Der Missbrauchsprozess von Avignon nähert sich dem Ende. In ihren Plädoyers rufen die Anwälte des Opfers nach gesellschaftlichen Veränderungen.
«Wie kann eine Frau im Jahr 2024 in Frankreich mindestens zehn Jahre lang das erlitten haben, was Gisèle Pelicot zugefügt wurde? Wie kann man im Jahr 2024 mindestens 50 Männer (. . .) in einem Umkreis von 50 Kilometern finden, die kommen, um einen reglosen Körper auszunutzen?» Es war Antoine Camus, der mit diesen Worten am Mittwoch wohl Millionen von Franzosen aus dem Herzen sprach. Der Anwalt von Gisèle Pelicot und ihren Kindern hielt das erste Plädoyer im sogenannten Mazan-Prozess vor dem Strafgericht von Avignon.
«Massenvergewaltigung in Etappen»
Nach 11 Wochen und 48 Verhandlungstagen im Strafgericht von Avignon, in denen 51 Angeklagte befragt und unzählige Fotos und Videos als Beweismaterial gesichtet wurden, fasste der Vertreter der Nebenkläger noch einmal den Sachverhalt der Verbrechen zusammen. Camus liess Revue passieren, wie der Hauptangeklagte Dominique Pelicot über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren seine Ex-Frau im gemeinsamen Haus im südfranzösischen Dorf Mazan mit Medikamenten sediert und missbraucht und immer wieder auch von fremden Männern hatte missbrauchen lassen.
Der Anwalt sprach vom Martyrium einer 72-Jährigen, die eine «Massenvergewaltigung in Etappen» ertragen musste. Er sprach ausserdem über die «diabolischen» Perversionen von Dominique Pelicot – einem Mann, der sich in jenen Stunden, in denen er dank den Betäubungsmitteln die volle Kontrolle über seine Ex-Frau ausübte, «für einen Gott» gehalten habe. Die anderen mutmasslichen Vergewaltiger, Männer, die zur Tatzeit zwischen 21 und 68 Jahre alt gewesen waren, hatte Pelicot über eine zwielichtige Online-Plattform kennengelernt und in sein Haus eingeladen. Auch mit ihnen gingen die Vertreter der Nebenkläger hart ins Gericht.
Stéphane Babonneau, der zweite Anwalt von Gisèle Pelicot, erinnerte daran, dass kein einziger der fünfzig Männer nach den Taten auf die Idee gekommen sei, zur Polizei zu gehen. Und er kritisierte das mangelnde Schuldbewusstsein der meisten Täter, von denen viele im Prozess zu Protokoll gegeben hatten, angeblich selbst nicht bei vollem Bewusstsein gewesen zu sein. «Die Mittel zur Begehung von Vergewaltigungen werden nicht verschwinden», sagte Babonneau. Was sich jedoch unbedingt ändern müsse, sei die in «einer bestimmten männlichen Vorstellungswelt verankerte Vorstellung, dass der Körper der Frau ein Eroberungsobjekt ist».
Mit den Anhörungen der letzten vier Angeklagten war am Dienstag die Beweisaufnahme im Mazan-Prozess zu Ende gegangen. Danach hatte die Familie des Opfers noch einmal die Gelegenheit erhalten, sich zu äussern, und im Gerichtssaal von Avignon war es zu dramatischen Szenen gekommen. Florian Pelicot, der mit 38 Jahren jüngste Sohn, hatte seinen Vater als «den Teufel in Person» bezeichnet und verkündet, einen DNA-Test machen zu wollen; denn vielleicht habe er ja Glück, und er sei gar nicht der Sohn von Dominique Pelicot.
Sein Bruder, der 50-jährige David Pelicot, erzählte dem Gericht, wie er sich übergeben musste, nachdem ihn seine Mutter angerufen und davon berichtet hatte, wie sie jahrelang von Unbekannten vergewaltigt worden sei. Jener Anruf vor vier Jahren sei wie eine Explosion gewesen, mit der Dominique Pelicot die Familie vernichtet habe.
Auch die Tochter könnte missbraucht worden sein
Caroline Darian, die 45-jährige Tochter, hatte schon im Oktober gegen ihren Vater ausgesagt. Sie ist überzeugt, ebenfalls betäubt und missbraucht worden zu sein, denn auch von ihr wurden auf dem Rechner von Dominique Pelicot Fotos in Reizwäsche und in lasziver Stellung gefunden, die sie selbst nie gemacht hatte. Stets bezeichnete sich Darian als «die Vergessene» im Prozess von Avignon. «Ich weiss, dass du mich mit inzestuösem Begehren angesehen hast», schleuderte sie ihrem Vater während der Verhandlung ins Gesicht. Als dieser am Dienstag beteuerte, seine Tochter nie angefasst zu haben, schrie diese: «Selbst jetzt lügst du noch, du wirst mit deinen Lügen sterben, ganz allein!»
Darian schrieb bereits vor zwei Jahren ein autobiografisches Buch, es trägt den Titel: «Und ich habe aufgehört, dich Papa zu nennen». Darin mahnt sie, dass das Phänomen der «chemischen Unterwerfung» mit Drogen und Schlafmitteln viel verbreiteter sei als gemeinhin bekannt.
Auch Gisèle Pelicot hatte am Dienstag noch einmal das Wort ergriffen. Sie sagte, es sei für sie unerträglich gewesen, die Ausreden der Angeklagten anzuhören. Für sie sei dies «ein Prozess der Feigheit» gewesen, und es sei an der Zeit, dass sich diese «machohafte, patriarchalische Gesellschaft» endlich ändere.
In der französischen Nationalversammlung könnte sie gehört werden, denn dort beschäftigen sich die Abgeordneten zurzeit mit Gesetzesverschärfungen, wonach sexuelle Handlungen, die nicht ausdrücklich einvernehmlich erfolgen, unter Strafe gestellt werden könnten.
Gisèle Pelicots Anwälte Camus und Babonneau lobten am Mittwoch den Mut ihrer Mandantin, die den Prozess in aller Öffentlichkeit austragen wollte, um die Gesellschaft zum Nachdenken zu bringen. «Verwandeln Sie Schlamm in edle Materie! Sorgen Sie dafür, dass aus dieser schlimmen Geschichte etwas Nützliches erwächst!», sagte Babonneau. Während Dominique Pelicot mit der Höchststrafe von zwanzig Jahren rechnen darf, ist noch unklar, wie die Richter im Fall der übrigen Angeklagten entscheiden. Die Urteile werden in der Woche vor Weihnachten erwartet.