Eileen Gray gilt als Pionierin des modernen Designs. Verstanden wurde dies erst am Ende ihres langen Lebens. Ein neuer Film erzählt die Geschichte der Designerin und Architektin, die ihrer Zeit voraus war – und mit ihrem Haus am Meer eine Architektur-Ikone geschaffen hat.
«Die Zukunft wirft Licht, die Vergangenheit nur Schatten», soll Eileen Gray einmal gesagt haben. Mit ihrem unentwegten Blick nach vorn schrieb die irische Designerin und Architektin Geschichte. Sie war ihrer Zeit voraus. Mehr als nur einen Schritt. Eileen Gray träumte davon, ihre Möbel in Massenproduktion zu fertigen, ohne selbst je zu erleben, in welch hoher Stückzahl ihre Möbel später nachgebaut wurden. Mit ihrem ersten Architekturprojekt, der Villa «E.1027», schuf sie ein avantgardistisches Meisterwerk, und bereits in den 1920er Jahren pflegte sie einen so modernen Stil, dass erst kurz vor ihrem Tod wirklich klarwurde, was Gray tatsächlich geschaffen hatte.
«Jahrzehntelang war Eileen Gray so gut wie vergessen», schreibt ihr Biograf und langjähriger Freund Peter Adam zu Beginn seines Buches «Eileen Gray – Leben und Werk». Für eine Frau, erst recht für eine Autodidaktin, war es schwer, sich im männlich geprägten Berufsfeld der Architektur im 20. Jahrhundert durchzusetzen. Eileen Grays Name fand in der Branche kaum je Erwähnung. Und auch selbst stellte sich die Irin nicht in den Vordergrund: Nur wenige ihrer Entwürfe sind signiert. «Völlig unnötig», soll sie über Gewohnheiten wie diese gesagt haben – wobei man heute nicht mit Gewissheit weiss, ob dies von Stolz oder von Bescheidenheit herrührte.
Sowieso gibt es viel, was man nicht weiss von Eileen Gray. So ausdrucksstark sie in ihren Werken war, so schweigsam war sie unter Menschen. So stolz ihr Auftreten war, so zurückhaltend war ihr Charakter.
Kurz vor ihrem Tod verbrannte Eileen Gray die meisten ihrer Briefe und Fotos. Adam schreibt, dass man heute so wenig über Eileen Gray wisse, mache sie zu einer Kultfigur, «ein Status, den sie nie angestrebt hatte und den sie weit von sich gewiesen hätte».
1878 in Irland geboren, war sie die jüngste Tochter einer schottisch-irischen Adelsfamilie. Sie verliess das Elternhaus, um in London die Kunstschule zu besuchen, und zog später nach Frankreich, fasziniert vom Wandel zur Moderne, der sich in Paris besonders deutlich zeigte. Früh lehnte Eileen Gray das Konzept von Abhängigkeit ab. Sie pflegte einige Affären mit Männern und Frauen, aber eine Heirat kam für sie nie infrage. Gray lebte zurückgezogen. Fast siebzig Jahre lang wohnte sie ab 1907 im selben Apartment an der Rue Bonaparte 21, nahe der Seine. Ihre engste Bezugsperson war ihre Haushälterin Louise Dany, die von 1927 bis zu ihrem Tod 1976 bei ihr blieb.
Schlichte Möbel für den ganz normalen Gebrauch
Begonnen hat Eileen Gray mit Lackarbeiten. Sie entwarf Teller, Tabletts, Dosen und war bekannt für die Fertigung exklusiver Lackwandschirme, die – halb Möbel, halb Wand – als Raumtrenner dienten. «Sie stellten einen Versuch dar, das Gegenständliche mithilfe fast geometrischer Muster zu vereinfachen und diese grässlichen Draperien und Schnörkel von Tiffany und dem Art nouveau zu ersetzen», soll Gray später einmal mit ihrer unverblümten Art erklärt haben.
Ihr Stil war immer geprägt von klaren Linien. Inspiriert etwa vom Bauhaus, verwendete sie neue Materialien für Möbel: Chrom, Stahlrohr, Schiefer. Erwartbar war bei Eileen Gray nichts. In der Nüchternheit ihrer Formensprache klangen auch die Freuden des Lebens an; etwa bei dem von ihr entworfenen Stuhl «Nonconformist», der nur über eine Armlehne verfügt: für die eine Hand, die die Zigarette hält, während die andere Raum zum Gestikulieren hat.
