Im Spreewald verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart zu einem zeitlosen Erlebensraum. Märchenhaft – so könnte man das Gefühl beschreiben, das der Ort in der Vorweihnachtszeit vermittelt und das wie geschaffen ist für eine Reise im Advent.
Nur Kinder können die Lutki sehen. Denn sie leben – wie diese – im Reich der Phantasie. Es sind die Grossmütter, die sie dorthin mitnehmen, wie schon deren Grossmütter und die Grossmütter der Grossmütter. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Wie einst erzählen sie ihren Enkeln an langen Winterabenden von den winzigen, freundlichen Wichteln, die seit je den Menschen im Spreewald helfen, Brot zu backen, Wolle zu spinnen oder auch die Ernte einzubringen.
Adventszeit: wenn die Lutki sich den Menschen zeigen
Wenn das Jahr aber zu Ende geht, können auch Erwachsene den Lutki begegnen. Denn immer am ersten und am zweiten Adventswochenende begleiten sie die Besucher auf einer Kahnfahrt vom Grossen Spreewaldhafen Lübbenau zum Freilichtmuseum Lehde. Unterwegs erzählen die Lutki Geschichten über sich und den sagenhaften Spreewald. Doch obwohl sie die gleiche Sprache wie wir benutzen, muss man schon ganz genau hinhören, um alles richtig zu verstehen. Denn ihre Sprache enthält eine Besonderheit: Was auch immer sie sagen, wird doppelt verneint. Und das klingt dann zum Beispiel so: «Auch wenn ihr uns nur heute nicht nicht sehen könnt, sind wir niemals nicht da.»
Während die Lutki allerhand Erstaunliches erzählen, stakt der Kahnführer Meter für Meter die Zeit zurück, bis er nach rund dreissig Minuten im 19. Jahrhundert im Museumsdorf Lehde ankommt. In den nächsten Stunden können die Besucher von Haus zu Haus gehen und zuschauen, wie die Menschen hier früher lebten. Überall wird heftig gewerkelt, schliesslich steht Weihnachten vor der Tür, da haben die «Dorfbewohner» alle Hände voll zu tun: Junge Männer hacken fuderweise Holz, wenigstens in der Heiligen Nacht soll niemand frieren; ältere Männer sitzen auf der Ofenbank und flechten Körbe, mit denen sie im nächsten Jahr die Ernte einbringen werden. In einer winzigen Stube spinnt eine alte Frau Schafwolle zu Garn. Später wird sie daraus Socken, Pullover und Jacken stricken und dabei vielleicht den Enkelkindern von den Lutki erzählen, die ihr helfen, wenn alle schlafen.
Das Bescherkind: ein sorbisches Weihnachtswesen
Draussen kann man derweil einem gar seltsamen Wesen begegnen – dem Bescherkind. So heisst das Christkind bei den Sorben und Wenden, einer nationalen Minderheit, die in der Lausitz im östlichen Deutschland lebt. Weil niemand das Gesicht des Bescherkinds sehen darf, ist es mit weissem Tüll und bunten Bändern verhüllt. Umso auffälliger sind sein Kopfschmuck und das Gewand, das aus den schönsten Teilen der sorbischen Brautjungferntracht besteht. In der einen Hand trägt das Mädchen eine mit bunten Bändern verzierte Rute aus Reisig. Die hat das Bescherkind aber nicht zum Bestrafen, sondern um durch die Berührung damit Glück, Gesundheit und Kraft für das kommende Jahr zu übertragen. Zur Verstärkung der guten Wünsche schenkt die Helferin des Bescherkinds dem Gesegneten noch eine Zaubernuss, die ihre Wirkung zeigen soll, wenn man sie das ganze Jahr über bei sich trägt. Mit so viel Glück in der Jackentasche kann man guter Dinge seinen Dorfbummel fortsetzen.
Vielleicht schaut man einmal in das Wohnstallhaus, hinter dessen kleinen Fenstern ein Mann Gitarre spielt. Er sitzt auf einem Stuhl vor dem grossen Familienbett mit den dicken Federbetten gegen die Kälte der Nacht und singt sorbische Lieder. Nicht nur die Töne ziehen die Besucher in den Bann, auch seine niedersorbische Tracht, die, im Gegensatz zur typischen, farbenfrohen Tracht der Frauen, so gut wie nirgendwo mehr zu sehen ist. Schon vor Jahrhunderten verschwand sie, wurde zeitweilig sogar verboten. «Kein Mann soll Alkohol bekommen, der in der Tracht in die Kneipe kommt», habe einst eine Anordnung gelautet, erzählt Pitkunings, der Musikant. «Aber denken Sie vielleicht, dass die Männer aufgehört haben zu saufen?», fragt er das amüsierte Publikum. Heute seien es wieder etwa zwanzig Männer, die die Tracht mit Stolz trügen, «und die bekommen in jeder Kneipe ihr Bier».
