Am Wiesbadener Parteitag ist grösserer Streit ausgeblieben. Trotz mitunter scharfer Kritik an grünem Regierungshandeln will die Parteilinke den beginnenden Wahlkampf nicht gefährden.
Robert Habeck wird die deutschen Grünen in die nächste Bundestagswahl führen. Der Wirtschaftsminister wurde an diesem Sonntag im hessischen Wiesbaden mit 96 Prozent der Delegiertenstimmen offiziell zum Kanzlerkandidaten der Grünen gekürt.
Im entsprechenden Antrag wird er allerdings nicht so genannt. Stattdessen wird der 55-Jährige als «Kandidat für die Menschen in Deutschland» bezeichnet. Gemeint ist damit aber dasselbe. Habeck habe das Zeug zu einem guten Bundeskanzler, heisst es in dem Text. Mit der etwas ungelenk wirkenden Unschärfe will die Partei ihren schlechten Umfragewerten Rechnung tragen, aber auch nicht explizit auf die 2021 erstmals ausgerufene Kanzlerkandidatur verzichten.
«Ich bewerbe mich, euch im Wahlkampf anführen zu dürfen», sagte Habeck an die Delegierten gewandt. Er habe im Sommer über seinen Rückzug nachgedacht. Die vergangenen Jahre in der Regierung seien nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er wolle angesichts der Herausforderungen aber nicht kneifen und weiterhin Verantwortung tragen. «Und wenn es uns ganz weit trägt, dann auch ins Kanzleramt.»
Die Grünen stecken im Stimmungstief
Habeck ging mit dieser Relativierung auf die Zweifel daran ein, ob eine Kanzlerkandidatur angesichts der schlechten Umfragewerte seiner Partei nicht anmassend, wenigstens aber aussichtslos sei. Schliesslich dümpelt die Regierungspartei derzeit bei nur etwa elf Prozent – kaum eine Basis, von der aus man ernsthaft Anspruch auf das höchste deutsche Regierungsamt erheben kann.
Dennoch hoffen Habeck und die Grünen, in den knapp hundert Tagen bis zur Wahl am 23. Februar die Stimmung noch einmal zum eigenen Vorteil wenden zu können. Die Wähler seien schliesslich in ihrer Entscheidung volatil, hiess es hinter den Kulissen. Die Grünen setzen neben Kernthemen wie Klimaschutz darauf, dass die Angst vor Trump, Putin, AfD und Co. potenzielle Sympathisanten mobilisiert.
Habeck inszenierte sich und die Grünen in seiner Bewerbungsrede deshalb als Versicherung dafür, dass Deutschland und Europa Garanten der liberalen Demokratie blieben. Diese werde schliesslich von aussen und innen angegriffen, sagte Habeck warnend und verwies auf das Erstarken des Autoritarismus in der Welt, aber auch des Populismus in Deutschland.
Habeck geht nicht unbelastet in den Wahlkampf. Besonders das von ihm vorgelegte sogenannte Heizungsgesetz sorgte im vergangenen Jahr für einen Einbruch sowohl seiner wie auch der Beliebtheitswerte seiner Partei. Er versuchte in seiner Rede, diese Schwäche in eine Stärke zu verwandeln. Ja, das Gesetz sei zunächst kein gutes gewesen. Durch einen Schritt zurück sei es dann aber ein gutes geworden, sagte Habeck und inszenierte sich damit als Lernender und Zuhörender.
Keine Sehnsucht nach Opposition
Verzagt wirkten die Grünen trotz den Umfragewerten an ihrem Parteitag nicht. Redner um Redner verwies auf die präzedenzlos hohe Zahl von Parteieintritten seit dem Ende der Regierungskoalition. Etwa 11 000 Menschen seien seither zu den Grünen gestossen, allein 2000 während des Parteitags. Darüber hinaus seien über 750 000 Euro an Kleinspenden eingegangen. Die Grünen sehen dies als Indiz dafür, dass sie gebraucht werden. Dass sie regieren wollen, steht ohnehin ausser Frage. Von Sehnsucht nach Opposition war nichts zu spüren, auch nicht bei der Parteilinken.
