Die EU will von der Schweiz neue Konzessionen und droht mit Steuernachteilen. Schweizer Wirtschaftsvertreter betrachten den Vollzug der EU-Drohung als kleineres Übel.
Die Schweiz verhandelt mit der EU nicht nur über ein neues Regelwerk zum gegenseitigen Marktzugang. In Diskussion ist auch die Erneuerung des Abkommens EU-Schweiz zum automatischen Informationsaustausch in Steuersachen (AIA).
Auch an dieser Front gibt es Ärger. Die EU verlangt, dass die Schweiz künftig beim Eintreiben der Steuerforderungen von EU-Ländern hilft (im Jargon: Vollstreckungshilfen). Jüngst hat die «NZZ am Sonntag» darüber berichtet. Der Anlass zur Erneuerung des AIA-Abkommens war die Erweiterung des globalen AIA-Standards für traditionelle Finanzkonten auf Kryptowerte. Mit der zusätzlichen EU-Forderung ist die Sache politisch heikel geworden.
Gewichtige Dividenden
Dass die Schweiz ausländische Forderungen für direkte Steuern bei hierzulande wohnhaften Pflichtigen eintreibt, war bisher nicht mehrheitsfähig. Das von etwa 140 Ländern akzeptierte Übereinkommen über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen sieht zwar gegenseitige Vollstreckungshilfen vor. Doch die Schweiz hatte einen Vorbehalt gegen die Vollstreckungshilfe angemeldet.
Die EU droht für den Fall, dass die Schweiz nicht einlenkt, mit der Streichung der Steuerbefreiung für konzerninterne Zahlungen von Dividenden, Zinsen und Lizenzgebühren. Das könnte einiges kosten. Grosse Schweizer Konzerne haben Tochtergesellschaften in vielen Ländern. Bei entsprechenden Gewinnen liefern die Töchter Dividenden an die Muttergesellschaft ab. Die Mutter versteuert ihre Gewinne am Ort des Hauptsitzes. Die Steuerbefreiung von solchen konzerninternen Zahlungen soll eine Doppelbesteuerung von Gewinnen verhindern. Ähnliches gilt für Zinsen und Lizenzgebühren.
Es geht um Handfestes. Gemäss Daten der Nationalbank (SNB) flossen 2022 total rund 33 Milliarden Franken allein an Dividenden von EU-Gesellschaften an Mutterfirmen beziehungsweise Grossaktionäre in der Schweiz. Beim gängigen Normalsatz von 15 Prozent Quellensteuern gäbe der Wegfall der Befreiung jährlich eine zusätzliche Belastung von etwa 5 Milliarden Franken pro Jahr. Hinzu kämen Steuern für Lizenzgebühren und Zinszahlungen.
Der Verzicht auf die Quellensteuerbefreiung würde in beide Richtungen gelten. Das heisst, die Schweiz könnte dann eine Quellensteuer auf konzerninternen Zahlungen von Schweizer Tochtergesellschaften an EU-Mutterfirmen verlangen. Laut SNB-Statistik flossen 2022 total fast 55 Milliarden Franken an Dividenden von Schweizer Firmen an Muttergesellschaften in der EU. Dies lag sogar deutlich über den genannten 33 Milliarden der umgekehrten Richtung.
Hauptproblem Italien
Doch der Wegfall der Quellensteuerbefreiung im AIA-Abkommen Schweiz-EU würde in der Praxis nur den Verkehr mit wenigen EU-Staaten betreffen. Denn die Schweiz hat mit allen EU-Ländern zusätzlich ein Doppelbesteuerungsabkommen vereinbart, und die meisten dieser Abkommen sehen die Quellensteuerbefreiung für konzerninterne Zahlungen vor. Die wichtigste Ausnahme ist Italien (Quellensteuer von 15 Prozent auf Dividenden, 12,5 Prozent auf Zinsen und 5 Prozent auf Lizenzgebühren), es folgt Frankreich (5 Prozent auf Lizenzgebühren). Zu den weniger gewichtigen Ausnahmen zählen Griechenland und Kroatien.
