Der 26-jährige Niederländer lässt sich in Las Vegas vorzeitig krönen und erreicht ein neues Niveau. Dabei hatte sein Team Red Bull Racing überhaupt kein gutes Jahr.
Vor seinem Rivalen Lando Norris beim Grossen Preis von Las Vegas ins Ziel zu kommen, das würde reichen. Und genau das hat Max Verstappen im drittletzten Formel-1-Rennen des Jahres geschafft, das mit einem Doppelerfolg der Silberpfeile von George Russell und Lewis Hamilton endete. Der Niederländer wurde Fünfter, der Brite Sechster, damit ist der Titelverteidiger nicht mehr einzuholen. «O mein Gott, viermal», stammelte Verstappen in sein Helmmikrofon, «nach all dem, was wir in diesem Jahr durchgemacht haben.»
Mit jedem seiner Titel hat der Regent der Königsklasse ein neues Niveau erreicht, und das nicht nur rein numerisch. Dreifache Champions wie Niki Lauda oder Ayrton Senna hat er nun hinter sich gelassen, die Ebene von Alain Prost und Sebastian Vettel erklommen. Vor ihm liegen in der ewigen Bestenliste nur noch die Ausnahmefahrer wie Juan-Manuel Fangio, Lewis Hamilton und Michael Schumacher. Bei seiner Expedition an die Spitze der Formel 1 hat sich der Niederländer in jedem Jahr anders präsentiert: 2021 war er der wütende Weltmeister gewesen, 2022 der zufriedene, 2023 der überlegene, und in dieser Saison, in der rund um sein Team Red Bull Racing viel Chaos herrschte, präsentierte er sich zwiespältig: Mal durfte er der «good cop» sein, mal musste er den «bad cop» spielen.
Seine Paraderolle lautet: Einer gegen alle
Diese Mischung erwies sich als richtig. Verstappens vierter Gesamtsieg in Folge ist ausserordentlich wertvoll, denn er wurde nicht mit dem besten Auto errungen. Lewis Hamilton hatte Ähnliches 2008 geschafft, Michael Schumacher schon 1994 und Verstappen selbst vor drei Jahren. Solche Ausnahmeleistungen sprechen für eine besondere fahrerische und mentale Stärke. Tatsächlich blieb Verstappen, der seit Mai mit unterlegenem Material gegen den ersten Herausforderer Lando Norris gekämpft hat, erstaunlich gefasst.
Das fliesst auch in seine spontane Bilanz von Las Vegas ein: «Es war eine sehr herausfordernde Saison, auch für mich als Mensch und Person. Aber man muss ruhig bleiben.» Den Konstrukteurstitel darf Red Bull nach all den teaminternen personellen Querelen wohl abschreiben, aber auch ohne Hilfestellung seines Teamkollegen Sergio Pérez konnte Verstappen das Lenkrad wenigstens in der Einzelwertung herumreissen. Er tat es in seiner Paraderolle: Einer gegen alle. Mehr noch: Alle gegen ihn. So ist er zum Solitär der Formel 1 geworden.
Der 26-Jährige hat mit seiner Einstellung Wort gegenüber sich selbst gehalten. Nach seinem ersten, umstrittenen Titelgewinn auf der letzten Runde von Abu Dhabi hatte er gemutmasst, dass alles, was jetzt noch komme, nur noch ein Bonus sei. Dass er Anfang November im Regenrennen von Brasilien seinem erneut viel zu unbeständigen Widersacher Lando Norris und seinen Kritikern mit einer Triumphfahrt von Startplatz 16 zum Sieg Paroli bieten konnte, muss dieser Gelassenheit entsprungen sein. Denn seine Ausgangsposition schien hoffnungslos, nach zehn Rennen in Folge ohne Sieg.
Die Dramatik der Titelverteidigung passt zu diesem turbulenten Rennjahr, das von enormer Leistungsdichte und hoher Konkurrenzfähigkeit geprägt war. Max Verstappen hat stets die Nerven behalten. «Er macht einfach keine Fehler», stöhnte sein Gegner Norris. Gerade weil sich rund um ihn herum nicht die erwartete unbeschwerte Saison entwickelt hatte, musste der Niederländer selbst nah an der Perfektion sein. Talent ist das eine, aber erst eine eiserne Entschlossenheit formt Weltmeister. Auch wenn sein Auto öfter ins Rutschen geriet, brachte er es stets ans Limit.
Great moment between Lando and Max 🥹#F1 #LasVegasGP 🎥 @viaplay pic.twitter.com/W1eIxtrNgd
— Formula 1 (@F1) November 24, 2024
Das war der Hauptunterschied zu seinem Rivalen Lando Norris, den er mit aller Härte bezwungen hat, obwohl der McLaren in der zweiten Saisonhälfte weit überlegen war. Verstappen, der früh in der Saison seinen Vorsprung herausgefahren hatte, durfte sich einfach keinen grossen Fehler erlauben – und er hat auch keinen gemacht. Oft trat er ob seiner Härte im zugespitzten Titelkampf wie ein Geächteter auf. Es ist vermutlich seine Lieblingsrolle, in der er auf niemanden Rücksicht nehmen muss, nicht einmal auf sich selber. Auch darin lag sein Vorteil gegenüber Norris. Bernie Ecclestone, der ehemalige Zampano der Formel 1 und inzwischen 94 Jahre alt, sagt: «Ich habe alle Grossen erlebt, aber Max ist einer der Besten, die ich je gesehen habe.»
