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Erfolgsmensch, Frauenheld, Komponist der kleinen Dinge und der ganz grossen Gefühle: Das Leben Giacomo Puccinis wirkt oft selbst wie eine seiner Opern, die bis heute auf allen Spielplänen stehen. Ein Jahrhundert nach seinem Tod ist es Zeit für mehr Zwischentöne.
Da sitzt er. Wie immer elegant gekleidet, mondän, ein Grandseigneur. Das linke Bein lässig übergeschlagen, in der rechten Hand die Zigarette, die auf fast keiner Darstellung fehlt. So kennt man Giacomo Puccini (1858–1924), an dessen hundertsten Todestag die Musikwelt in diesem Jahr allüberall erinnert. So hat sich sein Bild der Kulturgeschichte eingeschrieben: ein Erfolgsmensch und Kosmopolit, der es als Künstler zu Weltruhm gebracht hat. Tatsächlich war dieser Ruhm schon zu Lebzeiten ein globales Phänomen, und noch heute gehört Puccini unangefochten zu den meistaufgeführten Komponisten überhaupt.
Sein so lässig, aber auch etwas entrückt wirkendes Denkmal hat der italienische Bildhauer Vito Tongiani im Jahr 1994 geschaffen. Es steht auf der kleinen Piazza Cittadella inmitten der Altstadt von Lucca. Puccinis Geburtsort in der Toskana galt noch Ende des 20. Jahrhunderts als Geheimtipp, da er weniger überlaufen war als die touristischen Hotspots Florenz, Siena oder Pisa. Auf charmante Art tiefenentspannt wirkt die Stadt mit den imposanten Wallanlagen rund ums historische Zentrum immer noch, und lange schien es, als habe sie sogar den Weltruhm ihres berühmtesten Sohnes mit der ortsüblichen Gelassenheit verschlafen. Vielleicht auch deshalb, weil es die Geschichte eines verlorenen Sohnes ist.
Puccinis Lebenswelt während seiner frühen Jahre: Fotografien seiner Geburtsstadt Lucca in der Toskana aus dem Jahr 1894. Links die Basilika und der Campanile von San Frediano aus dem 12. Jahrhundert, rechts die Via Nazionale in der Altstadt.
Aus der Provinz um die Welt
An Tongianis Statue ist strenggenommen etwas falsch. Sie zeigt nicht den verwegen dreinblickenden Jüngling der frühen Jahre in Lucca. Vielmehr präsentiert sie den arrivierten Puccini, der durch die Erfolge seiner Opern bereits zu einem der wohlhabendsten Künstler seiner Zeit geworden war. Und sie zeigt ihn, comme il faut, in der Haltung des Lebemannes, der sein Dasein offenbar ohne Hemmungen genoss: Er rauchte bis zu achtzig Zigaretten am Tag, hatte zahllose Affären und pflegte eine Liebe zu modernster Technik, namentlich zu schnellen Autos. Alles drei sollte fatale Folgen haben. Doch um diese Weltläufigkeit mit ihren ausgeprägt dandyhaften Zügen zu erreichen, die Anfang des 20. Jahrhunderts noch als Insignien persönlichen Erfolges gewertet wurden, musste Puccini die enge Welt von Lucca hinter sich lassen.
Dies ist der erste von etlichen Brüchen in seinem Leben – und nebenbei eine Weichenstellung für die Entwicklung der italienischen Musik. Denn als Giacomo Antonio Domenico Michele Secondo Maria Puccini am 22. Dezember 1858 in Lucca zur Welt kommt, in einem unscheinbaren Eckhaus hinter dem heutigen Denkmal, ist ihm eigentlich ein Weg als Musiker in der Provinz vorgezeichnet. Als erster Sohn seines Vaters Michele – vorangegangen waren fünf Töchter – ist er von Geburt an dazu ausersehen, die lokale Tradition der Familie fortzuführen. Seine Vorfahren verantworten schon seit dem frühen 18. Jahrhundert, in mittlerweile vierter Generation, das Musikleben Luccas – und das meint zuallererst: die Musik in den prächtigen mittelalterlichen Kirchen, die das Stadtbild überragen.
