Luzern ächzt unter der Last eines Tourismus, der nicht gerade auf Individualität ausgerichtet ist. Der «Schlüssel» aber wirkt auf so sympathische Art persönlich, dass wir wiederkommen möchten.
Welcher Ort möchte kein begehrtes Reiseziel sein? Luzern ist es – und ächzt unter sogenanntem Overtourism. Für Kritiker der Massenabfertigung könnte es wie bestellt kommen, dass es heuer gleich zwei Michelin-Sterne und 17 Gault-Millau-Punkte auf ein Restaurant der Stadt schneite: Noch nie wurde ein Lokal der Leuchtenstadt so hoch bewertet wie das neue «Colonnade» des Hotels «Mandarin Oriental», wo zahlungskräftige Gäste zwischen Marmorsäulen eine modern interpretierte Cuisine française geniessen.
Doch das kulinarische Selbstverständnis einer Stadt wird anderweitig geprägt, und auch den angereisten Zürcher lockt auf der Suche nach Lokalkolorit keine international ausgerichtete Luxusküche. Er verbringt diesen Freitagabend mit ortsansässigen Freunden in einem Haus, in dem seit 1545 gewirtet wird. Der «Schlüssel» findet sich wenige Gehminuten vom Bahnhof und nahe der Kapellbrücke, aber abseits der Touristenströme: Den Franziskanerplatz belebt im Dezember ein Weihnachtsmarkt, sommers die Aussenwirtschaft dieses Gastbetriebs mit bewegter, fast 500-jähriger Geschichte.
Einige Jahrzehnte nach der Eröffnung führten Jesuiten eine Schule in den Räumen, und sozusagen als Vollstrecker des Konzils von Trient stieg der Mailänder Kardinal Carlo Borromeo hier ab. Nach ihm benannt ist noch heute der Borromäus-Saal , die historische Seele des Hauses sozusagen, mit Holzdecke aus der Barockzeit. Sie wurde zum Glück von einem Grossband verschont, der 2018 in der Küche ausgebrochen war und eine Wiederherstellung des Hauses mit seinen Elementen aus Renaissance und Spätgotik nötig machte.
Und nun ist der «Schlüssel» dank neuen Pächtern wieder zum Stadtgespräch geworden: Walter Willimann und Manuel Berger, die schon im Hotel «Beau Séjour» auf Individualität statt Massenauflauf setzen, haben das Haus mit zehn Hotelzimmern diesen Sommer frisch ausgerichtet. Die Inneneinrichtung trägt die Handschrift der Künstlerin Nina Staehli und des Designers Daniel Hunziker und scheint den kontemplativen Geist aufzunehmen, für den der Franziskanerplatz samt Barfüsserbrunnen steht.
Darben wie im Bettelorden muss bei der Einkehr im Restaurant, erklärtermassen eher auf einheimisches Publikum ausgerichtet, natürlich niemand. Gekocht wird mit Innerschweizer Zutaten und leicht asiatischen Noten – eher dem Trend als den unzähligen Gruppenreisenden aus jenem Kontinent geschuldet. Eine Auswahl der À-la-carte-Gerichte ist zum sehr fairen Preis von 78 Franken pro Person als Viergangmenu für den ganzen Tisch erhältlich. Wir geniessen es unter dem Kreuzgewölbe der Zofingerstube, dem kleinsten der drei Essräume (der zum Restaurantbetrieb gehörende Borromäus-Saal ist an diesem Abend leider nicht geöffnet).
Als Einstieg begeistern knusprige Tartelettes, gefüllt mit Mascarponecrème, Kürbisragout, Pickles, und süsse Milchbrötchen, belegt mit süsslichem Damhirschschinken. Bei der Vorspeise wickeln wir nach asiatischer Tradition Zutaten selbst in Lattichblätter ein: gezupften Bauch vom Wollschwein, Rotkabis und ein Crumble aus Nori-Algen, Sesam, Röstzwiebeln, individuell geschärft mit Sriracha-Chilisauce. Als Hauptgang schmiegen sich schön feuchte Frischkäse-Spinat-Spätzli an geschmorte Kalbsbäggli, wie menschliche Pendants naturgemäss etwas fetthaltig. Doch selbst gut gepolsterten Gesässen kommt zugute, dass die Horgenglarus-Stühle mit massgeschneiderten Filzkissen belegt sind, was auch zur Schalldämpfung beiträgt: Die Gesprächsatmosphäre ist angenehm, der etwas sprunghafte Musikmix zwischen «Griechischer Wein» und Pop-Songs leise eingestellt.
Dass das Haus unter dem Motto «Familia supra omnia» (Familie über alles) steht, mag eine Reverenz an die zu den Besitzerinnen zählende Studentenverbindung Zofingia sein. Etwas übertrieben wird mit der Liebe zum Latein aber vielleicht beim geschichts-, religions- und rechtswissenschaftlichen Potpourri von Übertiteln auf der Weinkarte («Veni, vidi, vici», «Ora et labora», «In dubio pro reo» . . .). Wie hervorragend diese bestückt ist, beweist indes der toskanische Aria di Caiarossa (Fr. 82.–), samtig und kraftvoll zugleich.
Eine alte Inschrift auf einem Holzbalken im Haus besagt: «Das Wasser macht weise und fröhlich der Wein, drum trinken wir beides, um beides zu sein». Wir halten uns daran. Das Trinkwasser zahlt man extra (Fr. 5.– pauschal pro Person), wie leider hierzulande heute vielerorts, doch wird zu dessen Aufwertung immerhin ein Kännchen frischen Zitronensafts gereicht. Das steht wie so vieles für die Detailpflege in diesem gastfreundlichen Haus.
Restaurant und Hotel Schlüssel
Franziskanerplatz 12
6003 Luzern
Sonntag und Montag geschlossen
Telefon 041 410 05 33
Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.
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