es zu solchen Äusserungen kommen konnte?
«Verrutscht» ist ein Wort, das die Sache so ziemlich trifft. Von den 1960er Jahren an rutschte es bei uns auf ganzer Linie. Damals war in der neomarxistischen Szene frischer Wind aufgekommen. Man hatte den Gedanken zugelassen, dass es nicht immer das Proletariat sein muss, wenn ein Subjekt der Revolution gesucht wird. Auch der Rassenkampf geht recht gut, wie Frantz Fanon erkannte, zumindest solange er antikolonial codiert wird. Geschlechterkampf sowieso immer. Auch der Kampf der psychisch Abweichenden gegen die Normalos war nicht ohne, Stichwort Antipsychiatrie. Im Rückblick sieht man es ganz klar: Die jüngere Geistesgeschichte von links ist durch die Enttäuschung über das Proletariat bestimmt. Die Arbeiter wollen keine Revolution. Man hätte aber leicht erkennen können, dass schon das Bürgertum des 19. Jahrhunderts den Adel nicht abschaffen, sondern ihm ähnlich werden wollte.
Worauf wollen Sie hinaus?
Man hat uns ein Jahrhundert lang mit Erzählungen von der unvollendeten Revolution hingehalten. Es wäre realistischer gewesen, auf die effektiven Nachahmungsbewegungen zu achten. Man hätte von den mimetischen Anschlussbewegungen sprechen müssen, vor allem auch von der revolutionären Wirkung der fossilen Energien, die erst alles ermöglichten, was moderne Gesellschaften ausmacht. Man hätte erklären sollen, wie und warum im 19. Jahrhundert das Bürgertum den Adel nachahmte und wie sich die Arbeiterschaft im 20. Jahrhundert das Kleinbürgertum zum Vorbild nahm. Dann wären wir zu Erzählungen gekommen, die zu unseren Erfahrungen gepasst hätten. Wir würden zudem begreifen, warum es heute in den einfachsten Wohnungen ein komplettes Bad gibt. Noch vor 50 Jahren waren Bad und Toilette oft auf dem Flur, stockwerkweise. Die Nachahmung der Bourgeoisie durch Arbeiter und Angestellte bleibt das wenig beachtete sozialpsychologische Hauptereignis des 20. Jahrhunderts. Ermöglicht wurde es durch die durchschlagende Popularisierung fossilenergetisch basierter Technik. Das Gleiche gilt für die massenhafte Motorisierung des Verkehrs. Der Trend ist im Übrigen ungebrochen, nur dass man, um das Niveau zu halten, nach alternativen Energiequellen für den popularisierten Luxus sucht. Orientierung am Luxus ist die erste Bürgerpflicht.
Demnach hätten wir zu begreifen, dass wir statt in der Geschichte in einer Serie mimetischer Bewegungen leben.
Bezeichnend ist, dass die radikale Linke Frankreichs um 1968 vom Gang der Dinge nicht das Geringste verstanden hatte. Einige Aktivisten hatten damals das nobelste Feinkostgeschäft von Paris, Fauchon an der Place La Madeleine, in radikal progressiver Absicht geplündert. Man räumte Kaviar, Gänseleberpastete und Ähnliches aus den Regalen und trug die Beute in Arbeiterviertel. Die Empfänger wussten aber überhaupt nicht zu schätzen, was man ihnen da vorsetzte. Die mimetische Welle hatte ihre Quartiere noch nicht erreicht. Heute würden sie es vielleicht zu schätzen wissen.
Das spricht für die Demokratisierung der Gesellschaft – einer Gesellschaft allerdings, die sich, während sie geniesst, zugleich verachtet. Wo sind die Selbstachtung, der Selbststolz der Europäer geblieben? Wir haben die Demokratie und den Rechtsstaat erfunden, dazu das moderne Unternehmertum, das Ingenieurwesen, das kreditäre Geldsystem und den Computer.
Ich verstehe, warum Sie die Stolzfrage früher oder später stellen mussten, als Schweizer und okzidentaler Mensch. Deutsche von heute diskutieren das Thema weniger gern. Kommt Stolz bei uns zur Sprache, sind neonationalistische Reflexe oft nicht weit. Man könnte glauben, den Deutschen könnte etwas Nachhilfeunterricht in thymotischen Regungen nicht schaden. Bei den Griechen meinte «thymos» Stolz und Selbstbehauptung. Bei uns wird meistens gleich Ressentiment daraus.