Im Schaffen des jungen Puccini haben sich tatsächlich Dutzende frühe Orgelwerke erhalten. Sie lassen seine Bereitschaft erkennen, sich in diese Tradition einzureihen. Erst 2018 vollständig ediert, sind sie nahezu unbekannt geblieben; wohl auch, weil sie noch kaum etwas vom Stil des reifen Komponisten verraten. Puccini aber bleibt der Kirchenmusik zunächst treu; ja er wagt sich sogar an eine ambitionierte Vertonung des vollständigen Messetextes. Die frühe «Messa di Gloria» ist heute eines der wenigen Werke, die nicht im Schatten seines alles beherrschenden Opernschaffens versunken sind. Das rund 45 Minuten dauernde Stück wird 1880 in Lucca uraufgeführt, es bildet zugleich seine Abschlussarbeit am örtlichen Istituto Musicale Giovanni Pacini, dem eine Zeitlang wiederum sein Vater vorgestanden hat. Michele Puccini erlebt den ersten Erfolg des Sohnes allerdings nicht mehr, er stirbt schon 1864.
Aus der Perspektive der Nachwelt frappiert die «Messa» durch die virtuose Beherrschung der kirchenmusikalischen Überlieferung, etwa der Regeln eines elaborierten Kontrapunkts. Mehr noch aber durch einige Besonderheiten, die prägend für Puccinis gesamtes Schaffen werden. Dazu gehört eine auffallend emotionsgeladene Führung der Singstimmen, die stellenweise geradezu exaltiert klingen. Ferner eine brillante, erkennbar an Giuseppe Verdi geschulte Behandlung des Orchesters, das immer wieder eigenständig ins Sinfonische ausgreift. Und nicht zuletzt hört man den nicht allzu frommen Tönen einen untrüglichen Sinn für theatrale Wirkungen an; sie weisen bereits über den Rahmen einer kirchlichen Andacht hinaus.
Kein Wunder: Schon 1876 hat der damals Achtzehnjährige eine Aufführung von Verdis Ägypten-Oper «Aida» am Teatro Nuovo in Pisa erlebt; ein Ereignis, das er selbst als wegweisend für seine Karriere beschrieben hat. Fortan will er Opernkomponist werden – auch wenn das den endgültigen Bruch der Familientradition bedeutet. Aber mit einem für sein Alter erstaunlichen Weitblick erkennt er, dass ein überregionaler, also über die Mauern von Lucca hinaus wirksamer Erfolg im Italien des späten 19. Jahrhunderts kaum mehr auf dem Gebiet der Kirchenmusik möglich ist. Wer es hier zu etwas bringen will, muss grösser denken, muss in die Fussstapfen Verdis treten.
Und das tut er dann bei seinem Studium am Mailänder Konservatorium, das er dank einem königlichen Stipendium 1880 aufnehmen kann. Von Kirchenmusik ist dort nicht mehr die Rede. Puccini wird Schüler des Opernkomponisten Amilcare Ponchielli, dessen «La Gioconda» sich in den Spielplänen gehalten hat. Und er schliesst Freundschaft mit dem fünf Jahre jüngeren Pietro Mascagni, der mit seinem Einakter «Cavalleria rusticana» zum Begründer des musikalischen Verismo wird: einer Strömung, die auf die «wahrhaftige», also ungeschönt-naturalistische Abbildung menschlicher Schicksale in der Oper zielt. Mascagni öffnet die Bühne damit für die Existenzen am Rande, für die Aussenseiter und sozial Ausgegrenzten. Puccini wird in seinen Werken eine eigene Spielart dieses Realismus entwickeln.