«Es geht nicht darum, mit ein paar Linien einen guten Eindruck zu machen, sondern darum, ein Zuhause für Menschen zu schaffen.»Eileen Gray
Eileen Gray lehnte elitäres Denken ab. Sie wollte mit der Industrie zusammenarbeiten, um ihre Entwürfe verschiedenen Gesellschaftsschichten zugänglich zu machen. Alltäglichkeit mag für viele französische Gestalter dieser Zeit ein Tabu gewesen sein, sie aber strebte genau das an: schlichte Möbel für den ganz normalen Gebrauch.
Sie soll oft davon gesprochen haben, so erzählt es Adam in seinem Buch, wie nach Ende des Ersten Weltkriegs ringsum die moderne Welt Gestalt annahm. Stilrichtungen, die sich schon vor Kriegsausbruch ankündigten, begannen in den zwanziger Jahren Einfluss auf jegliche Kunstform zu haben: Fauvismus, Expressionismus, Futurismus, Konstruktivismus und Kubismus.
Unterdessen war Eileen Gray auch als Innenarchitektin tätig und näherte sich der Architektur an. Ihr Stil wurde noch strenger und skulpturaler. Im Jahr 1921 eröffnete sie für den Verkauf ihrer Möbel die Galerie Jean Désert. Durch den Männernamen versprach sie sich mehr Beachtung. Doch wirtschaftlich war der Laden ein Flop. Die Zeit war noch nicht reif für ihre modernen Möbel.
Einzig schon damals beliebt waren ihre Teppiche, die sie zuerst zusammen mit ihrer Kindheitsfreundin Evelyn Wyld und später im Keller ihrer Galerie webte. Die Stücke sind aus heutiger Sicht auch deshalb so spannend, weil darin ihre Affinität zur Malerei am deutlichsten sichtbar wird. Gerade erst hat die Münchner Möbelmarke ClassiCon, die die Rechte an Eileen Grays Werken besitzt, aus Zeichnungen weitere ihrer Entwürfe neu aufgelegt. Sie sind derzeit zusammen mit den Originalskizzen in einer Ausstellung von Wohnbedarf in Basel zu sehen.
Neuer Film erzählt die Geschichte von «E.1027»
Dann kam der Wechsel zur Architektur. Schaut man sich Grays frühere Arbeiten an, war es der nur logische nächste Schritt. Um 1920 lernte sie den 15 Jahre jüngeren Jean Badovici kennen, einen rumänischen Architekten und Journalisten, dem sie sowohl beruflich als auch privat verbunden war. Er war es, der sie ermutigte, als Architektin tätig zu werden. Im Alter von 51 Jahren realisierte Eileen Gray schliesslich ihr erstes Projekt: die Villa «E.1027» an der Côte d’Azur.
Der Film «E.1027 – Eileen Gray and the House by the Sea», der vor kurzem am Zurich Film Festival gezeigt wurde und Ende November in die Schweizer Kinos kommt, erzählt die Geschichte dieses Refugiums in visuell eindrücklichen Aufnahmen.
Eine Erfolgsgeschichte, aber keine mit Happy End: Jean Badovici und Eileen Gray fanden das abgelegene Grundstück, direkt am Meer, im kleinen Dorf Roquebrun, ohne Zufahrtstrasse. Drei Jahre dauerte der aufwendige Bau. Um das Haus den geografischen Gegebenheiten anzupassen, zeichnete Gray den Verlauf der Sonne nach. Sie spielte mit technischen Details, eine Faszination von ihr. Anders als viele ihrer damaligen Kollegen aber lehnte Gray die Vorstellung der Modernisten ab, eine Maschine könne den Menschen und seine Umgebung formen oder verändern.
Die Villa «E.1027» war als Rückzugsort konzipiert
Sie habe ihr Haus mit dem Blick von innen nach aussen gebaut, nicht umgekehrt, schreibt Adam. Jede kleinste Ecke war sorgfältig durchdacht, ohne vorhersehbar zu sein. «Entrez lentement» hiess es beim Eingang. Langsam eintreten, das war nicht nur als humorvolle Begrüssung zu verstehen, sondern «bezog sich auch auf die logisch Ordnung, der das Haus folgte», so Adam. 1929 sagte Gray gegenüber «L’Architecture Vivante»: «Es geht nicht darum, mit ein paar Linien einen guten Eindruck zu machen, sondern darum, ein Zuhause für Menschen zu schaffen.» Sie wollte, dass man sich geborgen und gleichzeitig frei fühlt. Ein Zustand, den sie ihr Leben lang anstrebte.
