Viele Erwachsene lassen sich heute die Aufmerksamkeitsstörung diagnostizieren. Oder geben sich die Diagnose gleich selbst. In der zerstreuten Gesellschaft wird die Abweichung zur Norm. Und dennoch als Besonderheit gefeiert.
ADHS war lange eine Störung, auf die niemand stolz war. Anfänglich erhielten nur Buben die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitäts-Störung. Diese Kinder zerrten an den Nerven ihrer Lehrer und erfüllten ihre Eltern mit Scham. Sie turnten in der Schule auf dem Stuhl herum, posaunten unaufgefordert ihre Meinung heraus.
Sie schauen aus dem Fenster, nicht erreichbar für Fragen. Hausaufgaben erledigen: eine Pein. Immer lockt irgendetwas, das viel interessanter ist. Eine Spinne, die über das Pult krabbelt, eine Stimme im Nebenzimmer.
Nicht nur die Erwachsenen bringt das Kind an den Rand der Verzweiflung. Es selber leidet darunter, dass es sich mit seinem Verhalten keine Freunde macht. Oder schon wieder zu Fuss nach Hause gehen muss, weil es den Veloschlüssel verloren hat.
Vom Zappelphilipp zum popkulturellen Phänomen
Den Kindern mit diesem Störungsbild lieh der Zappelphilipp seinen Namen. Der Dichter Heinrich Hoffmann erfand die Figur des zappeligen Jungen, der durch seine unbezähmbare Wildheit das Nachtessen der Familie ruiniert. Das war 1847.
Heute ist ADHS ein Pop-Song. Im Oktober hat Paris Hilton das Lied «ADHD» veröffentlicht, mit dem sie die Krankheit besingt, als wäre sie ein Geschenk (das D steht für «disorder»). Im Video räkelt sich Hilton leicht bekleidet in einer lilafarbenen Traumlandschaft, Tänzer tollen um sie herum. Lange sei sie niedergeschlagen gewesen, habe sich unfrei gefühlt, doch nun sei sie «das Beste, was ich sein kann», singt sie: «Meine Superkraft war genau in mir drin. Es war ADHS.»
Die Hotelerbin, einstiges «It-Girl», hat jüngst in ihren Memoiren öffentlich gemacht, dass sie erst jetzt mit ADHS diagnostiziert worden sei. Hilton gibt ADHS die Schuld an ihrem wilden Partyleben. Deshalb die Drogen- und Sexexzesse, deshalb all die Negativschlagzeilen. Ihr Gehirn sei ein Ferrari mit Fahrradbremsen, schreibt Hilton.
Doch seit die 43-Jährige weiss, was ihr früher so Mühe bereitete, kennt sie auch den Grund für ihren beruflichen Erfolg. Dank ihrer ADHS sei es ihr gelungen, Trends vorwegzunehmen, ein Imperium aufzubauen und «mit Menschen auf einer tieferen Ebene in Kontakt zu treten». Das sagte sie in einem Interview mit «Teen Vogue».
ADHS ist nicht mehr nur die Störung der schwierigen Jungs, die dank Ritalin mit den Anforderungen des Alltags besser zurechtkommen und ihr Umfeld aufatmen lassen. Es ist jetzt auch eine «Superkraft».
Die Störung wird positiv umgedeutet
In den vergangenen Jahren erhielten immer mehr Mädchen die Diagnose ADHS. Mädchen sind angepasster, der Bewegungsdrang als Symptom ist weniger ausgeprägt. Dadurch fallen sie weniger auf. 2013 schliesslich wurde ADHS bei Erwachsenen definiert und ins Diagnostische und Statistische Manual psychischer Erkrankungen (DSM) aufgenommen. Am amerikanischen Klassifikationshandbuch orientieren sich Ärzte, Psychiater und Krankenkassen weltweit.
Seither explodieren die Diagnosen. Das zeigt auch der steigende Konsum von Stimulanzien wie Ritalin. Man schätzt, dass 5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ADHS hat, manche Experten tippen auf jede zehnte Person. Tatsächlich hagelt es an ADHS-Bekenntnissen, ständig outet sich wieder jemand im Bekannten- oder Freundeskreis. Wer die Diagnose noch nicht schwarz auf weiss erhalten hat, weil die Wartelisten bei den Spezialisten so lang sind, diagnostiziert sich selber. «Als Kind hätte man bei mir ADHS diagnostiziert», heisst es dann.