Internationaler Durchbruch
Bald sitzt er selbst an seinem Erstling mit dem Titel «Le Villi», einer unkonventionellen «Opera-ballo» über rachsüchtige Elementargeister im Schwarzwald, frei angelehnt an den Stoff von Adolphe Adams Ballett «Giselle». Die Uraufführung in Mailand hat 1884 einigen Erfolg. Viel entscheidender aber: Sie weckt das Interesse von Verdis Verleger Giulio Ricordi. Dessen einflussreiches Verlagshaus nimmt Puccini unter Vertrag, und aus Ricordis mutiger Wette auf die Zukunft erwächst eine beinahe lebenslang andauernde Geschäftsbeziehung, die sich für beide Seiten in höchstem Masse bezahlt macht.
Und zwar umgehend, als Puccinis Name international zu leuchten beginnt. Noch verhalten mit dem von Ricordi in Auftrag gegebenen zweiten Bühnenwerk «Edgar»; umso mehr aber mit «Manon Lescaut» von 1893. Seine Opernfassung des populären Romans von Antoine-François Prévost verbreitet sich ungewöhnlich schnell, und das sogleich rund um den Globus. Gustav Mahler initiiert die Erstaufführung in Hamburg, und noch im ersten Jahr dringt das Werk unter anderem bis nach Buenos Aires, Rio de Janeiro, Madrid und Sankt Petersburg.
Mit diesem Siegeszug ist der Boden bereitet für die nun annähernd im Vierjahresrhythmus herauskommenden Welterfolge «La Bohème», «Tosca» und schliesslich – trotz einer verunglückten Uraufführung an der Mailänder Scala – «Madama Butterfly». Die Trias gehört seither unverrückbar zum Repertoire aller Opernhäuser, neben den grossen Bühnenwerken von Mozart, Verdi und Wagner.
Die drei Stücke zementieren Puccinis Ruf, Verdis legitimer Nachfolger und damit der Erbe der glorreichen Operntradition in Italien zu sein. Sie bilden sogar eine Art Pendant zu dessen «Trilogia popolare» aus «Rigoletto», «Il trovatore» und «La traviata». Und rufen auch sogleich Neider und Kritiker auf den Plan, denen die Popularität verdächtig erscheint. Vor allem aber ermöglichen sie Puccini, alsbald Tantiemen-Millionär, das luxuriöse Leben und jene mondäne Erscheinung, die sich auf allen bekannten Darstellungen widerspiegelt. Nicht zuletzt in dem Denkmal von Lucca.
Verwurzelt in der Toskana
Bei allem Ruhm bleibt Puccini dennoch seinen Wurzeln in der Toskana verbunden. Wenn er gerade nicht zu Aufführungen seiner Werke um den Erdball reist, bewegt sich sein Leben in einem erstaunlich kleinen Radius. Von Lucca zieht er schliesslich, mit Umwegen, nur ein Dorf weiter westwärts, nach Torre del Lago. Hier, am oft malerisch nebelverhangenen Massaciuccoli-See, den er mit seinen Motorbooten unsicher macht, entstehen ab 1891 wesentliche Teile seines Werks. Hier, in seinem «paradiso», lässt er sich im Jahr 1900 eine Villa erbauen, auch um seinem Hobby als passionierter Jäger nachzugehen. 1921 folgt ein zweites «villino» im benachbarten Viareggio, ausgestattet mit dem modernsten Komfort der Epoche.
Leben in Puccinis «paradiso» am Lago di Massaciuccoli (oben): In seiner Villa in Torre del Lago (Mitte links) komponierte Puccini bevorzugt an einem Klavier, das mehr an ein Barpiano erinnert (Mitte rechts). Zur Entspannung machte er – übrigens wie sein Zeitgenosse Sergei Rachmaninow in Luzern – den See mit teuren Motorbooten unsicher (unten).
