Vor einem Jahr übernahm Sophie Semin-Handke in der Nähe des Jardin du Luxembourg ein altes Antiquariat und verwandelte es in eine moderne Buchhandlung für deutschsprachige Literatur.
Manchmal wartet selbst das Buchgeschäft mit einer guten Nachricht auf: Paris hat seit einem Jahr wieder eine Adresse für deutsche Literatur. Die Buchhandlung Le neuvième pays befindet sich an der Rue Bonaparte, Hausnummer 84, im sechsten Arrondissement, in bester Lage zwischen der Kirche Saint-Sulpice und dem Jardin du Luxembourg.
Der Hauptraum des Lokals ist mit eleganten Holzgestellen ausgestattet, auf denen französische Publikationen und Übersetzungen aus dem Deutschen greifbar sind. Im Zentrum steht ein quadratischer Tisch, auf dem eine stets erneuerte Auswahl von Werken der Weltliteratur ausliegt, die einen so eigenwilligen wie soliden Geschmack verrät: Der Brasilianer Machado de Assis liegt neben «Wolf Solent» von John Cowper Powys, der Seemann-Ballade von Coleridge und dem Epos von Gilgamesch. Ein hölzern eingefasster Torbogen führt zu einem zweiten Raum, in dem die deutsche Literatur in Originalversion aufliegt.
Zu verdanken ist der Ort Sophie Semin-Handke, der Ehefrau von Peter Handke, die Le neuvième pays im November 2023 eröffnet hat. Risikolos war das Unterfangen nicht, zumal die Buchhändlerin, wie sie freimütig gesteht, über keine spezifische Berufserfahrung verfügt und erst nach mehreren Umwegen zu ihrer Berufung gefunden hat. Nach einem Rechtsstudium besuchte sie als Tochter eines Stofffabrikanten das Institut Français de la Mode, anschliessend leitete sie die europäische Kommunikationsabteilung des japanischen Modedesigners Yohji Yamamoto.
Wie in einem Wachtraum
Anfang dreissig machte sich Semin-Handke als Schauspielerin einen Namen: Im Theater spielte sie in einer «Oblomow»-Adaptation von Robert Hunger-Bühler, in Michelangelo Antonionis Film «Al di là delle nuvole» hatte sie auch einen Auftritt. In der Schweiz gastierte sie 2007 in einem Rezitationszyklus von Robert Walsers «Kleiner Prosa». Eine Leserin war sie allerdings seit je: In ihrer Kindheit hat sie, wie sie erzählt, «als treueste Kundin der Dorfbibliothek» einst eine Medaille erhalten. Auch die deutsche Sprache geht ihr als gebürtiger Lothringerin leicht über die Lippen.
Ihre Buchhandlung Le neuvième pays hat sie in einem ehemaligen Antiquariat eingerichtet, das ihr seit langem bekannt war. «Es war wie in einem Wachtraum», erinnert sie sich in unserem Gespräch in ihrem Laden. «Monsieur Vachon», der Betreiber, hatte jahrelang versucht, einen Nachfolger zu finden, allerdings erfolglos: «Am Ende musste man eine enge Allee von bis an die Decke gestapelten Büchern und Kartonschachteln durchqueren», um zur Kasse zu gelangen.
Vor Jahren wollte sie dort eine Pléiade-Ausgabe von André Chénier kaufen, die sie in der Vitrine gesehen hatte. Sie bezahlte den Band, allerdings gelang es Monsieur Vachon nicht, bis zum Schaufenster vorzudringen: «Erst als ich das Antiquariat gekauft hatte und die Räume geleert waren, konnte er mir das Buch überreichen.»
Kann sich der Verkauf fremdsprachiger Publikationen im digitalen Zeitalter noch finanzieren? Neben einem halben Dutzend englischsprachiger Buchhändler, die sich gut zu behaupten scheinen, gibt es in Paris eine «librairie portugaise et brésilienne», eine polnische und eine italienische sowie eine russische Buchhandlung, die in finanzieller Hinsicht allesamt schwach aufgestellt sind.
Die deutschen Buchgeschäfte verschwanden in den letzten Jahren infolge chronischer Finanznot: Nach der Librairie Calligrammes, die Anfang der 1950er Jahre vom deutschen Emigranten Fritz Picard gegründet worden war und im städtischen Kulturbetrieb lange als Fixstern galt, mussten später auch die in unmittelbarer Nähe des Centre Pompidou gelegene Marissal und, jüngst, die Librairie Allemande schliessen. Iris Mönch-Hahn, ihre ehemalige Besitzerin, betreibt heute als Bouquinistin einen Stand am Seineufer.