Gemäss SNB-Daten floss von 2020 bis 2022 im Mittel pro Jahr rund 1 Milliarde Franken an Dividenden von italienischen Gesellschaften zu Schweizer Mutterfirmen – und in die Gegenrichtung flossen im Mittel «nur» etwa 150 Millionen Franken pro Jahr. Bei einer Quellensteuer von neu 15 Prozent würden somit ohne Verhaltensänderungen pro Jahr etwa 150 Millionen Franken weniger Dividenden in die Schweiz fliessen, und im Gegenzug könnte die Schweiz auf Geldflüssen in Richtung Italien neu gut 20 Millionen Franken einnehmen.
Grosse könnten ausweichen
Total könnte der Wegfall der Steuerbefreiung im AIA-Abkommen laut einer Schätzung zu einer Mehrbelastung für Schweizer Konzerne von jährlich etwa 200 bis 300 Millionen Franken führen. Doch manche Firmen würden sich anpassen. Grosse Schweizer Konzerne dürften über diverse EU-Gesellschaften verfügen, sagt Philipp Zünd, Steuerexperte bei der Beratungsfirma KPMG Schweiz. Solche Konzerne könnten laut Zünd bei einer drohenden italienischen Quellensteuer auf Dividenden die italienische Tochterfirma zum Beispiel neu über eine schon bestehende Zwischen-Holding in Luxemburg halten. Die administrativen Umstellungskosten dafür wären gemäss dem Experten wohl «nicht allzu hoch».
Schwieriger wäre es für weniger grosse Unternehmen mit italienischer Tochterfirma und ohne sonstige breite EU-Präsenz, wie Zünd andeutet. Der Aufwand für den Aufbau einer Zwischen-Holding etwa in Luxemburg würde sich für solche Unternehmen in manchen Fällen kaum lohnen.
Wie schlimm wäre somit ein Wegfall der Steuerbefreiungsklausel im AIA-Abkommen? «Das wäre nicht unwesentlich», sagt Roger Krapf, Leiter Steuern & Recht bei der Beratungsfirma EY Schweiz. Er verweist auch auf die generelle Bedeutung eines dichten Netzes von Doppelbesteuerungsabkommen für den Firmenstandort Schweiz: «Gibt es Lücken, wird es für die Unternehmen aufwendiger.»
Auf die Frage, ob die Schweiz auf die EU-Forderung zum Eintreiben von Steuern eingehen soll, halten sich die befragten Steuerfachleute zurück. Ihre Botschaft dazu: Aus Sicht des Unternehmensstandorts Schweiz wäre eine solche Konzession wohl kein grosser Nachteil, doch dies sei politisch zu entscheiden.
Zu hoher Preis
Die Wirtschaftskommission des Ständerats fand im Rahmen einer Konsultation laut einer Mitteilung von vergangener Woche «keinen Grund», das Verhandlungsmandat zum AIA-Abkommen im Sinn der EU-Forderung auszuweiten.
Auch in der Wirtschaft herrscht grosse Skepsis. Die Steuerbefreiungsklausel im Abkommen mit der EU sei «sehr wichtig für den Unternehmensstandort Schweiz», sagt zwar der Wirtschaftsverband Swiss Holdings, dem rund 65 grosse Unternehmen angehören. Aber: «Die Zustimmung der Schweiz zu einer Vollstreckungshilfe für die EU-Länder wäre ein grosser Einschnitt in die schweizerische Souveränität.» Die Bewahrung der Steuerbefreiungsklausel im AIA-Abkommen «würde diesen Preis nicht rechtfertigen». Anders gesagt: «Die Schweiz müsste für die Gewährung der Vollstreckungshilfe deutliche Verbesserungen von der EU bekommen.»