Alt-Bundeskanzler Walter Thurnherr will die künstliche Intelligenz stark regulieren – Economiesuisse warnt in einem neuen White Paper davor.
Alt-Bundeskanzler Walter Thurnherr ist dem Wirtschaftsdachverband Economiesuisse zuvorgekommen. Wenige Tage bevor Economiesuisse ein gemeinsam mit PWC erstelltes White Paper zum KI-Standort Schweiz vorgestellt hat, warnte der langjährige Chef der Schweizer Bundeskanzlei vor einer zu langsamen und zögerlichen Regulierung der künstlichen Intelligenz (KI).
Sein auf den Tamedia-Portalen veröffentlichter Essay trägt den Titel «Wenn die Demokratie KI nicht beherrscht, wird KI die Demokratie beherrschen» und gipfelt in dem Fazit: «Meines Erachtens schadet es nicht, sich an den Erfahrungen der Nukleartechnologie zu orientieren und zum Beispiel unabhängige Aufsichtsbehörden einzurichten, die die gesetzlichen Möglichkeiten haben, KI zu prüfen, Auflagen zu machen und zu kontrollieren.»
Was also soll die Schweiz tun? Regulieren? Nicht regulieren? So viel regulieren wie nötig? Die Autoren des Economiesuisse-White-Papers haben verschiedene Regulierungsansätze miteinander verglichen:
Szenario 1
- Die Schweiz hält am regulatorischen Status quo fest und behält den heutigen Rechtsrahmen bei. Bund und Parlament erlassen keine neuen Gesetze oder Vorschriften für den Einsatz von KI-Technologien und passen den geltenden Rechtsrahmen nicht an, um ihn für die Entwicklung und Anwendung von KI zu optimieren. Das bestehende Recht wird in Bezug auf KI von Fall zu Fall ausgelegt.
- Fazit der Studie: Dies führt zu einer iterativen Rechtsentwicklung mit einem Mangel an Rechtssicherheit und ohne klare Rahmenbedingungen für Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die in KI investieren und damit arbeiten. Das Vertrauen in KI als Nutzen stiftende Technologie würde untergraben, und die Schweiz könnte international den Anschluss verlieren.
Szenario 2
- Die Schweiz passt punktuell Gesetze an, um die Entwicklung von KI zu unterstützen. Diese flexible Herangehensweise ermöglicht es der Schweiz, die Stärken des bestehenden Rechtsrahmens zu nutzen und auf sektorspezifische Probleme einzugehen. Dabei trägt die Regierung der Notwendigkeit Rechnung, Innovation und Verantwortlichkeit in Einklang zu bringen und das Vertrauen der Bevölkerung in KI zu wahren.
- Fazit der Autoren: Eine flexible Anpassung ermöglicht es der Schweiz, die Vorteile der KI zu nutzen, ohne die sich wandelnden ethischen und gesellschaftlichen Bedenken zu ignorieren. Flexibilität schafft ein Gleichgewicht zwischen Innovation und Verantwortlichkeit und trägt dazu bei, dass die Schweiz auch in diesem Bereich international wettbewerbsfähig bleibt.
Szenario 3
- Die Schweiz schafft ein neues KI-Gesetz und sorgt für eine neue, umfassende KI-Regulierung, ähnlich wie das die Europäische Union schon gemacht hat. Damit wird der Einsatz von KI entweder durch eine Regulierung der Inputfaktoren, der Ergebnisse oder in Form einer Prozessregulierung kontrolliert.
- Fazit der Autoren: Weil die Schweiz einen kleinen Binnenmarkt hat, muss das Land auf andere Standortfaktoren setzen, etwa auf tiefe Regulierungskosten. Die Überregulierung von KI könnte schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft und Innovation in der Schweiz haben. Die Kosten für die Einhaltung der komplexen Vorschriften könnten für KMU und Startups erdrückend sein, aber auch grosse, globale Unternehmen abschrecken. Für die KMU-lastige Schweizer Exportwirtschaft wäre das schädlich.
Schweiz an einem Wendepunkt
Die Autoren des White Papers kommen zu dem Schluss, dass Szenario 2 den Ansprüchen des Wirtschaftsstandorts und der Gesellschaft in einem direktdemokratischen Land am stärksten entspricht. Die Chancen der künstlichen Intelligenz für Wirtschaft und Gesellschaft in der Schweiz seien beträchtlich.
Die Angst vor Verdrängung und Arbeitsplatzabbau sei unbegründet. Über einen Zeitraum von zehn Jahren sei dank KI ein Zuwachs von rund 28 Milliarden Franken, 3,6 Prozent der Bruttowertschöpfung, realisierbar. Dies, ohne dass es am Arbeitsmarkt zu Verwerfungen komme. Vielmehr spielten sich die Verschiebungen im Arbeitsmarkt im Rahmen des normalen wirtschaftlichen Strukturwandels ab.
Die Schweiz verfüge über die besten Voraussetzungen, um das maximale Wertschöpfungspotenzial der KI zu nutzen, schreiben die Autoren. Anhand verschiedener Fallbeispiele zeigen sie auf, wo KI überall schon effizienzsteigernd eingesetzt wird: bei der Optimierung von Verpackungen im Versandhaus Digitex Galaxus, bei der Analyse von Elektroschrott für die Kreislaufwirtschaft (Inmark, Regensdorf) oder bei der Bewältigung des Papierkriegs bei der Polizei Basel-Stadt.
Doch das Land befinde sich an einem Wendepunkt: Entweder die Schweiz packt die Chance der neuen Technologie mit der nötigen Vorsicht und der dafür notwendigen Weitsicht an – oder sie verbaut sich die dafür notwendige Flexibilität durch Angst und Überregulierung.