Bis die Menschen sesshaft geworden seien, seien sie friedlich und kooperativ gewesen. Danach sei die kollektive Gewalt explodiert, sagen Carel van Schaik und Kai Michel – auch wegen des Patriarchats. Doch wir seien evolutionär gesehen auf dem richtigen Weg.
Auf dem Bildschirm im Büro von Carel van Schaik in Zürich läuft eine Diashow mit Affenbildern. Die Fotos habe er auf seinen Forschungsreisen aufgenommen. Zusammen mit dem Historiker Kai Michel hat der emeritierte Professor für Anthropologie mehrere Bestseller publiziert. Sie seien mittlerweile fast wie ein altes Ehepaar, sagt Michel scherzhaft. Für das neuste Buch, «Die Evolution der Gewalt», haben sie den Archäologen Harald Meller beigezogen.
Der Naturzustand der Menschen sei der Krieg aller gegen alle, schreibt Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert. Ist der Mensch zum Krieg verdammt?
Carel van Schaik: Nein, Menschen sind biologisch gesehen hochsoziale, kooperative Wesen. Der Krieg steckt uns nicht in den Genen, er ist in der Geschichte der Menschheit eine späte Ausnahmeerscheinung. Menschen führen nur im letzten Prozent ihrer Evolution regelmässig Krieg, in den 99 Prozent davor waren wir eine relativ friedliche Spezies.
Kai Michel: Hobbes konnte es nicht besser wissen. Die nationalstaatliche Welt, die er kannte, war von Krieg geprägt, zu seiner Zeit tobte der Dreissigjährige Krieg. Hobbes hat sich auf die ältesten ihm zur Verfügung stehenden schriftlichen Quellen gestützt. Thukydides etwa, und der berichtete von den Schrecken des Peloponnesischen Kriegs. Dass Menschen sich gegenseitig niedermetzeln, schien für ihn allgegenwärtig. Doch Schriftquellen dokumentieren nur die letzten 5000 Jahre. In den Jahrhunderttausenden zuvor finden sich fast keine Hinweise auf kollektive Gewalt.
Aber unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, können ja auch ziemlich grausam sein.
Van Schaik: Stimmt, aber Bonobos sind genauso nahe mit Menschen verwandt wie Schimpansen – und sehr friedlich. Die beiden Spezies haben sich erst vor zwei Millionen Jahren evolutionär getrennt. Während Schimpansen bei Konflikten auf Gewalt setzen, ist es bei Bonobos der Sex. Und Schimpansen töten auch nur unter bestimmten Umständen.
Welchen?
Van Schaik: Die Männchen bleiben in der gleichen Gruppe, die Weibchen wandern weg, wenn sie erwachsen werden. Die Männchen sind also nah verwandt und können sehr gut koordiniert angreifen, das nutzen sie aus und fallen über Nachbarn her. Und zwar dann, wenn sie ihren Gegnern numerisch so überlegen sind, dass sie es risikolos tun können. Dahinter steckt eine zwar unbewusste, aber durchaus rationale Entscheidung: Lohnt sich die Gewalt? Was gibt es zu verlieren? Sie sind keine Killermaschinen.
Waren die ersten Menschen friedlicher?
Michel: Ja, absolut. Unsere Vorfahren haben die Bäume verlassen und sind in die Savanne gegangen. Dort konnten sie nur als hochsolidarische Art überleben. Sie setzten auf einen sehr kooperativen Lebensstil, gegenseitige Unterstützung war die Grundlage ihrer Existenz. Unsere Psychologie ist deshalb eine völlig andere als die der Schimpansen. Wo sie auf Dominanz und Egoismus setzen, sind wir höchst sozial. Wenn ich meinen Co-Autor zitieren darf: Wir sind die netten Affen.
Van Schaik: Genau. Archäologisch zeigt sich zudem, dass es früh schon weiten Austausch zwischen den Menschengruppen gab. Was im Tierreich einzigartig ist: Menschen haben erkannt, dass sie von guten Beziehungen zu anderen Gruppen profitieren. Da sie als mobile Jäger und Sammler lebten, keinen nennenswerten Besitz hatten und die Populationsdichten gering waren, lohnten sich Kriege nicht. Und im Konfliktfall konnte man der Eskalation aus dem Weg gehen.
Und es gibt keine Anzeichen für Gewalt aus der Zeit?
Michel: Man muss differenzieren: Individuelle Gewalt gab es schon immer. Der älteste nachgewiesene Mord geschah vor 430 000 Jahren. Aber auch das ist selten. Hinweise auf kollektive Gewalt, also Kriege zwischen Gruppen, finden sich für die längste Zeit der Evolution dagegen keine. Sie tauchen erst nach der letzten Eiszeit auf, als sich das Klima stabilisierte. Das älteste sicher identifizierte Massaker fand vor 13 400 Jahren am Nil in Jebel Sahaba im heutigen Sudan statt, das zweite vor 10 000 Jahren in Nataruk in Kenya. In beiden Fällen sind Menschen auf brutalste Weise ermordet worden, das beweisen die mit Pfeilspitzen gespickten Knochen und eingeschlagenen Schädel.
