Brienz ist der spektakulärste Fall, aber vielerorts in den Alpen droht Gestein herabzufallen oder ins Rutschen zu geraten. Unternehmen profitieren davon – der Markt für die Überwachung der Berge wächst.
Brienz ist evakuiert. Schutt vom Berghang oberhalb des Bündner Dorfes, so die Befürchtung der Fachleute, könnte die Ortschaft zerstören. Aber vielleicht stoppen die Gesteinsbrocken vor dem Dorf, vielleicht passiert auch gar nichts. Niemand weiss es genau.
Zwei Radaranlagen der Firma Geopraevent und viele weitere Messinstrumente helfen, den kritischen Hang zu überwachen. Das eine Radargerät ist ein Steinschlagradar – ein Dopplerradar, vom Prinzip her ähnlich den Geräten der Polizei zur Geschwindigkeitskontrolle. Es erkennt binnen Sekunden, wenn Gesteinsbrocken herunterpurzeln. Das andere Gerät, ein interferometrisches Radar, misst millimetergenau und auf der ganzen Fläche des Hangs, wie sich der Gesteinsschutt verschiebt.
Brienz steht zurzeit im Rampenlicht, ist aber kein Einzelfall. An vielen Orten in den Schweizer Alpen werden permanent instabile Hänge oder Felspartien mit Messinstrumenten überwacht, weil Steinschlag oder andere Gesteinsbewegungen drohen. Überall sind die Berge verkabelt, Tausende Kameras und andere Sensoren auf sie gerichtet.
In der Schweiz befassen sich mehrere Unternehmen mit dieser Überwachung. Mancherorts haben sie reaktionsschnelle Alarmsysteme aufgebaut, um Menschenleben oder Verkehrswege vor den in Bewegung geratenen Bergen zu schützen. Die Auftraggeber sind meist kantonale oder kommunale Behörden, das Bundesamt für Strassen (Astra), die SBB oder andere Eisenbahnunternehmen, Ingenieurbüros sowie Bergbahnen.
Bei zahlreichen komplexeren Überwachungen sei man auf spezialisierte Firmen angewiesen, erklärt Philippe Gsponer von der kantonalen Dienststelle Naturgefahren im Oberwallis. Solche Firmen übernähmen in der Regel Aufgaben, die Fachwissen und Technologien erforderten, welche über die eigenen Ressourcen hinausgingen. Zu diesen Firmen zählt auch Terradata, die ebenfalls mit diversen Messinstrumenten in Brienz präsent ist. «Verschiedene Player haben sich auf verschiedene Technologien spezialisiert», sagt der Vermessungsingenieur Mario Studer, einer der Geschäftsleiter von Terradata. Seine Firma konzentriere sich auf Warnsysteme, also die langfristige Überwachung, während Geopraevent auch Alarmsysteme installiere. Die Unterscheidung zwischen Warn- und Alarmsystemen ist für die Branche fundamental.
Messgeräte messen die Verschiebung von Bergbahnen
Ein typisches Beispiel für ein Warnsystem sei die Langzeitüberwachung von Bergbahnen auf Permafrostböden, sagt Studer. Mithilfe von Satelliten-Navigationssystemen messe Terradata millimetergenau, wie sich die Stationen und Masten von Bergbahnen verschöben. Studer: «Wir haben in der Schweiz rund fünfzig solcher Messstationen im Einsatz.»
Zum Beispiel ist eine Bergbahn oberhalb der Riederalp, auf der Moosfluh, durch den Rückzug des Aletschgletschers gefährdet. Weil sich der Boden verschiebt, überwacht Terradata die Bahn seit neun Jahren. Stündlich übermitteln die Messstationen ihre Daten per Mobilfunk an den Server. Dort werden die Verschiebungsgeschwindigkeiten der Bergbahnanlagen in drei Dimensionen berechnet. Bei einer Beschleunigung sendet der Server automatisch E-Mails und SMS an die Betreiber der Bergbahnen.