Max Verstappen ist zum Souverän gereift, auch wenn er sich zum Teil heftige Kämpfe mit dem Teamchef Christian Horner oder dem FIA-Präsidenten Mohammed Ben Sulayem lieferte. Politischer ist er dabei geworden, auch berechnender. Und er hat sich so selbst befreit, ist in einem rasenden Reifeprozess deutlich verantwortungsvoller geworden. Er, dessen ganz grosse fahrerische Stärke in der Intuition liegt, spürte, wie sich seine ganze verunsicherte Rennmannschaft an ihm aufrichtete. Er habe nochmals viele Lektionen lernen müssen in diesem Jahr, und er sei stolz, wie sein Team damit umgegangen sei: «Das ist ein sehr besonderer Titel in einer sehr besonderen Saison.»
Huuuuge celebrations at our garage. Utter chaos 😅#F1 || #LasVegasGP pic.twitter.com/45ywO0vnFw
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Ein familiär geprägtes Denken
In diesem Denken, vom familiären Aspekt geprägt, entspricht er ganz einem der wenigen Piloten, die er besonders verehrt. Zu den besten fünf Rennfahrern der Formel-1-Historie zählt er nicht sich selbst, wohl aber Schumacher, Senna, Fangio und Hamilton – alles Vertreter der alten Schule. Vor allem jedoch Fernando Alonso – die beiden stecken immer wieder die Köpfe im Fahrerlager zusammen. Am Spanier bewundert Verstappen dessen Leidenschaft, die auch mit 43 Jahren nicht nachlässt.
Er selbst steht ihm da wenig nach. Seit beinahe 900 Tagen führt Verstappen die WM-Wertung ununterbrochen an, damit ist ein zwei Jahrzehnte alter Rekord von Michael Schumacher gefallen. In den neun Jahren, seit er bei Red Bull Racing fährt, konnte er 62 Rennen gewinnen, ebenso viele wie Lewis Hamilton – und damit eins mehr als alle anderen Piloten in dieser Zeit zusammen. Man könnte ihn einen Serientäter nennen. Viermal in Folge Champion geworden zu sein, das hatten zuvor nur Schumacher, Hamilton und sein direkter Vorgänger Vettel geschafft.
Las Vegas. Grand Prix von Las Vegas (50 Runden à 6,199 km = 309,958 km): 1. George Russell (GBR), Mercedes, 1:22:05,969 Stunden ( km/h). 2. Lewis Hamilton (GBR), Mercedes, 7,313 Sekunden zurück. 3. Carlos Sainz (ESP), Ferrari, 11,906. 4. Charles Leclerc (MON), Ferrari, 14,283. 5. Max Verstappen (NED), Red Bull, 16,582. 6. Lando Norris (GBR), McLaren-Mercedes, 43,385. 7. Oscar Piastri (AUS), McLaren-Mercedes, 51,365. 8. Nico Hülkenberg (GER), Haas-Ferrari, 59,808. 9. Yuki Tsunoda (JPN), Visa-Red Bull, 1:02,808. 10. Sergio Pérez (MEX), Red Bull, 1:03,114. – 13. Zhou Guanyu (CHN), Sauber-Ferrari, 1:14,085. 18. Valtteri Bottas (FIN), Sauber-Ferrari. – Schnellste Runde: Lando Norris (49.) in 1:34,876 (227,779 km/h).
WM-Stand (22/24 plus Sprints in Schanghai, Miami, Spielberg, Austin und São Paulo): 1. Verstappen 403 (3)*. 2. Norris 340 (5)*. 3. Leclerc 319 (3)*. 4. Piastri 268. 5. Sainz 259 (1)*. 6. Russell 217 (2)*. 7. Hamilton 208 (2)*. 8. Pérez 152 (1)*. 9. Alonso 62 (1)*. 10. Hülkenberg 35. 11. Tsunoda 30. 12. Gasly 26. 13. Stroll 24. 14. Ocon 23. 15. Kevin Magnussen (DEN), Haas-Ferrari, 14. 16. Albon 12. 17. Daniel Ricciardo (AUS), Visa-Red Bull, 12. 18. Bearman 7. 19. Colapinto 5. 20. Lawson 4. – Teams: 1. McLaren-Mercedes 608 (5)*. 2. Ferrari 584 (4)*. 3. Red Bull 555 (4)*. 4. Mercedes 425 (4)*. – 10. Sauber-Ferrari 0. – * 1 Zusatzpunkt für die schnellste Runde in den Grands Prix (bei Klassierung in den ersten zehn). – Max Verstappen steht als Weltmeister fest. – Nächstes Rennen: Grand Prix von Katar am 1. Dezember auf dem Losail International Circuit.