ADHS wächst sich nicht aus, wie man früher annahm. Es soll sich dabei um eine Entwicklungsstörung des Gehirns handeln, die genetisch bedingt ist. Spätdiagnostizierte müssen die Symptomatik also schon als Kind gezeigt haben. Die Abklärung erfolgt durch psychologische Tests.
Auch Prominente stehen zu ihrer Störung. Es ist nichts mehr, wofür man sich schämt, eher zeichnet man sich damit als besonders aus. Die Kunstturnerin Simone Biles, der Schriftsteller Benjamin Stuckrad-Barre, der Radrennfahrer Jan Ullrich gingen voran. Johnny Depp entschuldigte so seine Drogensucht. Retrospektiv sagt man ADHS auch Albert Einstein nach oder Marilyn Monroe – was Unsinn ist aus der Ferne.
Wann immer eine neue Modediagnose auftaucht, müssen grosse Namen wie Albert Einstein und Marilyn Monroe herhalten: So werden die beiden heute retrospektiv mit ADHS diagnostiziert.
Heute heisst es «neurodivers»
Die Fern- und Selbstdiagnosen offenbaren den Imagewandel von ADHS. Die Störung wird positiv umgedeutet. Sie mag einem das Leben schwermachen: Man schafft es nicht, sich zu fokussieren, kann Aufgaben nicht priorisieren. Man vergisst Termine, fährt auf einer emotionalen Achterbahn.
ADHS zeugt nun aber auch von Genie: von unkonventionellem und assoziativem Denken, von Kreativität, Einfühlungsgabe und Risikobereitschaft. Gibt man sich wirklich einmal einer Sache hin, vergisst man alles um sich herum. So sagen es Betroffene.
Unzählige Bücher über ADHS fordern dazu auf, in der Schwäche eine Stärke zu sehen. Von «versteckter Kraft» ist die Rede oder eben von einer «Superkraft». Damit einher geht ein Begriffswandel. Niemand mit ADHS würde sich heute als krank oder gestört bezeichnen. Stattdessen ist man «neurodivers».
Die Abweichung ist mit Identität verknüpft
Mit Neurodiversität ist die Vielfalt des menschlichen Gehirns gemeint. Der Sammelbegriff schliesst jede Abweichung von der Norm mit ein. ADHS wie auch Autismus werden dabei als Teil des neurodiversen Spektrums gesehen. Das soll eine Entstigmatisierung der psychischen Störungen bewirken. Die damit einhergehende Normalisierung hat aber auch dazu geführt, dass ADHS zur Modediagnose wurde.
Manche Fachleute würden widersprechen: ADHS werde weiterhin oft nicht erkannt, gerade bei Mädchen und Frauen – die Unterversorgung erkläre die Zunahme der Diagnosen. Bloss ist die Zunahme so massiv, dass sich ADHS nicht mehr allein mit genetischen Ursachen erklären lässt. Oder wie es der Philosoph Christoph Türcke sagt: «ADHS ist nicht einfach eine Krankheit in gesunder Umgebung. Umgekehrt: Nur wo schon eine Aufmerksamkeitsdefizitkultur besteht, gibt es ADHS.» ADHS bildet die Epoche ab, in der wir leben.
Im Medien- und Informationszeitalter sind wir einer permanenten Reizüberflutung ausgesetzt. Die schwindende Aufmerksamkeitsspanne wird zum Symptom eines Gesellschaftszustandes. Als in den 1990er Jahren die Informationstechnologie aufkam und man PC und Handy zu nutzen begann, nahmen entsprechend die ADHS-Diagnosen zu.
