Lukas Engelberger ist erleichtert, dass die grosse Gesundheitsreform eine Mehrheit gefunden hat. Der höchste Gesundheitsdirektor erklärt, warum die Kantone bereit sind, mehr zu zahlen – und warum man Patienten nach einer Vollnarkose nicht nach Hause schicken sollte.
Herr Engelberger, wie gross ist Ihre Erleichterung über dieses Ja zur einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (Efas)?
Sie ist gross. Wir haben damit unter Beweis stellen können, dass Reformen in der Gesundheitspolitik Mehrheiten finden können, wenn sie breit genug abgestützt sind. Jetzt können wir wichtige Entwicklungen vorantreiben: die Ambulantisierung der Medizin und eine Stärkung der integrierten Versorgung.
Sie haben es angedeutet: Fast alle Akteure des Gesundheitswesens haben sich für Efas ausgesprochen, ebenso die meisten Parteien und die Kantone. Warum haben dennoch mehr als 40 Prozent der Stimmbürger die Vorlage abgelehnt?
Efas ist ein grosses Paket, damit werden Milliarden von Franken neu verteilt. Da sind die Leute vorsichtig. In manchen Kantonen, gerade in der Romandie, haben die Gewerkschaften einen grossen Einfluss. Die Leute vertrauen ihnen offenbar, wenn sie die Zahlen des Bundes infrage stellen und dies für ihre Nein-Kampagne nutzten.
Dieser Zahlenstreit stand im Zentrum des Abstimmungskampfes. Die Gewerkschaften behaupteten, dass der Einbezug der Langzeitpflege in die Reform zu einem starken Anstieg der Prämien führt.
Wer so etwas sagt, verdreht die mathematische Logik. Die ambulanten Behandlungen kosten insgesamt viermal mehr als die Langzeitpflege. Selbst wenn die Ausgaben in den Pflegeheimen und in der Spitex stark ansteigen, macht das also kaum die Umlagerungseffekte im viel grösseren ambulanten Kostenblock zunichte.
Das bedeutet, dass die Kantone zumindest finanziell Verlierer der Reform sind, weil künftig ein grösserer Teil der Gesundheitskosten über Steuern finanziert wird. Haben Sie ein Eigentor geschossen?
Nein. Das ist ein bewusster politischer Entscheid: Wir sind bereit, summa summarum einen grösseren Anteil des Gesundheitswesens mit Mitteln der öffentlichen Hand zu finanzieren. Es bringt auch nichts, Prämien- gegen Steuerzahler auszuspielen. Alle sind Einwohner unserer Kantone, und diesen wollen wir das bestmögliche Gesundheitswesen zur Verfügung stellen.
Sollten trotz allem die Prämien wegen Efas stark steigen: Würden die Kantone dann Hand bieten für eine neue Aufteilung der Kosten?
Im Gesetz steht nun, dass die Versicherer 73,1 Prozent aller Gesundheitsleistungen finanzieren, die Kantone im Minimum 26,9 Prozent. Ich sehe in den nächsten Jahren keinen Spielraum, diese Verhältnisse schweizweit zu ändern. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass einzelne Kantone einen grösseren Anteil übernehmen, sollte sich zeigen, dass dort die Umstellung auf die einheitliche Finanzierung tatsächlich die Prämienzahler übermässig belastet. Schon heute gibt es Beispiele dafür, dass die Kantone im stationären Bereich mehr bezahlen als die mindestens 55 Prozent, die vom Gesetz vorgesehen sind. In Basel-Stadt sind es 56 Prozent, in Zug sogar 99 Prozent.
Wer hat am Sonntag letztlich mehr Macht bekommen: die Krankenkassen, wie die Gewerkschaften behaupten – oder doch die Kantone?