Was Stolz angeht, kann ich mich auf einen Verbündeten berufen. Paul Valéry schrieb um 1922 Sätze nieder, die im Ohr eines stolzen Europäers noch immer sehr gut klingen: «[Europa] hat seine Museen, seine Gärten, seine Ateliers, Universitäten und Salons. Es besitzt Venedig, Oxford, Sevilla, Rom und Paris. Da gibt es Kunststädte, Städte der Wissenschaft, Städte, die Arbeit und Vergnügen vereinen. Europa ist so klein, dass man es in einer sehr kurzen, bald völlig unbedeutenden Zeit durchmessen kann.» Und weiter: «Überall, wo der europäische Geist herrscht, sieht man ein Maximum an Bedürfnissen, ein Maximum an Arbeit, Kapital, Leistung, Ehrgeiz, Macht und ein Maximum an Veränderung der äusseren Natur, ein Maximum der Wechselbeziehungen und -wirkungen auftreten.»
Der Begriff des Maximums ist mathematisch zu verstehen. Valérys abschliessende Formel besagt, der europäische Geist manifestiere sich in einem «Ensemble von Maxima». «Ensemble» ist das französische Wort für das Konzept der Menge.
Der Denker ging an das Phänomen Europa strikt rationalistisch heran.
Und doch, ein Einwand drängt sich auf: Man kann Valérys Formel heute nicht zitieren, ohne auf trübe Gedanken zu geraten. Sie gehört noch ganz unverkennbar zu der Ära, die der Selbstvernichtung Europas vorausging. Wenn wir sie heute lesen, spüren wir, dass etwas an ihr für uns nicht mehr stimmig ist. Von den 1920er Jahren an ist der Geist Europas über den Atlantik ausgewandert. Gegen Ende der 1930er Jahre soll der Leiter des New Yorker Museum of Modern Art gesagt haben: «Hitler ist mein bester Freund.» Hitler schickte den Amerikanern die europäische Elite, darunter die wichtigsten Mathematiker und die Erfinder der Kybernetik. Was damals geschah, lief auf eine neue Art von «translatio imperii» hinaus, auch auf eine «translatio studiorum» und eine «translatio artium».
Das römische Imperium hätte sich demnach jenseits des Atlantiks reinkarniert. In Ihren Pariser Vorträgen haben Sie Europa einen «Kontinent ohne Eigenschaften» genannt, in Anspielung auf Robert Musils Roman. Im Jahr 1994 hatten Sie in Ihrem kleinen Buch «Falls Europa erwacht» von einem «Rätsel ohne Lösung» gesprochen. Was hat sich in den letzten dreissig Jahren getan?
Die Lösung ist auch heute nicht gefunden. In politischer Hinsicht jedoch hat Europa inzwischen eine etwas deutlichere Figur in die Welt gesetzt – die einer postimperialen Union von Staaten. Nun steht ein Populationsblock von 450 Millionen Menschen in 27 politischen Einheiten vor der Denkaufgabe, wie etwas so Riesiges Bestand haben kann, ohne sich wieder in das herkömmliche Gewand eines Imperiums zu hüllen. Ein Gebilde dieser Art war in der politischen Grammatik der Hochkulturen nicht vorgesehen. Traditionell galt die Regel: Entweder du bist gross, oder du bist klein. Bist du klein, dann wehe dir. Bist du gross, gibt es zur Imperialität keine Alternative. Die aktuelle Frage lautet hingegen: Wie ist es möglich, so gross zu sein wie das heutige Europa – es hat mehr als dreimal so viele Einwohner wie Russland –, ohne wieder ein Imperium sein zu wollen?
Wie würde die philosophische Lösung lauten?
Die Lösung wäre wohl ein philosophisch-theologisches Experiment. In der russischen Theosophie des 19. Jahrhunderts gab es eine Tendenz, über die christliche Trinität hinaus zu spekulieren. Einige Laientheologen, darunter ein gewisser Chomjakow, zerbrachen sich den Kopf über die Frage, ob nicht Gott selbst über drei hinaus zählen können sollte. So gelangten sie zu dem interessanten Konzept «sobornost». Ich weiss nicht, ob es dafür ein deutsches Äquivalent gibt. Soviel ich verstanden habe, bedeutet es so etwas wie «Sein-zur-Versammlung». Es impliziert den Übergang von Dreieinigkeit zu Mehreinigkeit und Vieleinigkeit. Für Europas Definition wäre ein solches Konzept wohl nicht ganz überflüssig. Heute nimmt jeder Holzkopf Zuflucht zu der Phrase, Europa sei eine Einheit in der Vielheit, doch die Einheitsthese ist so gut wie immer nur dahergesagt. Doch weit und breit sieht man kaum jemanden, der die Mittel hätte, zu erklären, wie, wodurch und in welcher Hinsicht eine Vielheit eine Einheit sein könnte. Vielleicht müsste man doch in die theologische Fakultät wechseln.
Eine typische Philosophenantwort: Weiter nachdenken! Ich möchte einen Kontrapunkt dazu setzen. Ich habe mir ein paar Zitate zu Europa notiert, die ich Ihnen jetzt vorlege. Sie dürfen jeweils bloss mit einem Satz antworten. Wagen wir das Experiment?
