Wie eine Demenz entsteht, ist noch unklar. Doch es gibt Risikofaktoren dafür, etwa eine unbehandelte Depression oder ein ungesunder Lebensstil. Was jeder Einzelne tun kann und wie viel das tatsächlich bringt, lesen Sie in der zweiten Episode unserer Serie.
«Eine Demenz lässt sich verhindern», haben Wissenschafter kürzlich im Fachjournal «Lancet» geschrieben und nennen 14 Risiken, die es zu vermeiden gelte. Knapp die Hälfte der Erkrankungen könne man so abwenden.
Die Liste liest sich wie die Anleitung eines Apothekenmagazins zum gesunden Altern: Treiben Sie Sport, organisieren Sie sich rechtzeitig ein Hörgerät, und halten Sie Blutdruck und Cholesterinwerte in Schach. Behandeln Sie eine Depression fachgerecht, und setzen Sie auf lebenslanges Lernen. Lässt sich die Krankheit, die jeder fürchtet, wirklich so leicht umgehen? Und warum sind Schlafmangel und ungesunde Ernährung keine Risikofaktoren?
So viel vorab: Wer denkt, dass er mit einem gesunden Lebensstil sein eigenes Demenzrisiko um die Hälfte reduziert, der irrt. Möglichst viele der Ratschläge der Experten zu befolgen, kann sich trotzdem lohnen.
Die Crux mit der langsamen Entstehung der Demenz
Was gegen Ende eines Lebens im Gehirn geschieht, spiegelt die gesamten Erfahrungen eines Menschen. Die Lernmöglichkeiten in der Kindheit spielen dabei genauso eine Rolle wie Erkrankungen im Erwachsenenalter. Und schliesslich haben auch die Gene einen Einfluss.
Die Crux bei der Erforschung der Demenz liegt darin, dass sich mögliche Ursachen zum Zeitpunkt der Erkrankung kaum mehr entdecken lassen – sie können Jahrzehnte zurückliegen.
Klar hingegen ist die demografische Situation. Im Jahr 2050 werden voraussichtlich 153 Millionen ältere Menschen weltweit dement sein. In der Schweiz wird gemäss Schätzungen von Alzheimer Schweiz bei 6 von 100 Rentnern der Fall sein. Sie befinden sich heute in der Mitte ihres Lebens.
Angesichts dieser Entwicklung lohnt sich ein Blick auf die sogenannten epidemiologischen Daten, wie sie die Analyse im Fachjournal «Lancet» verwendet. Sie zeigen, was die Lebenssituation der Menschen auszeichnet, die später an Demenz erkranken. Sie bilden die Bevölkerung als Ganzes ab. Über das Risiko des einzelnen Menschen, später an einer Demenz zu erkranken, sagen sie indessen nichts aus.
Mechanismen im Gehirn sind noch unbekannt
«Um das individuelle Risiko einer Demenz zu beurteilen, müssten wir alle Faktoren, die zur Entstehung beitragen, kennen. So weit sind wir noch nicht», sagt der Neurologe Claudio Bassetti. Der Dekan der Medizinischen Fakultät Bern ist auch Vorsitzender des Swiss Brain Health Plan, der sich für die Förderung der Hirngesundheit und Vorbeugung von Hirnerkrankungen einsetzt.
Es sei möglich, dass die individuellen Risiken und wie sie das Gehirn bei einer Demenz verändern, erst in 30 Jahren besser verstanden werden, sagt er. Doch bis dahin könnten epidemiologische Daten immerhin zeigen, wo sich Prävention lohnen könnte.
Grosses Potenzial bei der Gesundheitsversorgung
Einigen Risiken wird in Ländern der westlichen Welt schon entgegengewirkt. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum dort Menschen immer später im Leben an einer Demenz erkranken.
Wer eine gute Gesundheitsversorgung hat, kann davon ausgehen, dass Diabetes, hohe Cholesterinwerte, Bluthochdruck oder Übergewicht medizinisch behandelt werden. Mittlerweile wissen die meisten Menschen auch, dass Rauchen und exzessives Alkoholtrinken der Gesundheit schaden können.
Und immer häufiger werden auch Depressionen – ein Risikofaktor, der statistisch gesehen für immerhin 3 Prozent der Demenzerkrankungen verantwortlich ist – von Fachpersonen behandelt.
