Ein Stadtteil mit 3000 Einwohnerinnen und Einwohnern will sich abspalten. Das steht quer in der politischen Landschaft.
Die wichtigsten Grenzverschiebungen hierzulande betrafen Kantone in der Nordwestschweiz. Nach der Abspaltung des Juras in den 1970er Jahren wechselte 1994 das Laufental von Bern zu Basel-Landschaft. Erst im letzten September wurde per Volksentscheid der Übertritt der Berner Gemeinde Moutier zum Jura besiegelt.
Ausser Fusionen sind grössere Grenzverschiebungen unter Schweizer Gemeinden dagegen seit Jahrzehnten nicht vorgekommen, höchstens minime Korrekturen. Am umfangreichsten war im Kanton Luzern 2015 der Wechsel von drei Hektaren des Weilers Tann von Schenkon zu Beromünster. 2010 lehnte die Gemeindeversammlung Birmensdorf den Übertritt von drei Quartieren zum benachbarten Uitikon klar ab.
Das Ziel des Komitees «Pro 8606» hat eine andere Schuhnummer: Der Ustermer Ortsteil Nänikon und das viel kleinere Werrikon sollen sich der benachbarten Gemeinde Greifensee anschliessen können. 8606 ist die gemeinsame Postleitzahl der drei Orte. Es geht um ein Gebiet von 5,7 Quadratkilometern mit über 3000 Einwohnerinnen und Einwohnern oder um einen Fünftel des Stadtgebiets von Uster und etwa einen Zwölftel seiner Bevölkerung.
Gelebte Wirklichkeit
Am 24. November stimmt Uster über die Initiative des Komitees ab, die den programmatischen Titel «Zusammenführen, was zusammengehört» trägt. Bei einer Annahme hätte der Stadtrat von Uster den Auftrag, mit dem Gemeinderat Greifensee eine Vereinbarung über den Gebietswechsel auszuarbeiten. Über das Ergebnis würde in einigen Jahren erneut abgestimmt.
In Greifensee erübrigt sich ein erster Entscheid. Dort hat der Gemeinderat die Vereinigung mit Nänikon zu einer grösseren Kommune als Legislaturziel formuliert. Das ist ein höchst ungewöhnlicher Vorgang; in der Diplomatie würde man wohl von einem unfreundlichen Akt sprechen.
Für Aussenstehende ist die Absetzbewegung schwer verständlich. Das Komitee «Pro 8606» betont immer, sein Anliegen richte sich nicht gegen Uster. Man fühle sich einfach mehr Greifensee zugehörig. Das sei bereits gelebte Wirklichkeit. Der Wunsch, die Gemeinsamkeiten und die dörfliche Einheit zusammen mit Greifensee weiterzuentwickeln, sei über Jahrzehnte kontinuierlich gewachsen.
Hervorgehoben wird, es gehe im ersten Schritt ja nur darum, die Folgen eines solchen Gemeindewechsels für beide Seiten aufzuzeigen. Definitiv falle der Entscheid erst später.
Der Initiativtext fordert allerdings mehr als nur eine Auslegeordnung, nämlich einen fertig ausgehandelten Vertrag, der in beiden Gemeinden dem Stimmvolk vorgelegt werde könnte.
Das Parlament von Uster lehnte im Juli das Begehren klar ab, und der Stadtrat tat zuvor, was man von ihm erwarten durfte, ja musste: Er zeigt die Konsequenzen auf, falls es angenommen würde. Demnach werden nur schon die Kosten für Abklärungen und die Ausarbeitung einer Vorlage zur Grenzänderung auf 800 000 Franken geschätzt. Ausserdem erwartet der Stadtrat, dass die zweifellos schwierigen Verhandlungen über längere Zeit personelle Ressourcen bänden, die man besser für andere Aufgaben einsetze.
Schliesslich beziffert er auf der Grundlage eines eingeholten Gutachtens die Einnahmenverluste für Uster nach einer Abspaltung von Nänikon unter dem Strich auf etwa 3 Millionen Franken. Diese wären über Einsparungen oder eine Erhöhung der Steuern auszugleichen.
Tatsächlich geht es nicht nur um ein Dorf, das die Seite wechseln will. Nachdem die Industrie das ehemalige Textilzentrum verlassen hat, liegt heute das grösste Arbeitsplatzgebiet von Uster mit etwa 190 Firmen und rund 2000 Beschäftigten beim Bahnhof Nänikon-Greifensee. Mit ihm würde die Stadt den weltweit führenden Hersteller von Präzisionswaagen und Laborausrüstungen Mettler-Toledo verlieren. Seine Produktionsstätten befinden sich auf dem Gebiet beider Gemeinden.
Die Näniker sprechen von einer «Herzensangelegenheit» und werben auf Plakaten mit einem Herzen über ihrem Dorf. Sie haben wenig Verständnis, dass sich die Ustermer Seite nicht auf diese emotionale Ebene begibt, sondern den Fokus auf die praktischen und wirtschaftlichen Auswirkungen legt. Hier wirbt man mit einem Puzzle, das wieder zerlegt werden soll, für ein Nein.
