Revolutionen sind in der Kultur des weltgrössten Nahrungsmittelkonzerns nicht vorgesehen. Trotzdem muss Laurent Freixe den Investoren kommende Woche eine neue Perspektive bieten. Ein paar Möglichkeiten gibt es.
Für den legendären Nestlé-Lenker Helmut Maucher gab es keine Zweifel: Der Chef muss der erste Verkäufer sein! Diesen vom – 2018 verstorbenen – Übervater propagierten Zustand hat der Verwaltungsrat mit der Auswechslung des CEO vor knapp drei Monaten wiederhergestellt.
Doch verkaufen muss der an die Spitze gesetzte Marketing-Mann Laurent Freixe zuallererst seine Ideen. Nämlich, wie er den Nahrungsmittelkonzern wieder zum Wachsen bringen will. Wenn er kommenden Dienstag seine Botschaft am Investorentag in Vevey präsentiert, darf er die Anleger nicht enttäuschen. Das wurden sie in den vergangenen Jahren zu oft.
Schneider verschätzt sich
Etwa als Freixe’ geschasster Vorgänger Mark Schneider trotz widrigen Umständen diesen Frühling an der Wachstumsprognose für das Gesamtjahr festhielt – obwohl diese schon rein arithmetisch gesehen schwierig zu erreichen war. Als er das Ziel dann im Sommer doch nach unten korrigieren musste, gab es auch an der Börse eine heftige Korrektur. Heute notiert die Aktie mit einem Kurs von unter 80 Franken so tief wie letztmals vor sechs Jahren.
Es ist offensichtlich, dass etwas passieren muss. Aber die Möglichkeiten von Freixe sind eingeschränkt. Die unter Schneider etwa für Aktienrückkäufe hochgeschraubte Verschuldung limitiert den finanziellen Spielraum für Zukäufe.
Abgesehen davon könnten angesichts der schieren Grösse des Konzerns selbst milliardenschwere Akquisitionen die Firma und ihre Aufstellung nur geringfügig verändern.
Es gehört aber auch zur Kultur bei Nestlé, dass Veränderungen evolutionär und nicht revolutionär passieren. Man kann das positiv umschreiben mit Sätzen wie «Kontinuität hat einen hohen Stellenwert». Dieses Selbstverständnis prägt den Stil im Management. Die Kehrseite ist der Vorwurf der Trägheit und mangelnder Risikofreudigkeit – oder Unterstellungen wie die, dass für eine Karriere bei Nestlé in erster Linie die Vermeidung von Fehlern zähle.
Zweifellos pflegt Nestlé jedoch die spezielle Kultur im Unternehmen, die durch die oft jahrzehntelange Firmentreue der Mitarbeiter entstanden ist. Zur Normalität im Management gehört, dass man in unterschiedlichen Funktionen auf verschiedenen Kontinenten gearbeitet hat.
Führungskräfte treffen sich zum Austausch in unterschiedlichen Konstellationen wie der Market Managers Conference oder der Conférence de Direction. Die obersten Leitungsgremien kommen zudem jährlich in Glion hoch über Montreux zusammen.
Innerhalb von 24 Stunden ist jeder ersetzbar
Es herrscht der Anspruch, dass jeder wichtige Posten innerhalb von 24 Stunden neu besetzt werden kann, weil ein genügend grosses Reservoir an internen Kandidaten bereitsteht.
Ein von aussen dazugestossener Manager wie Mark Schneider, so Nestléaner, könne dieses fast schon familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl basierend auf geteilten Erfahrungen vielleicht rational erfassen, weniger aber emotional.
Eine derartige Distanz kann hilfreich sein, um Dinge zu hinterfragen, und war mit ein Grund, warum der Verwaltungsrat 2017 mit Schneider entgegen der Tradition einen Externen auf den Chefposten hievte.
Die andere Mentalität wird aber dann zum Problem, wenn es im Kerngeschäft an der Front harzt wie in den vergangenen zwei Jahren und die Chefs draussen in den Märkten nicht die gleiche Sprache sprechen wie der CEO in der Zentrale. Dieses Manko ist mit Laurent Freixe als Konzernchef behoben.
Entsprechend wird erwartet, dass der Franzose am Dienstag die starken Produktekategorien und Marken ins Schaufenster stellt und aufzeigt, was dort mittelfristig an Wachstum und Marge drinliegt.
