Vor 200 Jahren begann Benjamin Constant sein fünfbändiges Religionswerk zu publizieren. Es ist der Versuch eines Brückenschlags zwischen Liberalismus und Kirche. Die liberalen Mitstreiter vermochten ihm nicht zu folgen, der Papst setzte ihn auf den Index.
Denis Diderot hat in dem epochemachenden Werk «Enzyklopädie» den Prototyp des aufgeklärten Menschen beschrieben. Dabei hat er in einem Satz treffend die Grösse und die Grenze aufklärerischen Denkens umrissen. Denn Diderot vergleicht den nicht länger von Vorurteilen, sondern von der Vernunft geleiteten Idealmenschen mit einer Uhr, «die sich sozusagen manchmal selbst aufzieht». Was in der Physik nicht funktioniert, das Perpetuum mobile, soll also im Reich des Geistes möglich sein: der aufgeklärte Mensch, ja die aufgeklärte Gesellschaft als sich selbst in Schwung haltendes System.
Die Französische Revolution, die Zehntausenden von Menschen im Namen der Vernunft den Tod brachte, die napoleonische Diktatur sowie die bleierne Zeit der Restauration haben den Optimismus Diderots schliesslich verfliegen lassen. Angesichts dessen wurden de Maistre und de Bonald Reaktionäre. Benjamin Constant (1767–1830) blieb demgegenüber ein den Zielen der Aufklärung verbundener Realist.
Erleuchtend, aber kraftlos
Einer Hugenottenfamilie aus Lausanne entstammend, hatte er als junger Mann noch das Ancien Régime sowie die revolutionären Exzesse erlebt. Schon damals dem Ideal der individuellen Freiheit verpflichtet, ging er auf Distanz zu Napoleon sowie zu Ludwig XVIII. und Karl X., den Brüdern von Ludwig XVI., die nach 1815 eine Restauration versuchten. Constants nüchternes Fazit zu den Chancen und Grenzen der Aufklärung lautete: «Die Lumières vermögen nur den Weg zu erleuchten, aber sie geben den Menschen keineswegs die Kraft, ihn zu gehen.»
Ausgehend von dieser Einsicht, machte sich Constant auf die Suche nach der vorstaatlichen Energie, um die mit der Revolution errungene Freiheit zu verteidigen. Heute wird die Lösung dieser Frage im «Böckenförde-Diktum» gesehen: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Constant hat diesen Gedanken vorweggenommen, indem er feststellte, die Freiheit nähre sich von Opfern. Freiheit verlange nach Bürgern, ja manchmal nach Helden. Es gelte deshalb, die Überzeugungen nicht zu ersticken, welche die Basis der Bürgertugenden darstellen und die Kraft zum Martyrium verleihen würden.
Aber was waren diese vorsittlichen Überzeugungen? Was Constant darüber dachte, hat seine Zeitgenossen erstaunt, nicht nur wegen seiner schillernden Lebensführung. Denn dieser Mitbegründer des zeitgenössischen Liberalismus sah den «Motor» zum Erhalt individueller und gesellschaftlicher Freiheit in der Religion. Die Frage nach deren Bedeutung für die Freiheit begleitete ihn ein Leben lang. 1824 begann er schliesslich sein fünfbändiges Werk «Über die Religion, betrachtet in ihrer Quelle, in ihren Formen und in ihren Entwicklungen» zu publizieren. Seit seinen Jugendjahren hatte er daran gearbeitet. Es war, wie er einmal bemerkte, der einzige Trost seines Lebens.
Kriechen und dienen statt kämpfen
Als Zeitzeuge der Revolution, ihres Kippens in neue Despotien und als abgebrühter Politiker rechnete Constant mit allen anderen Motivationsquellen für die Verteidigung der Freiheit ab. Dem Utilitarismus sowie dem wohlverstandenen Eigeninteresse hielt er entgegen, wenn nur das Materielle zähle, könne die Freiheit nicht verteidigt werden. Wenn das Leben bloss eine bizarre Erscheinung ohne Zukunft und Vergangenheit sei und zudem so kurz, dass man es kaum für wirklich halte: Wozu solle man sich dann aufopfern, für Grundsätze, deren Erfüllung in weiter Ferne lägen? Deshalb sei es besser, jede Stunde zu geniessen, unsicher, ob man die darauffolgende noch erlebe. Nützlicher sei es, sich an jedem Vergnügen zu laben, solange dies möglich sei. Naheliegender sei es, zu kriechen und zu dienen, als zu kämpfen.