Auch der Untergrund wird überwacht. An manchen Orten vermisst Terradata Rutschungen mithilfe von Inklinometern, das sind Instrumente zur Neigungsbestimmung. Bei jeder Messung werden diese Sonden, einen halben Meter lang, in ein Bohrloch hinabgelassen. Winkelmessungen verraten, in welchen Tiefen sich das Gestein verschiebt.
Solch ein Gerät setzt die Firma zum Beispiel an der Baustelle des Riedbergtunnels bei Gampel im Oberwallis ein. Wie sich herausstellte, reichte eine Rutschung, welche auch an der Oberfläche überwacht wird, bis in eine Tiefe von 17 Metern. Mithilfe dieser Erkenntnis können Geologen ihre Modelle des Untergrunds anpassen und verlässlichere Aussagen treffen.
Der letzte Schrei im Bereich der Messtechnik sind autonome Drohnen, die in einem wetterfesten Kasten untergebracht sind. Bei guten Witterungsbedingungen starten sie selbsttätig und vermessen die Oberfläche. Auch die Verarbeitung der Aufnahmen läuft automatisiert ab. Die Bewilligung des Bundesamts für Zivilluftfahrt für solche Flüge fehle jedoch noch, sagt Studer. Deshalb könne diese Technologie leider noch nicht operativ eingesetzt werden. Bis anhin müssen Drohnenflüge zur Überwachung immer von Fachpersonen gesteuert werden.
Alarmsysteme müssen in Sekunden reagieren
Warnsysteme brauchen allerdings eine gewisse Zeit, bis die Messungen manuell erfasst und verarbeitet sind. «Man kann die Resultate nicht in Sekunden aufdatieren», erklärt Studer. Bei Alarmsystemen ist das völlig anders. Sie müssen binnen Sekunden ein Ereignis erkennen und einen Alarm auslösen können.
Ein gutes Beispiel dafür ist das eingangs erwähnte Steinschlagradar von Geopraevent. In gewissen Fällen kann es sinnvoll sein, das Radar mit anderen Geräten zu kombinieren. Im Bereich Gumpisch an der Axenstrasse am südlichen Teil des Vierwaldstättersees donnern immer wieder Gesteinsbrocken den Hang hinab. Dort habe man ein Steinschlagradar mit seismischen Sensoren kombiniert, berichtet Susanne Wahlen von Geopraevent.
Ein grosse Herausforderung bei Alarmsystemen sind Fehlalarme. Das Radargerät kann von Tieren genarrt werden. Bewegt sich da drüben ein Gesteinsblock oder nur ein Steinbock? Mit einem Radar sind solche Unterscheidungen binnen Sekunden sehr schwierig. Seismische Sensoren aber messen nur im ersten Fall ein Signal, das für Steinschlag typisch ist. Auf diese Weise kann das gekoppelte System innerhalb von zwei bis drei Sekunden entscheiden, ob Alarm ausgelöst werden muss.
Ein Alarm löst je nach Auftraggeber verschiedene Reaktionen aus. Bei Strassen werden Ampeln auf Rot geschaltet, oder es geht eine Schranke herunter. Bei Baustellen ertönen Sirenen, oder es werden automatische Nachrichten an Fachleute verschickt, die gegebenenfalls weitere Massnahmen ergreifen.
Schnell wird aus einer Langzeitüberwachung ein Ernstfall
In vielen Fällen ist ein Alarmsystem allerdings zu aufwendig und zu teuer. Aber auch eine Langzeitüberwachung führt manchmal zu plötzlichen Schutzmassnahmen. Wie schnell eine Situation kritisch werden kann, erzählt Mario Betschart. Für die Firma Innet hat er ein Überwachungsprojekt im Muotatal betreut.
Als Betschart im Sommer 2022 die Abteilung Naturgefahren im Amt für Wald und Natur des Kantons Schwyz besuchte, erkundigte er sich nach einem möglichen Testobjekt für eine neue Messtechnik mit einem Lasergerät. Am Ende des Muotatals sei ein Fels in Bewegung, hiess es in dem Amt. Man einigte sich auf einen Testbetrieb.
