Chicago gilt als eine der gefährlichsten Städte der USA. Zwar sinkt die Kriminalität seit einigen Jahren, aber die Bewohner leben permanent in Anspannung. Eine Zusammenstellung von typischen Verbrechen, die sich innerhalb einer Woche zutragen.
Wie überall in den USA ist die Kriminalität auch in Chicago ein grosses Thema. In den Alltagsgesprächen mit Nachbarn nehmen Verbrechen, die gerade wieder in der Umgebung passiert sind, einen wichtigen Platz ein. Oft lautet der Tenor, es sei noch nie so schlimm gewesen wie jetzt. Zwar ist die Anzahl der Morde in Chicago im Vergleich mit dem restlichen Amerika hoch, aber seit dem Rekordjahr 2021 sinkt sie kontinuierlich. Unverändert hoch ist hingegen die allgemeine Verbrechensrate, wobei vor allem Raubüberfälle und Carjacking häufig sind. Die Angst vor solcher Gewalt ist verbreitet.
Panik, wenn sich ein schwarzer SUV nähert
Seltsamerweise sind die Täter oft in schwarzen SUV unterwegs. Am 12. September beispielsweise wollte ein junger Mann nachts um 1 Uhr 30 seine 56-jährige Mutter zur Arbeit fahren, als ein solcher Wagen hinter ihnen anhielt. Zwei Bewaffnete stiegen aus und forderten sie auf, ihr Geld herauszurücken. Dann zwangen die Gangster die beiden ins Haus zurück und verlangten weitere Wertsachen von ihnen.
Der Bruder der Frau wurde durch die Geräusche aufgeweckt und schoss auf die Täter. Die feuerten zurück und entkamen. Eine Viertelstunde später wiederholte sich in der Nachbarschaft dasselbe Szenario. Das Opfer war dieses Mal ein 17-Jähriger, der ebenfalls gerade losfahren wollte. Einer der mutmasslichen Gangster wurde gefasst.
Die Überfälle trugen sich im Südwesten Chicagos zu, einem berüchtigten Stadtteil. Inzwischen gibt es jedoch kaum mehr ein Viertel, das frei von solchen Vorkommnissen ist. Am 24. August ereignete sich im Loop, also im Zentrum der Stadt, ein ähnlicher Fall. Ein junger Mann war nachts um 2 Uhr auf dem Weg zu seinem Hotel, als ein schwarzer Range Rover neben ihm anhielt. Zwei bewaffnete Männer stiegen aus und zwangen ihn, sein Portemonnaie herauszurücken. Dann überfielen sie ein Paar auf der anderen Strassenseite. Die Polizei konnte den SUV später dank einem der gestohlenen Handys lokalisieren. Das Nummernschild war gestohlen.
Inzwischen gibt es immer mehr Leute in Chicago, die zwei Portemonnaies auf sich tragen. Dasjenige, das sie bei einem Überfall herausrücken, enthält lediglich wenig Bargeld und ein paar abgelaufene Bankkarten. Dieser Trick ist den Räubern allerdings nicht entgangen, weshalb sie die Opfer zunehmend zwingen, mit ihnen zum nächsten Bankautomaten zu gehen und dort Geld abzuheben.
Gang-Gewalt trifft oft Unschuldige
Oft versuchen die Gangster auch das Auto selbst zu stehlen. Die Carjacking-Täter müssen allerdings damit rechnen, dass die Überfallenen ebenfalls bewaffnet sind.
So geschehen in den frühen Morgenstunden des 25. Oktober, als vier Gangster einem Mann, der in seinem stehenden Wagen am Steuer sass, Pfefferspray ins Gesicht sprühten. Er stieg tatsächlich wie befohlen aus, allerdings mit einer Waffe, und schoss einem der Täter, einem 16-Jährigen, ins Knie. Die andern drei stiegen trotzdem in seinen Toyota und entkamen.
Ein grosses Problem ist immer noch Gang-Gewalt. Während es früher in erster Linie um Rivalitäten und Abrechnungen zwischen den Gangs ging, kommen heute zunehmend Unbeteiligte zu Schaden, oft Kinder. Das liegt auch an der Verbreitung der Waffen. Meldungen wie diese aus der «Chicago Tribune» vom 30. Oktober sind alltäglich: «Ein 14-jähriges Mädchen wurde am Dienstagabend bei einer Schiesserei in der Roseland-Nachbarschaft verletzt. Sie erlitt eine Schussverletzung am linken Bein. Die Polizei ermittelt.» Allerdings wird nur die Hälfte aller gewaltsamen Todesfälle in Chicago aufgeklärt, auch weil die Betroffenen aus Angst vor den Gangs oft schweigen.
Viele Bewohner, vor allem in den berüchtigten Vierteln im Süden und im Westen der Stadt, nehmen selbst für kürzeste Distanzen das Auto oder ein Taxi. In den öffentlichen Verkehrsmitteln trifft man oft auf Leute mit psychischen Störungen, die sich aggressiv verhalten. Weil sich so viele Stadtbewohner bedroht fühlen, gerade auch, wenn sie nachts unterwegs sind, erfreut sich «Citizen» grosser Beliebtheit.