Bald wurde das als Rückzugsort konzipierte Haus «E.1027» zu einem beliebten Treffpunkt befreundeter Maler und Architekten, unter ihnen Fernand Léger und Le Corbusier. «E.1027» war nie ihr alleiniger Ort. Das wurde ihr später zum Verhängnis. Der Name der Villa verweist auf die zwei Erstbewohner: Das E steht für Eileen, 10 für J wie Jean (der zehnte Buchstabe im Alphabet), 2 für B wie Badovici und 7 für G wie Gray. Nach nur zwei Sommern verliess sie den Ort. Sie reiste ab, ohne ihre Koffer zu packen, liess alles zurück. Ihr Haus war auf Papier sein Haus. Gray baute ihr zweites: die «Tempe à Pailla» in Castellar, ebenfalls an der Côte d’Azur, knapp zehn Kilometer entfernt. Nur für sich.
Einen Akt des Vandalismus
Kein einziges Mal kehrte Eileen Gray zurück in die Villa «E.1027». Der Grund dafür war: Le Corbusier. Dieser machte sich, nachdem sie gegangen war, das Haus zu eigen. Er überdeckte – oder wie er sagte, schmückte – die puristischen weissen Wände der Villa, drinnen wie draussen, mit Wandmalereien. Einen Akt des Vandalismus nannte es Gray und forderte von ihm, es wieder rückgängig zu machen. Stattdessen veröffentlichte Le Corbusier in Zeitschriften Bilder seiner Fresken in ihrem Haus, ohne Eileen Gray oder «E.1027» mit einem Wort zu erwähnen. Auch erzählt man sich, er habe nicht widersprochen, wenn ihm der Entwurf des Hauses zugeschrieben worden sei. In anderen Publikationen ist die Rede von «Maison Badovici». Eileen Grays Name tauchte nie mehr auf.
1956 starb Badovici an Leberkrebs. Weil er kein Testament hinterliess, erbte seine Schwester das Haus, eine in Rumänien lebende Nonne. Le Corbusier, besorgt um den Erhalt seiner Fresken, versuchte einen Käufer zu finden. Schliesslich erwarb es die Schweizer Galeristin und Architektin Marie-Louise Schelbert, die, davon geht man heute aus, glaubte, ein Haus von Le Corbusier und seinem Freund Jean Badovici gekauft zu haben. Wieder fehlt Eileen Grays Name.
Bis zu ihrem Tod im Alter von 98 Jahren war ihr Leben geprägt vom Loslassen, manchmal freiwillig, manchmal unfreiwillig. Die Architektin verlor die Lizenz (und eine Zeitlang auch den Ruhm) für ihr erstes Haus. Ihre Wohnung in Lourmarin, in die sie sich während des Zweiten Weltkriegs zurückzog, wurde zerstört und ihr zweites Haus in Castellar während ihrer Abwesenheit geplündert. Fast alle Möbel, Bücher, Zeichnungen waren verschwunden oder verbrannt. Was ihr blieb, war einzig ihre Wohnung in Paris sowie die Arbeit, «das Einzige, wofür es sich zu leben lohnt», wie sie in einem ihrer Briefe schrieb.
Eileen Gray blieb, trotz schwerer Parkinson-Erkrankung, bis ins hohe Alter als Gestalterin tätig. Erst kurz vor ihrem Tod kam ihr die Anerkennung zu, die sie verdient hatte. Sammler, unter ihnen der legendäre französische Modeschöpfer Yves Saint Laurent, wandten sich an sie, um ihre Möbelstücke zu erwerben. Am Ende des Films «E.1027 – Eileen Gray and the House by the Sea» wird eine Originalaufnahme von etwa 1975 eingeblendet, in der Eileen Gray von einem Interviewer gefragt wird: «Amüsiert es Sie, dass jetzt, fünfzig Jahre später, die Arbeiten, die Sie gemacht haben, wieder in Mode sind?» Sie lacht. Keine Spur von Verbitterung. Ja, das tue es.
Kinofilm
«E.1027 – Eileen Gray and the House by the Sea»
Der Doku-fiktionale Architekturfilm ist «eine filmische Reise in die Gedankenwelt von Eileen Gray». Regie führten die Zürcher Beatrice Minger und Christoph Schaub. Sämtliche Filmdialoge basieren auf Originaldokumenten. Der Film läuft am 28. November 2024 in Deutschschweizer Kinos an.