Dabei sei ADHS mehr eine «Verlegenheitsbezeichnung als eine trennscharfe pathologische Diagnose», sagt Türcke. So hat er es bereits in seiner Streitschrift «Hyperaktiv!» von 2012 genannt. Der kulturelle Zusammenhang müsse viel stärker mitbedacht werden. Die menschliche Wahrnehmung der Welt werde heute von einer Unterbrechungslogik bestimmt. Der Bildschirm habe das fragmentierte Erleben beschleunigt: Die Geräte wirkten ruckartig auf unsere Sinne ein und erschwerten es, bei einer Sache zu bleiben. Jeder Bildschnitt sei ein kleiner Schock, eine kleine Ablenkung. «So wird die Aufmerksamkeit stimuliert.»
Das mediale Pendant zu ADHS ist die Plattform Tiktok, wo sich in schneller Abfolge ein Handyvideo ans nächste fügt. Natürlich verbreitet sich ADHS auch auf Tiktok. 15-sekündige Videos laden zum Selbsttest ein: Treffen Sätze wie «Du leidest an Selbstzweifeln» oder «Laute Kaugeräusche bei anderen machen dich wahnsinnig» zu, hat man angeblich ADHS.
«Pulsierende Glücksgefühle» bei der Diagnose
Kennt es denn nicht jeder? Man schafft es kaum mehr, sich einen Film anzuschauen, ohne ein einziges Mal aufs Smartphone zu blicken. Man sollte einen Bericht schreiben, aber eigentlich könnte man vorher noch Kaffeekapseln bestellen. Warum nicht noch schnell eine Wäsche starten? Zurück am Computer, bleibt man auf einem Newsportal hängen. Da war doch noch eine Mail zu beantworten. Irgendwann klingelt das Telefon – prompt hat man den Termin beim Steuerberater vergessen.
Alle erleben Tage, an denen sie zerstreuter sind und unmotiviert die Arbeit vor sich herschieben. ADHS-Betroffene aber sagen: Bei ihnen sei dies der Normalzustand. Die deutsche Journalistin Angelina Boerger schreibt in ihrem Buch «Kirmes im Kopf»: ADHS fühle sich an, als würde sie gleichzeitig durch 500 Programme gleichzeitig zappen, nur halte jemand anderes die Fernbedienung in der Hand. Leute mit ADHS brauchen immer neue Reize, schnell langweilen sie sich und suchen neue Impulse.
Auch Boerger erhielt die Diagnose erst mit 29. Sie habe «pulsierende Glücksgefühle» verspürt und vor Erleichterung geweint, als sie endlich eine Erklärung für ihre Mühen im Alltag bekommen habe. Alles schien Sinn zu ergeben, ihr Leben ordnete sich zu einer neuen Erzählung. Die Diagnose habe ihr geholfen, schreibt sie, «meine Maske abzulegen und endlich Ich zu sein».
Ganz Kind der Zeit, beherrscht die 32-Jährige nicht nur das psychologische Vokabular. Sie hat nun auf Instagram eine Community geschaffen von Leuten, die ADHS haben. Oder meinen, sie hätten es.
Eine Antwort auf den Leistungsdruck
Warum haben plötzlich alle ADHS? Was früher ein Verhalten war, ist heute eine Störung. Diese Störung scheint bald das neue Normal. Das Verhalten hat es schon immer gegeben, nur fiel es weniger auf, da der Alltag trotzdem bewältigbar war. ADHS ist die Störung der Leistungsgesellschaft. Es braucht wenig, um sich in ihr als mangelhaft zu erleben. Den Erfolgsdruck spüren schon Erstklässler. Wer sich nicht einpasst, ist ein Versager. Eine ADHS-Diagnose kann da rettend sein.
Andererseits wird ADHS überhöht, wenn nun immer mehr Erwachsene die Störung als Superkraft und Selbstbefreiung feiern. Die Diagnose befähigt einen, endlich derjenige zu sein, der man ist, wie Boerger schreibt. ADHS ist damit nicht mehr bloss etwas, das man hat. ADHS ist jetzt ein Identitätsmerkmal. Das ganze Leben dreht sich um das Anderssein.
Der Leidensdruck, den ADHS mit sich bringt, wird zweitrangig und die Symptomatik trivialisiert. Stattdessen führt die Störung Betroffene angeblich zu ihrem authentischen Selbst. Es macht sie vielleicht sogar zu besseren Menschen. Das verdient nun ihre ganze Konzentration.