Ein zentrales Argument für die Wettbewerbstauglichkeit von Le neuvième pays sind die Preise: Dank den Abschlägen, die ihr bestimmte Verlage und der Vertrieb gewähren, kann Sophie Semin-Handke die Transportkosten der Bestellungen übernehmen und die Bände zu den in Deutschland üblichen Ladenpreisen verkaufen. Ebenso überzeugend ist die Ausrichtung des Angebots, das in erster Linie die literarischen Neigungen der Buchhändlerin spiegelt.
Es sei allerdings ihre Absicht sei gewesen, der Kundschaft eine subjektive Gewichtung des literarischen Angebots vorzuschlagen. Ohne diese Motivation hätte sie sich kaum auf das Abenteuer eingelassen, wie sie anfügt: «Ich kann mich nicht zu Büchern äussern, die ich nicht kenne, mit Präzision kann ich nur über Dinge sprechen, die mich begeistern.»
Lesungen sind gut besucht
In den Regalen finden sich neben Ingeborg Bachmann, Peter Handke und den Tagebüchern Kafkas denn auch Werke von Ludwig Hohl und Christine Lavant, zum Beispiel, die auch jenseits des Rheins nur ein kleines Publikum haben. Neben der modernen Klassik bietet die Buchhandlung auch Kunstbücher und geisteswissenschaftliche Publikationen. Und natürlich liegt auch allerlei Ort-Spezifisches auf: die «Parisiana» von Paul Nizon etwa sowie sein Roman «Das Jahr der Liebe».
Was die zeitgenössische Literatur betrifft, verlässt sich die Buchhändlerin auf die Empfehlungen der Verlagshäuser und auf die Impulse ihres Mitarbeiters Pierre Stapf, der, ebenfalls perfekt zweisprachig, zuvor in der renommierten Buchhandlung L’écume des pages gearbeitet hatte.
Zwei- bis dreimal im Monat finden Lesungen statt, in der Regel mit attraktivem Programm und, dem Andrang nach zu beurteilen, mit sicherem Gespür für die Nachfrage: Esther Kinsky, Anne Weber und Yasmina Reza zählen zu den bekannteren Namen, aber auch die Abende mit Rezitationen von Texten von Christa Wolf und Robert Walser (gelesen, mit Wiener-Akzent, vom Schriftsteller Peter Stephan Jungk) fanden Anklang. Ein Autor, dem sie vermehrt Aufmerksamkeit schenken will, ist Gottfried Keller, dessen «Henri le Vert» demnächst im Genfer Verlag Zoé erscheinen wird.
Nicht zuletzt aufgrund ihrer Lage scheint die Buchhandlung auf gutem Weg, sich nun ihrerseits in die Literaturgeschichte einzufügen. Le neuvième pays liegt wenige hundert Meter von Joseph Roths letztem Domizil in der Rue de Tournon entfernt, jenseits des Jardin du Luxembourg. Und in der Rue Toullier schrieb Rilke zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Rodin-Monografie.
Sucht man die Gestelle der Buchhandlung ab, kann man unter den gut siebentausend Titeln (ein gutes Drittel davon auf Deutsch) auf Paul Celans Übersetzung von Rimbauds «Le bateau ivre» stossen. Guillaume Apollinaire, dessen Gedicht «Calligrammes» Picards Buchhandlung Pate stand, ist mit seinem «Flaneur in Paris» vertreten.
Als Hommage an den früheren Besitzer des Lokals hat Sophie Semin-Handke einzelne Bestände aus Monsieur Vachons Sortiment übernommen. Auf ihrem Schreibtisch befinden sich zwei rote Langenscheidt-Miniaturwörterbücher sowie eine von Paul Celan signierte Übersetzung eines Simenon-Romans. «Der Band ist allerdings unverkäuflich», sagt die Buchhändlerin.
Im Hinterzimmer stapeln sich gute erhaltene Manesse-Ausgaben, die aus aufgelösten Bibliotheken stammen und nun ihrerseits antiquarisch verkauft werden. Die höchste Ehre widerfuhr jedoch André Breton: Im Februar kündigte ein Facebook-Eintrag an, die Buchhandlung sei anlässlich des Geburtstags des Surrealisten «ausnahmsweise geschlossen».