Nan Goldin hat sich für ihre Brandrede gegen Israel am vergangenen Samstag in Berlin von propalästinensischen Sympathisanten feiern lassen. Das ist an politischer Naivität nicht zu übertreffen.
Juden als nützliche Idioten von Judenfeinden? Es gab sie schon immer in der jüdischen Geschichte. Die moderne Variante des jüdischen Selbsthasses ist seit 1897, als die zionistische Bewegung gegründet wurde, der jüdische Zionismushass. Seit der Staatsgründung 1948 ist es der jüdische Israel-Hass.
Das jüngste Beispiel: Die jüdische Künstlerin Nan Goldin hetzt gegen Juden und den jüdischen Staat. Wann? Vorige Woche, also wenige Tage nach dem 9. November, nachdem einmal mehr des Holocaust-Beginns gedacht worden war, des Pogroms der «Reichskristallnacht». Wo geschehen? In der Neuen Nationalgalerie in Berlin, also nicht weit entfernt vom Holocaust-Mahnmal, wo einst Hitlers Neue Reichskanzlei stand, das eigentliche Zentrum des nationalsozialistischen Holocaust- und Kriegsapparates. Die Vernissage als antijüdisches Happening. Inszeniert und zelebriert unter der Regie einer Jüdin. Besonders «inklusiv» also.
Die jüdische Weltgeschichte lehrt: Bisher haben Judenfeinde nach Erreichen ihres Zieles alle Juden gleich behandelt – meistens liquidierend, selten nur diskriminierend. Auch in Auschwitz waren alle Juden gleich. Am Ende auch die jüdischen Kapos.
Sympathien für Terroristen
Verständlich ist: Koalitionen, Institutionen oder Personen in Israel können wahrlich nicht allen gefallen. Unverständlich bleibt, sowohl ethisch als auch politisch, dass aus der Israel-Gegnerschaft millionenfach und besonders im Milieu von sogenannter Kultur und Wissenschaft eine Terror-Sympathie wird, also die Unterstützung für die Hamas und den Hizbullah sowie den Iran der Mullahs. Alle drei sind nicht nur nach aussen militant, sie unterdrücken seit Jahrzehnten ihr eigenes Zivil. Von Terroraktionen im Ausland, nicht allein gegen Israeli und andere Juden, ganz zu schweigen. Trotzdem solidarisieren sich sogenannte Moralisten mit jenen Mördern. «Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.»
Auch dieses Phänomen ist nicht neu in der jüdischen Geschichte: Im 19. Jahrhundert versuchten viele Juden ihrer Herkunft durch Taufe zu entfliehen. Die Taufe war damals das «Entréebillet in die europäische Kultur». So sarkastisch und zugleich realistisch beschrieb Heinrich Heine zwei Jahre vor seiner eigenen Taufe die jüdisch-religionsgesetzlich (halachisch) unmögliche Konversion von Juden. Nachträglich wissen wir: Dieser Fluchtversuch war vergeblich. Für die Judenfeinde blieben sie Juden. Einmal Jude, immer Jude. Erst recht, wenn das Judentum, wie dann von den Nationalsozialisten, «rassisch» begründet wurde.
Was damals die Taufe, sind heute jüdischer Israel- und Judenhass. Beide sind heute die Eintrittskarte für die globale Kultur-, Wissenschafts- und Medienwelt. Zum Lösen der Eintrittskarte gehört heute bei den Alibi-Juden wie bei den nichtjüdischen Juden- und Israel-Hassern dieses Vokabular: Israel verübe einen «Völkermord» an den Palästinensern, sei ein «Apartheidstaat» und «faschistisch», «wie die Nazis». Und Diasporajuden, die sich mit Israel identifizieren – wohlgemerkt mit der Existenz des jüdischen Staates, nicht mit bestimmten Koalitionen, Personen oder Institutionen –, wird vorgeworfen, sie würden den «Judenkomplex» der Nichtjuden, besonders der Deutschen, instrumentalisieren.
Wer sich als Nichtjude dieses Vokabulars bedient, gerät in den berechtigten Verdacht, Antisemit zu sein. Als Entlastungszeugen bzw. Alibi sind daher besonders jüdische Juden- und Israel-Hasser begehrt. Was der Rabbi in der jüdischen Welt, ist der Alibi-Jude in der Welt der Juden- und Israel-Hasser: Er verfügt über den Koscher-Stempel. Jüdische Juden- und Israel-Hasser schiessen mit koscheren Kanonen.
Nichtjüdische und jüdische Juden- und Israel-Hasser brauchen einander. Keiner kann ohne den anderen. Es ist eine Symbiose zwischen Menschen. Das Muster ist seit Jahren bekannt. Schon lange vor dem Gaza-Krieg und trotzdem anscheinend immer wieder neu.
Heuchelorgie in Berlin
Wer, wie jüngst die Verantwortlichen der Neuen Nationalgalerie Berlin, Alibi-Juden wie Nan Goldin einlädt, weiss natürlich, was sie sagen und dass deshalb bestenfalls Unruhe, meist jedoch Aufruhr folgt. Aber, nein, man gibt sich vollkommen überrascht und in der guten, aufklärerischen Absicht missverstanden. Die für den vorhersehbaren Eklat in Berlin Verantwortlichen beherrschten die Schau noch besser als die meisten ihrer Kollegen. Sie empörten sich über Nan Goldin und ihre Hamas-Hizbullah-Iran-Sympathisanten und verteidigten das Existenzrecht Israels. Sie präsentierten sich als beifallheischende Schein-Helden und -Vorbilder von Zivilcourage. Eine Heuchelorgie. Gekonnt. Wir dürfen gespannt sein, wer diese Meister der Scheinheiligkeit wann und wo übertreffen wird.
Streit über und Kritik an Koalitionen, Personen und Institutionen Israels ist notwendig und legitim. Kein Jude oder Nichtjude muss Israel lieben. Aber Israel und gar alle Juden existenziell hassen? Gepaart mit geradezu fanatischer Sympathie für Terroristen und gemeine Mörder der Hamas, des Hizbullah und des iranischen Mullah-Regimes? Ebenfalls streiten kann man über die Kriegsführung Israels. Aber man soll nur ja nicht darüber sprechen, dass das Leid der Palästinenser längst vorbei wäre, hätte die Hamas die Geiseln freigelassen.
Den libanesischen Zivilisten wäre viel Leid erspart geblieben, hätte der Hizbullah nicht am 8. Oktober 2023 seinerseits den Krieg gegen Israel begonnen. Offenbar haben im Westen weite Teile der vermeintlichen Eliten von Politik, Kultur, Wissenschaft und Medien jenseits des Nichtwissens auch den moralischen Kompass verloren – und selbstverschuldet ihr Ansehen. Die Folgen sind absehbar: Die Bevölkerungsmehrheit ausserhalb jener Blasen wird die Politik darin bestärken, noch mehr als bisher die finanziellen Hilfen für Kultur, Humanwissenschaften und öffentlichrechtliche Medien zu kürzen.
Michael Wolffsohn ist Historiker und Publizist. Zuletzt erschienen seine Bücher «Eine andere Jüdische Weltgeschichte» und «Wem gehört das Heilige Land?».