Den ganzen November lang serviert die einst von Claudio Abbado gegründete Reihe frohgemut neue und neueste Musik. In der 37. Ausgabe will man in der Welthauptstadt des Grantelns ausgerechnet das Zusammensein feiern.
Emsig wird geschnitten und gehobelt: Tomaten, Gurken, Krautköpfe und anderes Gemüse. Der neugotische Festsaal des Wiener Rathauses hat sich in eine Grossküche verwandelt. Auf dem Menuplan steht nur ein Gericht: Salat. Veggie-Day im Prunkbau der Stadtverwaltung? Mitnichten. Die Küchenhelfer sind Studierende zweier österreichischer Musikuniversitäten, und sie interpretieren gerade schnipselnd ein Werk der amerikanischen Fluxus-Künstlerin Alison Knowles mit dem Namen «Proposition #2». Der Inhalt der Partitur ist eine Handlungsanweisung in drei Worten: «Make a salad.» Willkommen und «bon appétit» beim Festival Wien Modern.
Es soll Menschen geben, welche die Verknüpfung der Begriffe «Wien» und «modern» als Widerspruch in sich begreifen. Österreichs Hauptstadt gilt nicht nur architektonisch, sondern auch in musikalischen Belangen als eine Grossmacht des Gestrigen. So wie die Zuckerbäckerfassaden der Gründerzeithäuser das Stadtbild prägen, so dominieren die Herren Beethoven, Brahms und Bruckner die Programme der Konzerthäuser, flankiert von den einst ebenfalls ortsansässigen Kollegen Haydn, Mozart, Schubert und Mahler.
Die Freunde gegenwartsnaher Musik erscheinen da wie eine Gruppe Gallier, die sich frohen Mutes gegen die Übermacht des römischen Imperiums behaupten. Das Festival Wien Modern, das jedes Jahr mit stürmischem Elan den zu Düsternis und Schwermütigkeit neigenden Monat November etwas lichter macht, ist ihre zentrale Spielwiese.
Ein Riese unter Schweizer Leitung
Rund 30 000 Menschen besuchen jedes Jahr diese temporäre Enklave. 2024 warteten Werke von über 130 Komponistinnen und Komponisten darauf, an 32 Tagen in 28 Spielstätten Gehör zu bekommen, darunter 50 Uraufführungen. Wien Modern wurde 1988 von Claudio Abbado gegründet. Das Budget ist in der 37. Ausgabe auf 2,24 Millionen Euro angewachsen, dazu trägt die Stadt Wien eine gute Million bei. Verglichen mit diesem Riesen, sind die noch deutlich traditionsreicheren Donaueschinger Musiktage – mit einer Dauer von vier Tagen und 6500 Besuchern – fast ein Zwerg.
Eine Parallele zwischen den beiden Festivals findet sich heuer bei den Mottos. Unter dem Titel «Alone Together» widmete man sich in Donaueschingen im Oktober «dem Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe». In Wien lautete die Parole im November «Und jetzt alle zusammen». Auf welche Weise verbindet Musik die Menschen? Warum reden wir nicht öfter darüber? Diese Fragen standen 2024 im Fokus.
Das Festival für Neue Musik wird seit 2016 von einem gebürtigen Schweizer geleitet, von Bernhard Günther. Zwei Schweizer Künstler bilden heuer auch das Entrée des Veranstaltungsreigens: André und Michel Décosterd machen mit ihren grossen beweglichen Klangobjekten staunen. Im klinisch weissen Kassensaal von Otto Wagners Postsparkasse schwenkt ein «Cycloïd-E» seine fünf miteinander verbundenen Arme, die an Gewehrläufe erinnern. Hände hoch? Nein, Augen auf! Und die Ohren gleich dazu! Denn zu den eleganten Bewegungen fesseln passende Cyberklänge das Ohr. Im Museum für angewandte Kunst winden sich die Objekte wie Riesenschlangen zu finsteren Geräuschen. Ein beeindruckender Beitrag.
