Die klassischen Fächer Deutsch, Französisch und Latein gehören zu den Verlierern der jüngsten Reform. Ein FDP-Politiker macht derweil einen Vorschlag, der für Zündstoff sorgen dürfte.
Zwölf neue Schwerpunktfächer, mehr Raum für interdisziplinären Unterricht, ein überarbeiteter Sockel an Grundlagenfächern, weniger Zeit für Sprachen, aber dafür werden Zürcher Gymnasien vom Bund dazu verknurrt, Französisch und Italienisch als zweite Landessprache flächendeckend anzubieten: Die Pläne einer Arbeitsgruppe des Zürcher Mittelschul- und Berufsbildungsamts (MBA) zur Neugestaltung der Gymnasien des Kantons werden noch zu reden geben.
Die geplanten Schwerpunkte stammen aus vier Bereichen:
- Kommunikation und Medien, Kultur der Mehrsprachigkeit der Schweiz, Spanischsprachige Welt, Antike und ihre Bedeutung für die Gegenwart
- Technologie, Prozesse in der Umwelt, Lebenswissenschaften und Gesundheit
- Nachhaltige Gesellschaft, Politik, Recht und Wirtschaft, Individuum und Gesellschaft
- Musik und Theater, Kunst und Design
Das Konzept dahinter befindet sich seit kurzem in einer sogenannten Feedback-Runde. Die eigentliche Vernehmlassung soll im kommenden Herbst starten. Spätestens ab dem Schuljahr 2029/2030 sollen die «neuen» Gymnasien dann ihren Betrieb aufnehmen.
Bis dahin wird es zwischen Schulleitungen, den Lehrerinnen und Lehrern und der Bildungsdirektion harte Diskussionen geben. Der vorliegende Entwurf ist zwar keine Revolution, aber er wird Einschnitte mit sich bringen – vor allem bei den Sprachen.
Der Tech-Standort, der Sprachen liebt
Zürich ist ein «Sprachenkanton»: Die meisten seiner Maturanden wählen ein sprachliches Profil für ihren Abschluss an der Mittelschule. 2023 waren dies 43 Prozent (39 Prozent in modernen, 4 Prozent in alten Sprachen). Die «Zukunftsthemen» Physik und Anwendungen der Mathematik (9 Prozent) oder Biologie und Chemie (13 Prozent) liegen da weit abgeschlagen.
Für Bildungsbürger, die Wert auf eine umfassende Schulbildung mit ausreichend Literatur und Zeit zum Nachdenken legen und sich der Tradition der (sprachlastigen) Langzeitgymnasien im Kanton Zürich verpflichtet fühlen, sind diese Präferenzen der hiesigen Maturanden kein Problem. Sprache ist Denken. Die Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken, ob auf Deutsch, Französisch, Italienisch oder Englisch.
Bildungspolitiker und Wirtschaftsvertreter hingegen, die vor allem das Wirtschafts-, Finanz- und Tech-Zentrum im Auge haben, das Zürich ebenfalls ist, können mit solch «schöngeistigen» Überzeugungen wenig anfangen: Der bevölkerungsreichste und wichtigste Kanton der Schweiz leistet sich Jahr für Jahr eine grosse Kohorte von Maturanden, die sich am Gymnasium am liebsten mit sprachlichen Fächern auseinandersetzen. Das sollte nicht sein. So drohe Zürich den Anschluss zu verlieren.
Diese Stimmen dürfen sich nun bestärkt fühlen, zumindest ein bisschen: Denn laut den Plänen des MBA gehören Deutsch, die beiden Landessprachen Französisch und Italienisch sowie Latein zu den Verlierern der anstehenden Reform. Je nach Variante (es stehen vier verschiedene Modelle zur Debatte) müssen die sprachlichen Fächer damit rechnen, in den letzten vier Jahren vor der Matur insgesamt zwischen 5 und 9 Lektionen abgeben zu müssen. Sie würden somit gleich viel Gewicht erhalten wie der Fachbereich Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften.
Ariane Lüthi, Französischlehrerin am Literargymnasium Rämibühl und Vorstandsmitglied im Zürcher Verband der Mittelschullehrer, sagt: «Das ist ein massiver Abbau, auch wenn Sprachen im Kanton Zürich bisher gut dotiert waren.»
Die Tatsache, dass Italienisch wie vom Bund verlangt künftig an «allen» Zürcher Gymnasien als zweite Landessprache angeboten werden muss, ist für die Anhänger eines guten Sprachunterrichts ein schwacher Trost. Hier werden Partikularinteressen bedient, für die sich nur wenige Zürcher Gymnasiasten begeistern können: Italienisch als zweite Landessprache wählten 2023 lediglich 5 Prozent der Maturandinnen und Maturanden. Trotzdem soll das Fach künftig «überall» im Kanton angeboten werden – eine absurde Situation.
Immerhin, der Kanton hat sich einen Kompromiss ausgedacht, um der Vorgabe aus Bern und der kleinen Nachfrage in Zürich gleichermassen gerecht zu werden: Gymnasien sollen kooperieren und Italienisch an gemeinsamen Standorten anbieten können.
Latein kommt mit einem blauen Auge davon
Für Verwirrung in den vergangenen Tagen hat auch der künftige Status von Latein gesorgt. Die Sprache Ciceros wird man ab der dritten Klasse des Langzeitgymnasiums nicht mehr als dritte Sprache wählen können. Stattdessen werden im Szenario der Arbeitsgruppe des MBA künftig alle Zürcher Gymnasiasten Englisch belegen müssen. Altgriechisch soll nur noch als Ergänzungsfach zur Wahl stehen, also frühestens im zweitletzten Jahr vor der Matur. Latein ist kein Grundlagenfach mehr.