Es gibt insgesamt keine Machtverschiebung zugunsten der Versicherer. Ihre Rolle wird zwar beim Abrechnen der Leistungen etwas gestärkt. Aber im Gegenzug bekommen die Kantone mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Wir werden vollberechtigte Mitglieder bei der Aushandlung ambulanter Vergütungen, also für Arztpraxen und Spitalambulatorien. Und wir kriegen Zugang zu den Daten dieser Behandlungen. Wenn wir einen besseren Einblick in das Versorgungsgeschehen haben, können wir auch besser und kräftiger steuern als heute.
Was bedeutet das konkret?
Das ist noch zu diskutieren. Aber es könnte in eine ähnliche Richtung gehen wie bei den Spitallisten, mit denen wir den Zugang zur Grundversicherung regeln und die gut funktionieren. Einzelne Kantone haben für die Kosten im stationären Bereich ein Globalbudget oder geben eine Menge an Eingriffen vor, die nicht überschritten werden sollte. Ähnliche Instrumente sind auch für die ambulante Chirurgie denkbar. Wenn wir als Kantone diese Behandlungen künftig mitfinanzieren, haben wir auch eine stärkere Legitimität, den Bereich zu regulieren, zusammen mit den Versicherern.
In manchen Regionen gibt es eine Überversorgung mit Spezialisten, das führt zu Mengenausweitung und höheren Kosten. Bedeutet eine «kräftigere» Steuerung auch, dass die Gesundheitsdirektoren die Schliessung von Praxen verfügen oder diese von der Finanzierung durch die Grundversicherung ausschliessen könnten?
Vielleicht. Die Wirkung der Zulassungssteuerung bei frei praktizierenden Ärzten ist bis jetzt eher limitiert, weil sie nur dann greift, wenn jemand einen Antrag für die Eröffnung einer neuen Praxis stellt.
Efas ist nur ein erster Schritt in Richtung einer stärkeren Ambulantisierung. Was muss sonst noch passieren?
Bund und Kantone haben bereits jetzt Listen von Eingriffen, die nur unter bestimmten Umständen stationär gemacht werden dürfen. Luzern hat diese Liste kürzlich ausgeweitet, ich kann mir vorstellen, dass andere Kantone das auch tun werden. Eine zentrale Rolle werden aber auch die Patienten selbst spielen: Sie dürften künftig vermehrt auf eine ambulante Behandlung pochen, die günstiger ist – auch weil die Krankenkassen nun ein Interesse haben, dies ihren Kunden zu empfehlen.
Führt Efas zu einem Aussterben der Spitäler, die in den letzten Jahren zu stark in stationäre Strukturen investiert haben?
Der Druck wird natürlich grösser. Vor allem dann, wenn ein Spital mehr stationäre Operationen gemacht hat, als medizinisch notwendig gewesen wäre – dies möchte ich aber keinem Spital unterstellen.
Werden die Kantone weiterhin marode Spitäler retten, die nach einer Markt- und Effizienzlogik keine Existenzberechtigung mehr hätten – und damit die Gesundschrumpfung der Spitallandschaft verhindern?
Wir agieren in der Gesundheitspolitik eben nicht mit einem reinen Marktdenken. Die Kantone haben auch eine Versorgungsverantwortung. Wie die Pandemie gezeigt hat, brauchen wir Reservekapazitäten, die der Markt nicht hergeben würde. Und man darf auch nicht vergessen, dass es bei der Ambulantisierung Grenzen gibt. Gerade bei der steigenden Anzahl betagter Patienten, die an verschiedenen Krankheiten leiden, ergibt es Sinn, dass sie nach einem Eingriff für ein paar Nächte im Spital bleiben.
Dennoch gibt es noch viel Potenzial, wenn man sieht, dass in Nordamerika 80 Prozent der Eingriffe ambulant erfolgen, in der Schweiz aber erst 20 Prozent.
Ich denke nicht, dass wir Werte wie in Nordamerika erreichen werden. Dafür müsste man vermutlich Sicherheitseinbussen in Kauf nehmen und beispielsweise Patienten kurz nach einer Vollnarkose nach Hause schicken. Das könnte erhebliche Risiken mit sich bringen und entspricht nicht unseren Vorstellungen von medizinischer Qualität.