«Guck mal, Mutti», ruft ein kleines Mädchen, «so eine grosse Pyramide möchte ich auch haben.» – «Auch wenn es auf den ersten Blick wie eine Pyramide aussieht, es ist keine», erklärt ihr der Musikant. «Schau mal auf die Kerzen, dann siehst du den Unterschied.» Und tatsächlich, die Kerzen drehen sich – anders als bei einer Weihnachtspyramide – mit. Drehboom heisst dieser nur im Spreewald bekannte Weihnachtsschmuck, der, wie so vieles hier, aus der Not heraus entstanden ist. Denn im Spreewald gab es bis vor rund hundert Jahren so gut wie keine Kiefern oder Tannen oder andere Arten von Nadelbäumen. Dafür aber jede Menge Weiden, deren Zweige man zum Flechten von Körben brauchte.
So machten die Spreewälder aus der Not eine Tugend und nutzten die Zweige auch, um zu Weihnachten kunstvolle, aus mehreren Etagen bestehende «Bäume» zu bauen. An der Spitze brachten sie aus dünnem Holz oder zerschnittenem Weissblech gefertigte Flügel an, verzierten die Weidenkonstruktion mit bunten Bändern und Papiergirlanden, steckten ein paar Kerzen drauf und lagerten sie drehbar auf einem spitzen Stab – fertig war der Drehboom. Die Etagen wurden mit kleinen Figuren, Obst und Nüssen geschmückt, und ganz unten fanden am Heiligen Abend die Geschenke für die Kinder Platz.
Lange hielten die Menschen an dieser schönen Tradition fest; selbst als rechts und links der Spreewaldfliesse längst Nadelbäume wuchsen, kamen diese ihnen nicht ins Haus. Erst ab 1910 setzten sie sich durch, als den Sorben der christliche Weihnachtsbaum durch ein preussisches Dekret regelrecht verordnet wurde. Nach und nach geriet der Drehboom in Vergessenheit. Seit einigen Jahren besinnt man sich wieder auf die alte Tradition, und bei manchen Spreewälder Familien schmückt zum Fest statt des Weihnachtsbaumes wieder ein Drehboom die gute Stube.
Zwischen Tradition und Handwerkskunst
Inzwischen ist es draussen dunkel geworden, die alten, reetgedeckten Holzhäuser erstrahlen festlich beleuchtet in schönstem Licht – und drinnen wie draussen kann man zuschauen, wie die Weihnachtsgeschenke nach alter Tradition hergestellt werden: Schmuck und Gebrauchsgegenstände aus Ton oder Weihnachtskugeln, die mit in Wachs getauchten Federkielen verziert werden.
Frauen schleissen Federn für Kissen und Bettdecken, ein Schmied arbeitet an einer Sichel, Bäcker schieben grosse Bleche mit Brot und Keksen in den Holzofen, und über einer offenen Flamme wird Schicht für Schicht Baumkuchenteig auf eine rotierende Walze aufgetragen und gebacken.
Mit jedem Schritt tauchen die Besucher tiefer in eine Welt ein, die sie bestenfalls aus Büchern und Erzählungen kennen. Nirgendwo werden die Ohren mit Dudelmusik aus zig Lautsprechern gequält, stattdessen kann man echten Bläsern und Sängern zuhören, und statt zusammengewürfelten Kitschs, der irgendwo in Asien produziert wurde, lockt handgearbeitete Kunst aus der Region zum Kauf.
Obwohl es manchmal ganz schön eng in und zwischen den Holzhäuschen wird, das Gefühl von Ruhe, Besinnlichkeit ist immer da. Wenn einem irgendwann der Sinn wieder nach den Segnungen der Neuzeit steht, kann man sich mit dem Kahn nach Lübbenau zurückbringen lassen. Wem aber eher nach einem romantischen Fussmarsch ist, der schnappt sich eine Fackel und schliesst sich einem ortskundigen Führer an, der die Gäste auf verschlungenen Wegen nach Hause führt.
Wenn man dabei ganz still ist, hört man unterwegs ja vielleicht sogar die Tiere sprechen. Denn das könnten sie hier in der Weihnachtszeit, erzählen die Alten. Und bitte: Seien Sie vorsichtig, und achten Sie darauf, wo sie hintreten! Denn im Schutz der Nacht könnten Lutki unterwegs zu den Spreewäldern sein, um ihnen bei den Weihnachtsvorbereitungen zu helfen.
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