Tausende Schweizer Kinder erleben diese Woche den Alltag in einer fremden Sprachregion. Wirtschaft und Behörden unterstützen den Austausch. Aber ergibt er noch Sinn in einer Welt, die von Englisch dominiert ist?
Sie haben eine lange Tradition, die Austauschwochen. Wer kennt sie nicht aus der eigenen Schulzeit? Neugierig schauten wir uns das Schulhaus in Le Landeron an, waren stolz, das Wörtli «trousse» fürs Federmäppchen zu beherrschen. Und fragten die Banknachbarin schüchtern: «Comment t’appelles-tu?» Unsere Begegnung erweiterte nicht nur den Wortschatz, es kam auch ein Lebensgefühl hinzu.
Solche Austauschprojekte fanden früher eher zufällig statt, auf Initiative von einzelnen Schulen oder engagierten Lehrerinnen und Lehrern. Inzwischen ist das anders. Am Montag startete die zweite nationale Austauschwoche. Sie setzt um, was Bund und Kantone 2017 in einer gemeinsamen Strategie beschlossen hatten: Ein Sprachaustausch soll für Kinder und Jugendliche ein selbstverständlicher Teil ihrer Biografie werden.
Früher dank einzelnen Schulen, heute organisiert
Dabei geht es nicht nur darum, buongiorno, bonjour und allegra zu verstehen. «Es geht auch um den Kontakt mit anderen Kulturen und Mentalitäten unseres Landes», sagt Kathrin Müller, Kommunikationsverantwortliche von Movetia. Die Agentur stellt mit dem Bundesamt für Kultur Gelder und Ideen für Austauschprojekte zur Verfügung.
In der laufenden Woche bewegen sich 3500 Schülerinnen und Schüler aus 175 Klassen durch die vier Schweizer Sprachregionen. Dauer und Programm sind dabei sehr unterschiedlich. Manche Klassen halten gemeinsame Lager während der ganzen Woche ab, andere treffen sich für einen einzigen Tag in einem zweisprachigen Museum. Sie fahren über den Röstigraben zu fremden Schulzimmern oder durch den Gotthard zum Fussballspielen mit ihren anderssprachigen Altersgenossen.
Gerade für die jüngeren Kinder sind die Begegnungen einfach, niederschwellig, sagt Müller. «Mit den Austauschwochen sollen die Kinder und Jugendlichen ihre Komfortzone verlassen.» Sie müssten in einer anderen Sprache ausserhalb des eigenen Klassenzimmers und ohne Mami zurechtkommen.
Niederschwellige Begegnungen als erster Schritt
Wie nützlich und nachhaltig die Projekte sind, sei dahingestellt. Noch immer macht nur ein Bruchteil der Schulen mit. Viele kämpfen mit Lehrermangel und den Herausforderungen der integrativen Schule. Da bleibt kaum Luft für besondere Anlässe. Indem die Austauschwoche neu als nationaler Anlass mit fixen Daten propagiert wird, rückt er immerhin stärker ins Bewusstsein.
Müller sagt es so: Ein solcher Austausch sei ein erster Schritt. Danach traue man sich vielleicht auch zu einem zweiwöchigen Aufenthalt. «Die Kinder merken: Auch wenn man sich noch nicht perfekt verständigen kann, versteht man sich trotzdem.» Die Fremdsprache bleibt nicht etwas Abstraktes im Vocabulaire-Heft. «Andere Menschen zu sehen, die unsere Sprache nicht kennen: unglaublich!», sagt ein Primarschüler aus Le Locle in einem Testimonial-Video von Movetia.
Wichtig für die Wirtschaft
Doch ergeben die Wochen und der Einsatz des Bundes noch Sinn in einer Welt, die vom Englischen dominiert ist? Für die Schweizer Wirtschaft blieben die Landessprachen bedeutsam, sagt Rudolf Minsch, Chefökonom und stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsleitung bei Economiesuisse. Es sei zentral, dass Schülerinnen und Schüler neben den Kompetenzen in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (Mint) nach Abschluss der obligatorischen Schule in mindestens einer Landessprache richtig lesen, schreiben und sich ausdrücken könnten. Landessprachen seien für die Wirtschaft, gerade für Firmen an der Sprachgrenze, und für den Austausch mit Bundesbehörden und Politik sehr wichtig.
Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass fast die Hälfte der Erwerbstätigen mehr als eine Sprache bei der Arbeit nutzt. «Kompetenzen insbesondere in den Landessprachen Deutsch und Französisch sind daher nach wie vor sehr zentral im Geschäftsleben», so Minsch.
Darbellay lernte Deutsch auf dem Bauernhof
Je nach Kanton sind die Bemühungen um Projekte unterschiedlich. Zürich und die Waadt haben punkto Austausch zusammengespannt, auch Bern und das Wallis. Gerade das Wallis fördert aufgrund seiner Zweisprachigkeit auch innerhalb der eigenen Kantonsgrenzen den Sprachaustausch.
Der Walliser Mitte-Staatsrat Christophe Darbellay bezeichnet sich als «überzeugten Verfechter» des Austauschs. Bevor er an der ETH Zürich studierte, arbeitete er einen Sommer lang auf einem Bauernhof. So lernte der frankofone Darbellay Schweizerdeutsch.
Das Eintauchen in eine Fremdsprache wecke vor allem das Vertrauen in die eigenen Sprachfähigkeiten. «Die Fortschritte werden schnell sichtbar, und der Dialekt ist für einen Französischsprachigen keineswegs ein Hindernis», sagt Darbellay aus eigener Erfahrung. «Mit der Zeit und dank meinen Reisen ins Oberwallis, das ich sehr in meinem Herzen trage, habe ich mir das ‹Wallisertitsch› angeeignet.»
Dem Englisch-Trend entgegenwirken
Wie das Wallis ist auch Graubünden eine Region, die gegen die Isolierung vom Rest des Landes ankämpft. Der Bündner Mitte-Nationalrat Martin Candinas hat im vergangenen Jahr ein gemeinsames Klassenlager für Kinder aus den vier verschiedenen Sprachregionen in Graubünden mitorganisiert.
Als Jugendlicher reiste er in den Sommerferien in die Deutschschweiz, um Deutsch zu lernen, auch in die Romandie fuhr er zum Austausch. Rede man eine Fremdsprache, solle man Mut zu Fehlern haben und versuchen, einander zu verstehen. «Das ist ohnehin der Schweizer Schlüssel: eine andere Landessprache verstehen, ohne sie perfekt reden zu müssen.»
Die anderen Sprachen kennenzulernen, bedeute auch, die Regionen zu erkunden. «Wir sind nicht nur am 1. August eine Einheit», sagt Candinas. Es sei wichtig, das den Kindern zu zeigen. Den sprachlichen Austausch im Land müsse man pflegen, denn er sei in Gefahr. «Ich will keine Schweiz, in der wir uns auf Englisch unterhalten müssen – da bin ich Patriot.»