Vor allem in Entwicklungsländern sieht die «Lancet»-Kommission bei der Gesundheitsversorgung von Erwachsenen zwischen 40 und 55 eine Möglichkeit, Demenzen vorzubeugen. Neben der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nennt die Kommission auch die mangelnde Korrektur von Hör- und Sehschwächen als Risikofaktor. Ein Grund dafür könnte sein, dass Menschen, die schlecht hören, nicht mehr richtig am sozialen Leben teilnehmen können.
Eine Demenz ist nicht selbstverschuldet
Doch auch in der westlichen Welt sehen die Autoren noch Verbesserungspotenzial. Hier nennen sie vor allem Risiken, die mit dem Lebensstil der Menschen zusammenhängen. Dazu gehören etwa Hirnerschütterungen. Häufige kleine Erschütterungen etwa beim American Football oder Boxen sollen für gut 3 Prozent der Demenzfälle verantwortlich sein.
Zu wenig Bewegung sowie wenige soziale Kontakte stellen auch ein Risiko für Demenz dar. Sie machen zusammen 10 Prozent der Erkrankungen aus – das ergeben die Statistiken.
Dass der Einfluss des Lebensstils mit derart konkreten Zahlen in Verbindung gebracht wird, birgt auch Probleme. Der Alterspsychiater Klaus Ebmaier von der University of Oxford etwa warnt davor, dass der Eindruck entstehen könnte, eine Demenz sei aufgrund des Lebensstils herbeigeführt.
Als selbstverschuldet kann eine Demenz nämlich nicht gelten. Immerhin lassen sich gut 50 Prozent der Erkrankungen nicht mit den genannten Risikofaktoren erklären. Für sie sind wohl die genetischen Voraussetzungen der Betroffenen verantwortlich.
Nicht jedem Gehirn nützt Bewegung
Wie stark der Einfluss der Gene auf das Gehirn sein kann, illustriert ein Experiment der Neurobiologin Sandrine Thuret am King’s College in London. In ihrem Labor durften sich die Mäuse mehr oder weniger ausgeprägt bewegen. Danach hatten sie verschiedene Lernaufgaben zu lösen.
Einerseits gab es Tiere, deren Leistung sich dank der Bewegung massiv verbesserte. Vermutlich, weil die Bewegung im Körper Botenstoffe freisetzt, die das Zusammenspiel der Zellen im Gehirn stärken. Aber es gab auch Tiere, die auch mit der Bewegung kaum besser lernten. Wie genau die Gene aber die Wirkung von Bewegung beeinflussen, darüber ist noch wenig bekannt.
Und doch tut gut daran, wer sich regelmässig bewegt. «Auch bei Menschen mit genetischem Risiko könnte der Lebensstil die Erkrankung hinauszögern», sagt die Psychiaterin Gill Livingston, die an der Studie in «Lancet» beteiligt war. Sogar mit 60 Jahren könnte es sich noch lohnen, eine Anpassung des Lebensstils vorzunehmen.
Warum sind Schlaf und Ernährung keine Risikofaktoren?
Wer an einen gesunden Lebensstil denkt, hat unweigerlich auch eine gute Ernährung und ausreichend Schlaf im Blick. Doch weder Schlafmangel noch schlechte Ernährung findet sich auf der Liste der Risikofaktoren. Wie kann das sein?
Die Liste berücksichtigt nur, was sich erwiesenermassen auch beeinflussen lässt. Zum Beispiel fliesst in die Analyse von «Lancet» eine Studie aus China ein. Dort ist aufgrund neuer Vorschriften der Behörden der Feinstaub in der Luft gesunken. Auch das Risiko, an Demenz zu erkranken, soll danach um 4 Prozent gesunken sein. Auf ähnliche Weise – quasi experimentell – den Schlaf oder die Ernährung der Bevölkerung zu beeinflussen, ist schwierig. Und so fehlt für beides der Nachweis, dass sie das Demenzrisiko senken können.
Viel einfacher ist es ohnehin, den Blutdruck und das Cholesterin mit Medikamenten zu bekämpfen. Das Risiko zu erkranken wird dadurch nachweislich verringert. Und es gibt auch plausible Hypothesen, warum dies so ist. Etwa kann Cholesterin die Blutgefässe schädigen, und das Gehirn wird dann weniger gut mit Sauerstoff versorgt.
Über das Demenzrisiko eines einzelnen Menschen sagen die genannten Zahlen wenig aus. Eine gute Nachricht bergen sie trotzdem. Auch wenn der Lebensstil keine Garantie für ein besseres Altern ist, gesund leben lohnt sich und fördert erst noch das allgemeine Wohlbefinden.