Einsilbigkeit war nie meine Stärke. Die Tendenz zum Mehrsilbigen ist bei mir aktenkundig.
Ich weiss, lassen Sie es uns dennoch versuchen. Angela Merkel sagte 2007: «Europas Seele ist die Toleranz.» Aktuell oder veraltet?
Nicht nur veraltet, falsch von A bis Z. Darf ich das näher erklären?
In zwei Sätzen.
Zwei reichen nicht.
Vier Sätze!
Ich bin nicht sicher, ob das reicht. Immerhin soll die Urszene Europas zur Sprache kommen. Wir schreiben das Jahr 390 n. Chr. Der Bischof Ambrosius stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Kirche in Mailand, um dem Kaiser Theodosius den Zugang zum Gottesdienst zu verwehren. Der Skandal ist enorm, ich behaupte, er wirkt bis heute nach: Ein Priester verweigerte dem Kaiser den Zugang zur Kirche, weil der Monarch sich im Zustand der Sünde befand. Er hatte für das Massaker von Thessaloniki, das soeben in aller Munde war, noch nicht Busse getan. Kurz zuvor war es in der griechischen Stadt zu einem Aufruhr gekommen, nachdem kaiserliche Truppen einen beliebten Wagenlenker festgesetzt hatten. Die Bevölkerung wollte ihren Helden mit Gewalt befreien – daraufhin entsandte der Kaiser, der die Sache sehr persönlich nahm, seine gotischen Garde-Truppen, um die Ordnung wiederherzustellen. Die Überlieferung will wissen, es seien 7000 Menschen im Stadion der Stadt niedergemetzelt worden. Der Mailänder Bischof war entschlossen, das Ereignis dem Machthaber, der sich zum Christentum bekannte, persönlich zur Last zu legen. Ambrosius war demnach alles, nur nicht tolerant. In gewisser Weise wurde er zum spirituellen Gründer Europas, als er den Spruch seiner Autorität gegen das Faustrecht der politischen Sphäre setzte. Der Kaiser seinerseits ebnete dem späteren Europa eine Bahn, indem er sich dem Einspruch unterwarf. Er vollzog die geforderten Bussrituale in der Einsicht, dass man bei der Ausübung politischer Gewalt die Mächte des Himmels besser nicht gegen sich haben sollte. Daraus folgt: Wenn wir uns heute als Bürger unserer Staaten und als denkende Wesen noch immer die Freiheit nehmen, anderer Meinung zu sein als unsere Regierungen, hat dies damit zu tun, dass vor mehr als anderthalb Jahrtausenden ein wenig toleranter Priester entschlossen war, dem Herrscher die Grenzen zu zeigen.
Ich halte fest: Angela Merkel irrt. Wäre Ambrosius tolerant gewesen, wäre der Urheber des Massakers ohne Einspruch davongekommen. Zum zweiten Zitat. Es stammt von Klaus Kinkel: «Europa wächst nicht aus Verträgen, es wächst aus den Herzen seiner Bürger oder gar nicht.»
Ganz falsch! Es begann mit Verträgen, Herzensmeinungen waren lange überhaupt nicht gefragt. Das Erstaunliche ist eben, dass im kahlen Raum der Verträge auch Sympathien heranwuchsen.
Werner Schneyder, der österreichische Kabarettist: «Europa besteht aus Staaten, die sich nicht vorschreiben lassen, was sie selbst beschlossen haben.»
Lachen genügt als Antwort.
Martin Schulz: «In der EU wird der Erfolg nationalisiert und der Misserfolg europäisiert.»
Fast richtig. Auch Europas Erfolge europäisieren sich.
Catherine Deneuve: «In Europa ist es viel leichter, würdevoll zu altern als in den USA.»
Ich habe zu dem Thema noch keine Meinung. Die Dame ist mir mehrere Jahre voraus.
Zuletzt André Glucksmann: «Die europäischen Politiker sind immer noch vom Geist des Kindergartens beseelt, in dem sie aufgewachsen sind.»
Vor einigen Jahren hat Glucksmann unter dem Titel «Une rage d’enfant» seine Autobiografie veröffentlicht. Man kann dort nachlesen, wie er seine Kinderwut ins Erwachsenenalter gerettet hat. Offenbar gönnt er es seinen Zeitgenossen, wenn auch sie bei den frühen Prägungen bleiben.
Bestseller-Philosoph
rs. · Peter Sloterdijk zählt zu den bedeutenden Philosophen der Gegenwart. Sein Opus «Kritik der zynischen Vernunft» von 1983 ist längst zum philosophischen Bestseller und modernen Klassiker avanciert. Eben ist bei Suhrkamp «Der Kontinent ohne Eigenschaften. Lesezeichen im Buch Europa» erschienen. Es geht zurück auf Vorlesungen, die Sloterdijk im Frühjahr 2024 am Collège de France in Paris gehalten hat.