Hier steckt Freixe im Dilemma: Mehr Geld für Marketing bedeutet eine tiefere Marge. Allerdings hat Nestlé bereits versichert, dass die Profitabilität 2025 nicht stark zurückgehen werde.
Auslagerung von Jobs und Firmenteilen
Die Frage ist, ob der neue Chef den Investoren ausser mehr Klarsicht bei den Finanzzielen und Durchhalteparolen noch etwas anderes serviert.
Gerne würde man wissen, wie es mit der Gesundheitssparte Nestlé Health Science nach diversen Flops weitergeht und wie der Konzern diesen Bereich entwickeln will.
Grosse Restrukturierungsprogramme passen nicht zum Stil von Nestlé, doch es ist möglich, dass Freixe gewisse Effizienzmassnahmen zur Sprache bringt. So läuft derzeit beispielsweise in Frankreich die Auslagerung eines Teils des Aussendienstes an einen externen Partner, in Deutschland sind ähnliche Bestrebungen im Gang.
Ein Konstrukt, das bei Nestlé immer wieder zum Einsatz kommt, ist die Auslagerung von Geschäftsbereichen in Gemeinschaftsunternehmen mit anderen Herstellern oder Finanzinvestoren. Solche Joint Ventures, mit denen Nestlé Kosten bei den Produktionsbetrieben spart, gibt es etwa bereits für Frühstücksflocken, Glace oder Tiefkühlpizza. Möglich, dass früher oder später weitere Firmenteile so ausgelagert werden, zum Beispiel bei der Tiefkühlkost.
Wasser-Zukunft und L’Oréal-Phantasien
Wasser ist seit 2020 keine global geführte Geschäftseinheit mehr, die Hälfte davon hat Nestlé bereits verkauft. Der Aktienanalyst Patrik Schwendimann von der Zürcher Kantonalbank vermutet, dass eines Tages auch das restliche Wassergeschäft mit seiner aufwendigen Logistik und im Konzernvergleich tiefen Margen zur Disposition stehen könnte. In der kurzen Frist gibt er jedoch zu bedenken, dass Freixe den Konzern nicht schrumpfen möchte.
Für Phantasien sorgt immer wieder der 20-Prozent-Anteil von Nestlé an L’Oréal. Laut Schwendimann hat der Ex-Chef Schneider über eine Möglichkeit sinniert, wie Nestlé einen Teil dieser Aktien des Kosmetikkonzerns verkaufen könnte, ohne dass sich das geschrumpfte Paket nachteilig auf den Gewinn von Nestlé auswirken würde.
Angesichts des jüngsten Kursrückgangs von L’Oréal wäre es jedoch fragwürdig, diesen 35 Milliarden Euro schweren Notgroschen kurzfristig anzutasten – erst recht, wenn kein besserer Verwendungszweck vorliegt.
Und weil sich die Wachstumsprobleme von Nestlé nicht mit einem Befreiungsschlag lösen lassen, werden sich Freixe und die im Herbst von ihm personell und organisatorisch adjustierte Konzernleitung Schritt für Schritt das Vertrauen der Investoren wieder erarbeiten müssen.
Nicht immer ist der Wandel sichtbar
Dass Nestlé sich auf die lange Frist durchaus anpassen kann, hat der Konzern verschiedentlich bewiesen. Nicht immer waren die grossen Veränderungen von aussen sichtbar. So wird der ehemalige Konzernlenker Peter Brabeck in der Öffentlichkeit meist mit den Themen Gesundheit und Wasser in Verbindung gebracht.
Es war jedoch die von ihm orchestrierte Zusammenführung und Vereinheitlichung aller Daten und Prozesse im Nestlé-Kosmos unter dem Projekt Globe, die auf die Führung des Konzerns den grösseren Einfluss hatte. Aus einer Art Föderation von Ländergesellschaften wurde dadurch ein integriertes Unternehmen.
Wie nahe Fortschritt und Vergangenheit bei Nestlé beieinanderliegen, zeigt sich schon am Hauptsitz in Vevey. Das Gebäude am See strahlt noch heute die Ästhetik der 1960er Jahre aus. Tatsächlich wurde es jedoch just in der Zeit des Rücktritts von Helmut Maucher als Präsident um die Jahrtausendwende bis aufs Betonskelett ausgehöhlt und mit einer neuen Fassade versehen.