Es handelt sich um eine mobile App mit standortbezogenen Sicherheitswarnungen, die vor sieben Jahren lanciert wurde und Millionen Abonnenten hat. Sie informiert den Benutzer in Echtzeit über Verbrechen und verdächtige Vorfälle in seiner Umgebung. Die Daten bezieht die App vor allem durch das Abhören des Polizeifunks, wobei die Benutzer auch selbst Videos und Kommentare beisteuern können. Sie ist insbesondere in den grossen amerikanischen Städten verbreitet.
Der Nachbar könnte ein Verbrecher sein
Am Vormittag des 30. Oktobers poppen im North-Center-Quartier zum Beispiel folgende Meldungen auf «Citizen» auf: Ein Mann stiehlt Schnaps in einem Geschäft von Walgreens, jemand zertrümmert die Türe eines Busses, ein Unbekannter verschafft sich unbefugt Zutritt zu einem Grundstück, ein Exhibitionist entblösst vor einer Frau seine Genitalien, ein Handy-Laden wird überfallen, eine nackte Frau taucht vor einer Haustüre auf, ein Autofahrer schiesst auf einen anderen. Einige der Vorfälle werden von Anwesenden gefilmt und live übertragen.
Es gibt auch eine «Offenders»-Rubrik. Hier kann man seine Wohngegend nach Straftätern absuchen. Im Falle von North Center sind es mehr als fünfzig, mitsamt der Adresse und den verübten Straftaten; es handelt sich vor allem um Sexualdelikte wie Missbrauch, Vergewaltigung und Kinderpornografie.
Die App steht in der Kritik, weil Privatsphäre und Persönlichkeitsschutz hier kaum gelten und Voyeurismus, Alarmismus und Denunziantentum geschürt werden. Eigentlich soll sie die Sicherheit erhöhen, verbreitet jedoch ein Gefühl von permanenter Bedrohung, wenn nicht Panik. Im Extremfall führt dies zum bekannten Phänomen, dass gleich die Polizei gerufen wird, wenn ein Unbekannter vor der Tür steht oder ein «Verdächtiger» durch das Quartier geht, wobei verdächtig auch einfach bedeuten kann, dass er schwarz ist oder eine Kapuze trägt.
Eine Entwicklung, die vielen Bewohnern von Chicago Sorge bereitet, sind die grossen, oft ausser Kontrolle geratenden Versammlungen von Jugendlichen. Die «Trends» genannten Treffen sind vor allem während der Sommerferien beliebt. Die Zusammenkünfte werden kurzfristig über soziale Netzwerke organisiert, oft auch mitten in der Innenstadt. Meist geht es einfach darum, sich in einem Park zu treffen und ein bisschen durch die Strassen zu streunen.
Aber im Schutz der Masse ist die Versuchung gross, Dinge zu tun, die man sich allein nicht getrauen würde: Passanten anpöbeln, Provokationen, Sachbeschädigung. Manchmal stürmen die jugendlichen Randalierer einen Laden, eine Hotellobby oder den Eingang eines Hochhauses, und angesichts der schieren Überzahl der Provokateure nimmt das Personal oder sogar der Türsteher, der eigentlich für die Sicherheit zuständig ist, Reissaus. Auch vor solchen Massenansammlungen warnt «Citizen».
Autofahrer, die sich beleidigt fühlen und zur Waffe greifen
Für permanenten Stress sorgt schliesslich die «roadrage», also die Gewalt im Strassenverkehr. Überholt man ein Auto, muss man damit rechnen, dass sich der Fahrer gekränkt fühlt und die Nerven verliert. Das kann tödlich werden. Denn täglich hört man von Lenkern, die eine Waffe zückten und auf einen Verkehrsteilnehmer schossen.
Ein typischer Fall trug sich Anfang September in Chicago zu. Der Lenker eines Kia wechselte auf die linke Fahrbahn, als sich in hohem Tempo ein anderes Auto von hinten näherte. Dessen Fahrer namens Ortiz musste abbremsen, folgte dem Kia und schoss schliesslich drei Mal auf den Lenker. Er verfehlte ihn, rief jedoch die Polizei und gab an, der andere Lenker habe versucht, ihn von der Strasse abzudrängen. Nach der Entdeckung der Waffe auf dem Beifahrersitz wurde Ortiz verhaftet. Oft kommen bei solchen Amokfahrten auch Kinder ums Leben.
Bemerkenswert bei all dieser Gewalt ist, dass die Republikaner, die ein entschiedenes Vorgehen gegen die Kriminalität fordern, in Chicago wenig Unterstützung finden. Es ist, wie die meisten Grossstädte, eine demokratische Hochburg. Zwar nimmt der Anteil der republikanischen Wähler seit einigen Jahren zu, aber bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen stimmten immer noch 77 Prozent für Kamala Harris.
Auch die Tendenz, Migranten für die Verbrechen verantwortlich zu machen, existiert hier kaum. Die Stadt versteht sich als «sanctuary city», also als sicherer Hafen für papierlose Migranten, und ist stolz auf ihre ethnische Vielfalt. Zwar ist die hohe Kriminalitätsrate bei den Bürgermeisterwahlen jeweils ein zentrales Thema, aber beim letzten Mal gewann der eher polizeikritische Brandon Johnson gegen einen Law-and-Order-Rivalen. Manchmal hat man fast den Eindruck, dass die Chicagoer zwar unter den beständigen Risiken leiden, aber auch ein bisschen stolz darauf sind, besonders tough zu sein.