«O tempora, o mores!», ist man versucht auszurufen.
Aber so schlimm ist es nicht. In den ersten beiden Klassen des Langzeitgymnasiums werden sich Zürcher Gymnasiastinnen und Gymnasiasten auch nach 2029 mit lateinischen Vokabeln, Konjugationen und Deklinationen und komplizierten Fall-Konstruktionen vergnügen dürfen: Im Untergymnasium nach der Primarschule bleibt alles beim Alten. Und ab der dritten Klasse sollen sich Latein-Begeisterte für ein neues Schwerpunktfach entscheiden können: Antike und ihre Bedeutung für die Gegenwart.
Dieses Modul beginnt zwar wie die anderen geplanten Schwerpunkte erst in den letzten Semestern vor der Matur. Aber die hierfür notwendigen Lateinkenntnisse sollen die Schülerinnen und Schüler durchgehend aufbauen können, wie das Mittelschul- und Berufsbildungsamt am Dienstag auf Anfrage bestätigt.
Mehrsprachige Schweiz, anyone?
Das gleiche Prinzip ab der dritten Klasse beziehungsweise der ersten im Kurzzeitgymnasium gilt für die beiden Schwerpunkte «Spanischsprachige Welt» und «Kultur der Mehrsprachigkeit der Schweiz», die ab 2029 ebenfalls zur Wahl stehen sollen. Für das eine Fach lernen die Mittelschüler Spanisch, für das andere Italienisch oder Französisch. Wer Französisch bereits als Grundlagenfach belegt hat, wählt Italienisch und umgekehrt. Geschichte und Geografie sollen als sogenannte Astfächer ebenfalls zu diesem interdisziplinären Modul beitragen.
Es ist eine schöne Idee. Der Schwerpunkt soll künftigen Maturanden «ein fundiertes Verständnis der sprachlichen und kulturellen Vielfalt der Schweiz» vermitteln und dabei auch die «historisch-politischen Dimensionen der Mehrsprachigkeit» ausloten, wie es im Kurzbeschrieb des MBA heisst. Mehrsprachigkeit kommt immer gut. Multilinguisme gehört schliesslich zur DNA der Schweiz. Das sollte die besten Schülerinnen und Schüler des Kantons doch interessieren!
Allein, Zweifel sind angebracht, gerade bei diesem Schwerpunkt. Wie beschrieben, ist Italienisch im Kanton Zürich ein Nischenfach. Das dürfte sich bis 2029 kaum ändern, sosehr man sich das aus staatspolitischen Überlegungen vielleicht wünschen würde. Ariane Lüthi ist denn auch skeptisch, ob sich genug Schüler für dieses Schwerpunktfach in der vorgeschlagenen Form entscheiden würden.
Feststeht für die Französischlehrerin hingegen Folgendes: «Mein Fach und die anderen Fremdsprachen müssen zurückstecken. Interdisziplinarität scheint den Entscheidungsträgern wichtiger zu sein als Sprachvertiefung.»
Das alte Problem bei Schulreformen zeigt sich auch hier: Die Zahl der Lektionen ist begrenzt. Will man etwas verändern, ohne die Schüler zusätzlich zu belasten, müssen Schulstunden verschoben werden. Die einen Fächer gewinnen etwas, die anderen verlieren ein bisschen. Der Wahlpflichtbereich mit den neuen Schwerpunktfächern soll gestärkt werden, dies unter anderem auf Kosten des monothematischen (Fremd-)Sprachunterrichts.
«Eine Fremdsprache genügt»
Marc Bourgeois indes findet es richtig, dass Zürcher Gymnasien weiterhin auf Wissensvermittlung setzen und ihren Einzelfächern Sorge tragen sollen. «Interdisziplinär ist gut, solange es überschaubar bleibt», sagt der FDP-Kantonsrat und Bildungspolitiker. «Und das ist bei den geplanten Schwerpunkten der Fall.»
Die Grundlagenfächer Deutsch, Französisch/Italienisch, Englisch, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geografie, Geschichte, Informatik, Wirtschaft und Recht sowie Bildnerisches Gestalten oder Musik werden weiterhin rund 80 Prozent der Schulstunden der Zürcher Gymnasiasten ausmachen. Die neuen Schwerpunktfächer kann man als Zusatz verstehen, in welchem Maturanden interdisziplinäres Arbeiten und vernetztes Denken üben sollen – etwa so, wie es später auch an Hochschulen von ihnen verlangt sein wird.
Aber bei den Sprachen droht weiteres Ungemach, und zwar auf der Stufe vor dem Langzeitgymnasium. Bourgeois sagt: «Wir sollten ehrlich sein. Eine Fremdsprache in der Primarschule genügt.» Der Versuch mit Englisch und Französisch sei gescheitert. Für den FDP-Politiker ist klar, auf welche Fremdsprache Zürcher Primarschüler künftig fokussieren sollten: Englisch. Bürgerliche Parteien arbeiten bereits an einem entsprechenden Vorstoss.
Es wäre der nächste Nackenschlag pour le français. Lüthi und ihre Kolleginnen müssten ganz von vorne anfangen, zumindest im Langzeitgymnasium.