Um denen Widerstand zu leisten, die von neuem ein Joch auf die Schultern der Menschen legen wollten, stelle auch die Kultur kein wirksames Mittel dar, denn sie verweichliche die Seelen. Die Wirtschaft sei ebenfalls nicht hilfreich. Denn sie beunruhige sich kaum über die Unterdrückung, weil sie ihr lange Zeit zu entkommen meine. Sie schliesse sich in ihrer Sphäre ein, von der sie glaube, dass die Gedankenfreiheit dort überflüssig sei – ein Gedanke, dessen Hellsichtigkeit nicht zu verkennen ist, wenn man bedenkt, wie sehr sich beträchtliche Teile der Wirtschaft dem Gesinnungsdruck des Wokeismus gebeugt haben.
Die Wissenschaften, so Constant weiter, erhielten für ihre materiellen Bedürfnisse politische Protektion, die sie sich durch Zugeständnisse erkauften. Bald würden die Disziplinen dann in den magischen Kreis aufgenommen und würden zu einem Komplizen des Monopols. Die politische Willfährigkeit eines grossen Teils der Wissenschaft in der Corona-Krise dürfte Constants These untermauern. Die Philosophie schliesslich sei ebenfalls ohne Kraft. Denn sie führe zum Zweifel, welcher der Seele die Energie raube.
Das religiöse Gefühl allein, war sich Constant sicher, könne die Freiheit retten. Denn dieses erhöhe den Wert des Lebens, indem es dieses mit einer Atmosphäre der Unsterblichkeit umgebe. So bewirke das religiöse Gefühl, dass das diesseitige Leben zu einem Gegenstand des Opfers zu werden vermöge. Werde das religiöse Gefühl in der Seele der Menschen jedoch unterdrückt, sei der Despotismus nahe.
Es sei zwar möglich, dass auch religiöse Völker Sklaven gewesen seien. Aber kein irreligiöses Volk sei je frei geblieben. Denn die Freiheit könne nur entstehen und Bestand haben durch die Selbstlosigkeit. Und um die Freiheit zu verteidigen, müsse man bereit sein, das eigene Leben zu opfern. Was aber gebe es mehr als das Leben für den, der jenseits dieses Lebens nur das Nichts sehe? Treffe der Despotismus auf eine religiöse Leere, werfe sich die menschliche Gattung in den Staub.
Religion frei von der Staatsgewalt
In seiner Religionsschrift, deren letzte Bände zusammen mit einem Werk über den römischen Polytheismus postum erschienen, versuchte Constant, seine These zu untermauern. Er entwickelte dazu eine originelle Religionstheorie, deren Kernthese lautet, dass jeder Mensch im Sinne eines Instinktes ein «religiöses Gefühl» besitze. Dieser ihm angeborene siebte Sinn bringe im Verlauf der Geschichte stets neue religiöse Formen hervor. Wenn diese mit dem Stand des Wissens und der Aufklärung nicht mehr übereinstimmten, würden sie zerstört und durch bessere, wieder der gesellschaftlichen Wirklichkeit angepasste Formen ersetzt. Um diesen Prozess der Vervollkommnung nicht zu hemmen, sei es unabdingbar, dass die Staatsgewalt sich nicht in die religiösen Belange einmische.
Mit seiner Theorie fiel Constant zwischen Stuhl und Bank. Die liberalen Mitstreiter vermochten ihm nicht zu folgen, weil sie der Religion keine massgebliche Rolle für den Erhalt der Freiheit beimassen. Der Papst setzte zwei Werke von Constant aus politischen Gründen auf den Index, denn dessen Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche stellte den Kirchenstaat infrage.
Constant war sich seiner prekären Lage bewusst: «Vielleicht missfalle ich betreffend die Religion gleichermassen den Frommen wie den Ungläubigen, jenen jedenfalls, die den Unglauben wie eine dogmatische Lehre angenommen haben», stellte er am Ende seines Lebens fest. Er jedoch sei zu skeptisch, um ungläubig zu ein. Nur vor dem Hintergrund des religiösen Gefühls als Kern der Individualität wird sein liberales Credo verständlich: «Ich habe während vierzig Jahren das gleiche Prinzip verteidigt: Freiheit in allem, in der Religion, in der Philosophie, in der Literatur, in der Wirtschaft, in der Politik. Und unter Freiheit verstehe ich den Triumph der Individualität, sowohl über die staatliche Autorität, die mittels des Despotismus regieren möchte, als auch über die Massen, die das Recht verlangen, die Minderheit der Mehrheit zu unterwerfen.»
Constants Religionswerk liegt seit kurzem in einer kritischen Edition vor, die vom Institut Benjamin Constant der Universität Lausanne besorgt wurde. Es stellt nicht nur den Versuch eines Brückenschlags zwischen Liberalismus und Religion dar. Es lädt auch 200 Jahre nach seinem Erscheinen dazu ein, angesichts vielfältiger Bedrohungen der freien offenen Gesellschaften darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, die Uhr der Freiheit stets von neuem aufzuziehen.
Martin Grichting war Generalvikar des Bistums Chur und beschäftigt sich publizistisch mit philosophischen sowie theologischen Fragen.