Was ist nach der letzten Eiszeit passiert?
Van Schaik: Die Jäger und Sammler werden angesichts des günstigen Klimas sesshaft, um die reichen Ressourcen an einem See oder Fluss zu nutzen. Sie investieren Arbeit in das Land, verweigern anderen aber die Nutzung. Menschheitsgeschichtlich ist das eine Innovation: Erstmals monopolisieren Gruppen Land, erklärten es zu ihrem Eigentum, was die Ausgeschlossenen ärgert. Zudem könnten die nun erstmals angehäuften Vorräte Begehrlichkeiten wecken. Da man nicht mehr einfach wegziehen kann und leicht auffindbar ist, eskaliert das leicht. Der neue Lebensstil etabliert sich aber erst im Neolithikum, das in Mitteleuropa vor 7500 Jahren beginnt. Und mit ihm kommt auch der Krieg.
Warum?
Michel: Mit der Sesshaftigkeit kommen der Ackerbau, die Viehzucht, der Reichtum, die Ungleichheit auf die Welt. Plötzlich hat man etwas zu verlieren, das man beschützen muss. Es bilden sich Clans, und heute stossen Archäologen wie unser Co-Autor Harald Meller regelmässig auf Massengräber. Die neue Lebensweise, das zeigen die Skelette, führte zu einer gesundheitlichen Verschlechterung wegen der einseitigen Ernährung und Schufterei, liess aber trotzdem die Bevölkerungszahl enorm steigen. Da der fruchtbare Boden begrenzt war, kam es schnell zu Konflikten.
Wie können Sie sich bei der Interpretation der Funde so sicher sein?
Van Schaik: Das Besondere unseres Ansatzes ist, dass wir zu dritt Evolutionsbiologie, Archäologie und Kulturwissenschaft kombinieren und auch die Ethnografie hinzuziehen. Wir finden die längste Zeit der Menschheitsgeschichte keine Befestigungen, keine Waffen speziell zum Töten von Menschen, die Höhlenmalereien zeigen keine Gewaltszenen. Ab dem Neolithikum taucht das alles auf, in den frühen despotischen Staaten wird das zur Normalität.
Mit dem Neolithikum kommt auch das Patriarchat. Hat es das Kriegstreiben verstärkt?
Michel: Ganz klar. Männerdominanz, Herrschaft und Krieg kommen zusammen auf die Welt. Bei den Bauern bleiben die Söhne bei den Familien, um das Eigentum zu beschützen. Deshalb müssen die Frauen anderswoher kommen. Die werden bei anderen Clans eingetauscht, auch geraubt. So verlieren sie ihre Netzwerke und müssen in der arbeitsintensiven Landwirtschaft schuften, zugleich steigt die Zahl der Geburten. In allen Belangen geraten Frauen in die Defensive. Die mächtigsten Männer nehmen sich mehrere Frauen, die frühen Potentaten haben alle riesige Harems. Genetische Untersuchungen zeigen, dass sich damals viele Männer gar nicht fortpflanzten. In der patriarchalen Welt des Krieges leiden nicht nur Frauen, sondern auch die meisten Männer. Der Rest ist gewissermassen Geschichte: Wo der Krieg sich erst einmal etabliert hat, gibt es kein Entkommen mehr.
Wir können ja nicht wieder Jäger und Sammler werden. Gibt es einen evolutionären Weg aus dem Krieg?
Van Schaik: Trotz den gegenwärtigen Kriegen können wir festhalten, dass wir bereits den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wir werden wenigstens sozial und ethisch mehr wieder zu Jägern und Sammlern. Zumindest im Westen leben wir immer egalitärer und demokratischer. Die Sklaverei wurde abgeschafft, dasselbe ist mit Krieg möglich.
Das müssen Sie erklären.
Michel: Noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hielt man Sklaverei für völlig natürlich. Doch dann setzte sich die Erkenntnis durch, dass sie in jeder Hinsicht menschenunwürdig ist. Wie Sklaverei nur für die Sklavenhalter vorteilhaft ist, ist das auch bei Kriegen für die Kriegsherren so – mit Ausnahme der Verteidigungskriege. Genauso wie das kulturelle Phänomen der Sklaverei müssen die Menschen nun auch das kulturelle Phänomen Krieg abschaffen, die Despoten, Autokraten und Warlords verjagen. Evolutionär gesehen sind wir alles andere als Kriegstreiber.
Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik: Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte. DTV-Verlag, München 2024. 368 S., Fr. 39.90.