Zwei ehemalige Stapis für Abspaltung
Mittlerweile ist der Ton rauer geworden. «Pro 8606» überlegte sich eine Stimmrechtsbeschwerde, weil die Darstellung in der Abstimmungsweisung und in einem Erklärvideo einseitig sei, sah dann aber davon ab. Allerdings beklagt sich das Komitee, man schlage Nänikon die Nase vor der Tür zu. Martin Bornhauser, Kopf und Sprecher des Komitees, meint in einem Videobeitrag, ein Nein in der Abstimmung würde die Bevölkerung in Nänikon «massiv und nachhaltig vor den Kopf stossen».
Es ist nur eine von vielen Eigentümlichkeiten, dass der Näniker Bornhauser, 2006 bis 2012 Usters erster Stadtpräsident der SP, heute für die Abspaltung eintritt. Das tut auch sein parteiloser Vorvorgänger Hans Thalmann (Stadtpräsident 1986–1998) und Vater der seit 2018 amtierenden Stadtpräsidentin Barbara Thalmann (SP). Er zeigt sich im Video glücklich, dass das «ururalte Problem», dass Nänikon sich nicht zu Uster zugehörig fühle, endlich angegangen werde.
Zwei andere ehemalige Stapis befürchten dagegen Schaden für Uster und traten per Leserbrief im «Anzeiger von Uster» für ein Nein ein. Für Elisabeth Surbeck (FDP, Stadtpräsidentin von 1998 bis 2006) würde die Grenzverschiebung die historische Verbundenheit der Ortsteile auseinanderreissen. Werner Egli (SVP, 2014–2018) wundert sich, wie sich Nänikon als Minderheit auffassen könne, die offenbar von einer Mehrheit beherrscht werde.
Das Wirtschaftsforum Uster gehört dem Nein-Komitee an, und die Kommission zur Standortförderung, in der auch der Gewerbeverband vertreten ist, hat einen Weggang von Nänikon als «katastrophal» bezeichnet. Die SVP Uster hingegen, seit 2022 nicht mehr im Stadtrat vertreten, empfiehlt als einzige Partei Zustimmung. Sonst wirft sie dem Stadtrat bei jeder Gelegenheit vor, sorglos mit Steuergeld umzugehen.
Anita Borer, SVP-Kantonsrätin und Präsidentin des Ustermer Gewerbeverbandes, versucht, die Positionen unter einen Hut zu bringen. Sie wünscht zwar keine Abspaltung von Nänikon, tritt aber, um Klarheit zu schaffen, doch für ein Ja zur Initiative ein.
Uster bewahrte ländliches Nänikon
Der Wunsch nach Abspaltung und einer neuen Grenzziehung passt schwer in eine Zeit, in der versucht wird, die Zusammenarbeit unter den Gemeinden zu vertiefen, Verwaltungsbereiche zusammenzulegen oder die Fusion anzupeilen. Seltsam mutet das Argument der Abtrünnigen an, Nänikon und Uster würden nie zusammenwachsen. Das wurde im wörtlichen Sinn tatsächlich verhindert, aber zum Vorteil von Nänikon.
Uster sorgte im letzten Jahrhundert dafür, dass die Stadt nicht in die Landschaft wucherte. Deshalb reicht die Besiedelung heute nicht bis zum Ufer des Greifensees. Der Grüngürtel zwischen Uster und Nänikon wurde gar durch Rückzonung von Bauland gesichert. Das bewahrte den dörflichen Charakter von Nänikon und Uster als Kernstadt umgeben von einem Kranz aus sogenannten Aussenwachten. Für diese beispielhafte Raumplanung erhielt Uster 2001 den renommierten Wakkerpreis.
Nun droht die Abstimmung Gräben aufzureissen, die sich nicht so bald zuschütten lassen dürften. Nänikon, wo weniger als zehn Prozent der Bewohner leben, dürfte es schwerfallen, die übrige Stadtbevölkerung zu überzeugen. Doch es gibt in Uster selber schon Stimmen, die sagen, man solle sie doch ziehen lassen.
Eine Hypothek ist, dass sich das Stimmenverhältnis in der Aussenwacht Nänikon nicht herauslesen und zeigen lässt. Auslöser der Absetzbewegung war, dass Greifensee und Nänikon seit über hundert Jahren gemeinsam eine Sekundarschule betreiben. Diese Situation ist heute widerrechtlich, da laut Gemeindegesetz Schulgemeinden und Politische Gemeinden räumlich deckungsgleich sein müssen.
Der Bezirksrat wollte 2021 eingreifen, da lancierte ein Näniker im Rahmen der Oberstufenschulgemeinde Nänikon-Greifensee eine Einzelinitiative, es sei ein Zusammenschluss von Nänikon mit Greifensee zu prüfen. Im März 2022 sagten in dieser eher konsultativen Abstimmung, bei der die Stimmen in Greifensee und Nänikon getrennt ausgezählt wurden, dazu je über neunzig Prozent Ja.
Das war ein unerwartetes Resultat, doch am kommenden Sonntag gilt es ernst. Diesmal wird nur in Uster abgestimmt, und die Stimmen werden nicht nach Stadtteilen separiert ausgezählt. Auch nach einem Nein können die Befürworter einer Abspaltung weiterhin behaupten, über neunzig Prozent der Näniker befürworteten den Gemeindewechsel.