Der französische Designer Mathieu Lehanneur spielt mit der Wahrnehmung der Betrachtenden. Er stellt Marmor auf Glas, präsentiert den Vorschlag einer «minimalen Unterkunft» und überzeugt das Internationale Olympische Komittee, auf echtes Feuer zu verzichten.
Seine Ansprüche an die eigene Arbeit sind überirdisch. «Magic», sagt Mathieu Lehanneur sollen seine Produkte und Installationen sein. Dem 50-Jährigen gehe es beim Entwerfen nie darum, einfach etwas Neues zu schaffen. Dinge schön zu machen – wie Design von Laien häufig verstanden wird –, könne Teil des Prozesses sein, sagt er, aber nie das Ziel. Ziel sei die Emotion, die ein Produkt auslöse. Um zu verstehen, was der französische Designer mit dieser Magie, die er kreieren will, meint, blickt man am besten zurück auf letzten Sommer. Olympia 2024.
Kurz bevor Céline Dion die ersten Zeilen von «L’Hymne À L’Amour» zu singen beginnt und die Sonne über Paris untergeht, steigt ein Helium-Ballon 60 Meter in die Höhe. Zu sehen ist das berühmte olympische Feuer. Unten steht Mathieu Lehanneur und schaut unruhig zu.
Der französische Designer wurde vom Internationalen Olympischen Komitee (IOK) mit der Gestaltung des «Olympic Cauldron Paris 2024» beauftragt. Die Installation, die aus einem Flammenring, auf dem ein Ballon thronte, bestand, war während der Dauer der Spiele im Jardin des Tuileries zu sehen. Jeden Abend pünktlich zu Sonnenuntergang stieg die leuchtende Kugel nach oben in den Himmel.
Feuer steht im Zentrum der olympischen Feierlichkeiten: Seit 1936 wird es im griechischen Olympia entzündet und erst nach Abschluss der Spiele wieder gelöscht. Aber Mathieu Lehanneurs Feuer war kein Feuer. Es war eine Illusion aus Wasser und Licht. Seine Idee war radikal – und nicht ohne Risiko. Denn selbst er wusste nicht ganz genau, was ihn erwartet. «Das erste Mal, dass ich den Helium-Ballon hochsteigen sah, war an der Eröffnungsfeier – vor den Augen Millionen von Menschen», erzählt er. Weil das Projekt eine Überraschung bleiben sollte, konnten sie die Installation als Ganzes nie testen.
Auch für Lehanneur und sein Team war es also eine Premiere: «Ich stand mittendrin, sah, wie die Menschen um mich herum Gänsehaut und Tränen in den Augen hatten.» Das ist für ihn Magie. Um dieses Gefühl geht es ihm bei seiner Arbeit.
So gelingt die Überraschung
Was heisst das für seine anderen Werke? Design denkt er gross: «Ich will, dass sich die Leute lebendig fühlen», sagt er. Wir seien ständig beschäftigt, reisten viel und manchmal vergässen wir dabei, dass wir atmeten und am Leben seien. «Das ist ein Wunder, und ich glaube, dass es Gegenstände geben kann, die uns daran erinnern.»
Mathieu Lehanneur versucht es mit dem Unerwartetem: «Sind wir nicht alle etwas müde davon, ständig das gleiche zu tun, das gleiche zu sehen?». Also dreht er die Dinge um: In seiner Möbelserie «Inverted Gravity» nimmt er das Leichte, Zerbrechliche als Basis und stellt das Massive, Schwere obendrauf. Das Ergebnis wirkt surreal: Ein Tisch mit Marmorplatte, die auf vermeintlich fragilen Glasfüssen zu schweben scheint.
Um das Unmögliche möglich zu machen, arbeitet Mathieu Lehanneur an der Schnittstelle zu Wissenschaft und Psychologie. Mit seinem Beruf als Designer hat das auf den ersten Blick nur wenig zu tun, er aber versteht die Verschmelzung der Bereiche als Instrumente, um das menschliche Wesen besser zu verstehen. Seine ganze Arbeit richtet er darauf aus: Was sind aktuelle Bedürfnisse? Und wie können diese gestillt werden?
Die Interior-Messe Maison & Objet kürte ihn Anfang Jahr zum Designer des Jahres 2024. Ausgezeichnet wurde sein Projekt «Outonomy», bei dem sich Lehanneur die Frage stellte: Welche Ansprüche hat ein Zuhause zu erfüllen? Seine Antwort ist simpel: Es seien im Grunde die gleichen wie damals, als der Mensch noch in der Höhle wohnte. «Der Fortschritt machte unser Leben zwar komfortabler, aber unser Wunsch nach Sicherheit, Nahrung, Unterhaltung und nach einem Glauben – an was auch immer – sind gleich geblieben», sagt er.
Idee einer «minimalen Unterkunft»
«Ich stellte mir die Frage: Wenn ich mit meiner Familie beschliessen würde, aus Paris wegzuziehen, ins Nirgendwo, mitten im Wald oder ans Meer: Was brauche ich dafür?» Es ist die berühmte Frage nach der einsamen Insel: Was kommt mit?
Sein Projekt nennt er die Idee einer «minimalen Unterkunft»: Ein kleines, autarkes Haus, mit Windturbine auf dem Dach, Auffangmöglichkeit für Wasser und Boxsack zur Gefühlsregulierung. Man kann «Outonomy» angesichts der aktuellen Weltsituation als Apokalypse-Szenario verstehen. Viel mehr aber gehe es ihm darum, dass wir unseren modernen Lebensstil hinterfragen. Lehanneurs Vorschlag für die neue Art des Wohnens ist eine Rückbesinnung auf das Leben in der Höhle, näher an der Natur, mit dem Minimum an Dingen und Komfort, auf die wir nicht mehr verzichten wollen.
Die Farbe gelb wählte er aus einem konzeptionellen Ansatz heraus. Sie stehe einerseits für Gefahr – «in Filmen ist es nie gut, wenn sich der Himmel gelb färbt» – und andererseits für Optimismus – «die Farbe der Sonne».
Sein Haus versteht er nicht als fertiges Projekt, sondern als eine Einladung zum Dialog. «Viele Besucherinnen und Besucher sagten mir: Ich bin bereit dafür, ich könnte in diesem Haus leben», erzählt er. Das überraschte ihn, und noch mehr war er erfreut. Schliesslich soll die Idee ein Denkanstoss sein für all jene, die beklagen, der Alltag sei ihnen zu laut, zu dicht, zu viel geworden.
Häufig ist derzeit die Rede von Eskapismus, auch im Design sieht man viele Interieurs, die von der Gegenwart ablenken zu versuchen. Bei Mathieu Lehanneurs Arbeiten jedoch geht es vielmehr darum, ihr entgegenzublicken. Er fordert die Wahrnehmung der Betrachtenden heraus, sei es, indem er der Schwerkraft trotz, Marmor auf Glasbeine stellt, indem er ein Feuer entfacht, das keines ist, oder uns dazu zwingt, zu hinterfragen, wie wir leben wollen. Sein Appell: Schaut hin!