Wie von der Parteiführung erhofft und erwartet, wirkte der vorgezogene Wahltermin disziplinierend auf diese. Wäre erst im September gewählt worden, wäre die Kritik am Regierungshandeln grüner Minister wohl deutlich schärfer ausgefallen. Davon ist man in Habecks Umfeld überzeugt. So aber blieb der programmatische Ballast gering, den die Linken dem innerparteilich als Pragmatiker geltenden Spitzenmann auf die Schultern luden.
Der Antrag auf ersatzlose Abschaffung der Schuldenbremse etwa fand keine Mehrheit. Vielmehr sprachen sich die Delegierten für deren Reform aus. Dass massive neue Schulden aufgenommen werden sollen, um etwa die Infrastruktur des Landes zu modernisieren, ist bei den Grünen hingegen Konsens. Auch wurde der Versuch der Parteijugend abgewiesen, grünen Verantwortungsträgern generell zu untersagen, weitere Verschärfungen im Asylbereich mitzutragen.
Entfremdung der Asyllobby
Der letztlich angenommene Antrag zur Migrationspolitik sparte dennoch nicht mit Kritik an den Asylrechtsverschärfungen während der vergangenen Jahre. Diese wurden zwar meist gegen heftigen grünen Widerstand verabschiedet, und dies meist nur in verwässerter Form. Für die Parteibasis schmerzhafte Kompromisse wie etwa zur Erleichterung von Ausschaffungen trugen Grüne in Regierung und Parlament letztlich dennoch mit.
Dies führte zu einer Entfremdung der Asyllobby, die stets Teil des grünen Vorfelds war. Vor dem Tagungsort in der Wiesbadener Innenstadt protestierten deshalb Aktivisten. «Wir fordern die Grünen auf, ins Lager der Menschenrechte zurückzukehren», rief ein Redner an einer Demonstration mit einigen Dutzend Teilnehmern.
Nicht nur aus Sicht grüner Hardliner waren die drei Jahre der Regierung mit Sozialdemokraten und Liberalen deshalb voller Zumutungen. Besonders drastisch äusserte sich die neue Chefin der Parteijugend. «Die ‹Ampel› war scheisse», sagte Jette Nietzard. Doch auch Vertreter des pragmatischen Flügels liessen ihrem Unmut über den ehemaligen Koalitionspartner FDP und dessen Chef Christian Lindner freien Lauf. Habeck brachte diese Stimmung auf den Punkt, als er am Freitag unter dem Jubel der Anwesenden rief: «Es gibt keine FDP, und es gibt keinen Christian Lindner mehr in dieser Regierung.» Die Erleichterung darüber, nicht mehr durch die Fesseln des ungeliebten Bündnisses gebunden zu sein, war allenthalben zu spüren.
Unklarheiten beim Wahlprogramm
Dass die Kompromisse teilweise bis an die Schmerzgrenze gingen oder manchmal gar darüber hinaus, machten die Verantwortlichen wie etwa die Aussenministerin Annalena Baerbock immer wieder deutlich. Grundsätzlich bereit zu Kompromissen wollen die Grünen aber auch in Zukunft sein. So reichte der neue Parteichef Felix Banaszak zwar der Asyllobby die Hand. Man wolle in der Migrationspolitik weiter «an der Seite derer stehen, die an ein weltoffenes Deutschland glauben». Er betonte dabei aber die Notwendigkeit, auch künftig Kompromisse einzugehen.
Die Grünen wollen also keine Zweifel an ihrer Regierungsfähigkeit lassen – egal, in welcher Verantwortung und Konstellation. Nicht ganz so klar wurde indes, womit genau man die Wähler in den verbliebenen Wochen bis zur Wahl von sich überzeugen will. Ein Wahlprogramm soll erst an einem Parteitag Ende Januar verabschiedet werden.
Mit der Nominierung Habecks und der Wahl einer neuen Parteiführung herrscht jetzt aber wieder personelle Klarheit. Nach einer Reihe empfindlicher Wahlniederlagen kündigte die bisherige Parteiführung unter Ricarda Lang und Omid Nouripour Ende September an, am Wiesbadener Parteitag nicht mehr erneut zu kandidieren.
Am Samstag wählten die Delegierten Habecks Vertraute Franziska Brantner und Banaszak an die Spitze. Einen kleinen Dämpfer gaben Parteilinke Habeck dabei mit. Während der dem linken Flügel zugerechnete Banaszak satte 93 Prozent der Stimmen erhielt, kam die als Pragmatikerin geltende Brantner nur auf 78 Prozent Zustimmung.