Für das Zusammensein sucht sich der Mensch bekanntlich nicht nur seinesgleichen aus, auch Tiere oder Puppen können partnerschaftliche Funktionen übernehmen. In der schönen, neuen Zukunftswelt sollen beispielsweise Pflege- oder Sexroboter tragende Rollen spielen. Im charmant abgewrackten Reaktor in Wien-Ottakring, einem der unkonventionellen Veranstaltungsorte, bietet das Sirene-Operntheater mit seiner Produktion «Die Puppe» (Idee und Regie: Kristine Tornquist) charmant-skurrile, durch das Serapions Ensemble tänzerisch beschwingte Einsichten in das Miteinander von Mensch und Homunculus, von Geist und Materie. Die aparte, humorbegabte Musik von Christof Dienz, interpretiert vom Ensemble Phace unter der Leitung von François-Pierre Descamps, rundet die Unternehmung zum eigenwilligen Gesamtkunstwerk.
Im Dschungel Wien spielt einige Tage später Arnold Schönberg Tennis. Das Theater für die Kleinen im Museumsquartier zeigt ein Märchen, das der Komponist einst im kalifornischen Exil für seine Kinder erfunden hat. «Die Prinzessin» entpuppt sich als Posse um eine Königstochter, die sich beim Tennisspiel am Allerwertesten verletzt – oder doch am Knie? Für die skurrile Geschichte, näher bei Samuel Beckett als bei den Brüdern Grimm, hat Margareta Ferek-Petrić abwechslungsreiche Klangwelten kreiert. Zwischen Tennisnetzen und Schiedsrichterstühlen wirbeln Jesse Inman und Stefanie Sourial in verschiedenen Rollen durch das Geschehen. Wie einst Schönbergs Kinder haben hier sogar die Allerkleinsten ihren Spass.
Eine durchlässige Bubble
Im heterogenen Publikum scheint ohnehin die Neugier zu überwiegen – die Dominanz einer avantgardistischen Orthodoxie in der Gegenwartsmusik gehört der Vergangenheit an. Schade deshalb, dass man das Motto der Gemeinschaftsbildung auf den Programmzettel beschränkt. Man hätte etwa zusätzlich ausgeschilderte Begegnungszonen schaffen können, mit Sitzmöbeln zum Verweilen und Reden; man hätte Buttons verteilen können mit der Botschaft: Sprich mit mir! Reden wir über das, was wir gerade gehört haben! Zum Beispiel über das Konzert der Wiener Symphoniker im Musikverein.
Hier präsentieren Clara Iannotta mit «the purple fuchsia bled upon the ground» für Klavier und Orchester und Nina Šenk mit ihrem «Konzert für Orchester» faszinierende Geräuschgemälde. Ohne institutionelle Unterstützung drängen sie wohl kaum über die berüchtigte Nische hinaus. Geradezu Euphorie herrscht in der dezidiert durchlässigen Bubble, wenn Manos Tsangaris zur Hausbegehung in das Secessionsgebäude am Karlsplatz lädt. Der deutsche Raumkünstler stellt den Jubilar Arnold Schönberg ins Zentrum, den Sezessionisten der Spätromantik.
Vom Keller über das Foyer und die zentrale Ausstellungshalle bis nach oben unters Glasdach: Überall wird gespielt, instrumental, aber auch szenisch. Oft für sich, in kurzen Wiederholungsschleifen, fallweise auch überlappend, echohaft interagierend. Tsangaris nimmt die private Katastrophe Schönbergs nach dem Seitensprung seiner ersten Frau mit dem Maler Richard Gerstl in den Fokus; ausserdem die Fixierung des Künstlers auf Blicke. Eine Wander- und Wunderstunde, in der man fallweise auch einmal im Dunkeln tappt. Das passt zu der durchaus süffigen Kost dieser Festivalausgabe – wie der Salat à la Alison Knowles, der überraschenderweise vorzüglich gemundet hat.