Betschart bereitete mit seinem Team die Messgeräte vor, und im Frühsommer 2023 war es dann so weit: Ein Helikopter hievte die Geräte auf den Berg. Die Innet-Mitarbeiter stellten einen Mast auf und befestigten Geräte daran – neben zwei Lasermessgeräten, die sie auf verschiedene Stellen am Fels richteten, waren es auch Instrumente zur Wetterbeobachtung.
Die Herausforderung bei der Lasermessung von Innet: Wenn die Laserstrahlen vom nackten Fels zurückgeworfen werden, werden sie stark gestreut. Das macht die Interpretation der Messdaten relativ aufwendig. Fehlerhafte Daten müssen vom Computer aussortiert werden. Beide Geräte massen alle zehn Minuten die Distanz zum rund 18 Meter entfernten Fels und übermittelten die Daten.
Betschart hatte angenommen, dass die Testmessungen ungefähr ein Jahr lang laufen würden, aber er hatte sich getäuscht. Es ging zwar zunächst nur um Bewegungen im Millimeterbereich. Doch wenige Tage mit Messungen genügten, um festzustellen, dass sich das Felspaket beschleunigte.
Schon eine Woche nach Messbeginn rief Betschart bei dem Amt in Schwyz an und erklärte, dass sie starke Bewegungen erfasst hätten. Es werde womöglich nicht mehr lange dauern, bis der Fels abbrechen werde.
Dann ging alles sehr rasch. Das Datenportal des Projekts wurde für den Fachexperten des Kantons freigegeben, der Testfall wurde zum Ernstfall. Man prüfte, ob das Gelände unterhalb des Felsen tatsächlich geräumt war. Wenige Wochen später kam der Fels, gefilmt von mehreren Wanderern, herunter. Ein Wanderweg und eine Alpweide wurden verschüttet.
Die Aufzeichnung der Messungen zeigte: In den letzten zwölf Stunden vor dem Fall hatte sich der Fels um knapp zwei Meter bewegt.
Bei dem wackligen Gestein im Muotatal waren die Risiken für Menschen und Verkehrswege sehr gering. Darum stand wenig Geld zur Verfügung, die Technik musste entsprechend günstig sein. Insofern war es ideal, dass es sich zunächst um einen Gerätetest handelte. Die verwendeten Lasergeräte sind nur so gross wie eine Kaffeetasse, sie werden mit einer Batterie betrieben. So ein Gerät sei viel günstiger als ein Radargerät, sagt Betschart. Das Teuerste an dem ganzen Projekt sei der Helikopterflug gewesen.
Kleinere Firmen wie Innet finden in solchen Projekten eine Nische. Nicht überall ist ein komplexes System aus teuren Messgeräten, wie es zum Beispiel Geopraevent oft betreut, vom Auftraggeber gewünscht und finanzierbar.
Es gibt mehr Aufträge, nicht nur wegen des Klimawandels
Überwachungsaufträge wie jene für Geopraevent, Terradata und Innet nehmen zu. Eine von mehreren Ursachen ist der Klimawandel. Dabei gehe es nicht nur um den tauenden Permafrost im Hochgebirge, sagt Studer von Terradata. Ausserdem werde Starkregen häufiger.
Das Risikobewusstsein sei gewachsen, und die Messtechnologien würden immer mehr miniaturisiert, erläutert Studer. «Diese Faktoren verstärken sich gegenseitig. Das wird in diese Richtung noch weitergehen.» Die Erwartungshaltung der Menschen nehme auch zu, sagt Mario Betschart von Innet. Im Moment könne die Schweiz es sich leisten, einen hohen Sicherheitsstandard zu garantieren. Das sei eine Chance für die Messtechnik und die Überwachung. Aber man müsse das kombinieren mit Alarmsystemen. Und man müsse die Bevölkerung sensibilisieren.
Selbst wenn ein Dorf wie Brienz womöglich aufgegeben werden muss – die Aufträge zur hochtechnisierten Überwachung der Berge werden den Firmen so bald nicht ausgehen.
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