Die Gleichzeitigkeit von Torre del Lago und New York, von starker regionaler Verankerung und internationaler Ausstrahlung, ist ein Charakteristikum seiner Vita. Es erinnert an Antonín Dvořák, der während seiner Zeit in Amerika immer die tschechische Musiktradition im Ohr behielt, sich aber durchaus fremden Einflüssen öffnete. Bei Puccini ist es ähnlich: Er fängt in «La Bohème» die Atmosphäre von Paris so vollendet ein, dass ihm sogar der gestrenge Claude Debussy Respekt zollt; er entwirft in «Madama Butterfly» mithilfe fernöstlicher Tonfolgen ein äusserst suggestives Japan-Bild; und seiner Goldgräber-Oper «La fanciulla del West» haucht er mit Ragtime- und Gospel-Klängen amerikanisches Flair ein. Trotzdem bleibt hinter dem jeweiligen Kolorit immer die glutvolle, melodiebetonte Sprache Puccinis erkennbar.
In diesen Melodien, die sich überwiegend in engen Intervallschritten und somit besonders sanglich entfalten, bewahrt der Weltmann aus Lucca wahrscheinlich frühe Prägungen durch die toskanische Volksmusik. Doch anders als die zur selben Zeit entstehenden nationalen Schulen in Nord- und Osteuropa beschränkt er sich in der Themenwahl für seine Stücke gerade nicht auf entsprechend heimatverbundene Sujets. Die Schauplätze seiner Bühnenwerke reichen ihrerseits einmal um die Welt, von Paris und Rom («Tosca») bis nach Japan und Kalifornien und schliesslich in das schauerliche Märchen-China der «Turandot». Die hinreissende Dante-Komödie «Gianni Schicchi» aus dem späten «Trittico» ist allerdings wirklich eine Hommage, wenngleich eine zart ironische: an den Zauber von Florenz.
Die Plakate zu den ersten Aufführungen von Puccinis Opern «Tosca» und «Turandot» spiegeln die Ikonografie und den bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gängigen Ausstattungsstil bei Inszenierungen wider.
Seine Heimat hat es ihm dennoch lange nicht gedankt. In Italien dominiert Puccini zusammen mit Verdi zwar nach wie vor die Opernprogramme, hier traditionell noch mehr als anderswo. Aber dass damit auch eine Verpflichtung zur Pflege des künstlerischen Erbes einhergeht, hat man noch Jahrzehnte nach seinem Tod nicht wahrhaben wollen. Die beiden Komponistenmuseen in Lucca und in Torre del Lago, wo Puccini auch begraben liegt, verwandelten sich beispielsweise erst im 21. Jahrhundert von plüschigen Devotionaliensammlungen in ernstzunehmende Dokumentationszentren. Die im Zweiten Weltkrieg beschädigte Villa in Viareggio wird überhaupt erst seit 2014 vor dem völligen Verfall bewahrt. Sie ist immer noch «in restauro».
Dazu passt, dass auch erst seit 2007 systematisch an einer «Edizione nazionale» gearbeitet wird, an einer historisch-kritischen Gesamtausgabe einschliesslich des umfangreichen Briefwechsels, die wissenschaftlichen Massstäben genügt. Bis dahin sah man keinen Nutzen in einer philologischen Erforschung der Partituren und Handschriften. Puccini war darin auch ein Opfer des verlässlichen Erfolgs seiner Werke: Warum sollte man einer solchen Cash-Cow mit pingeligen editorischen Fragen zu Leibe rücken? Entsprechend herrschte – und herrscht – bei Aufführungen oft Schlendrian.
Die Nachlässigkeit ist gerade bei diesem Komponisten prekär. Denn Puccini hat nahezu alle seine Opern immer wieder überarbeitet, meist als Reaktion auf theaterpraktische Erfahrungen. Sie liegen deshalb teilweise in vier und mehr Versionen vor, doch selten in definitiven Fassungen. Puccini verfuhr dabei wenig zimperlich mit der eigenen Musik. Aufschlussreich ist etwa seine Überlegung, ausgerechnet die bekannteste Arie der «Tosca», «Vissi d’arte, vissi d’amore», zu streichen: weil sie ihm den dramaturgischen Fluss dieses ganz auf theatrale Unmittelbarkeit ausgerichteten Opernkrimis zu lange aufzuhalten schien.
Wer den Mut aufbringt, die Macht der Gewohnheit in der Bühnenpraxis zu durchbrechen, kann auch bei den anderen Zugpferden immer noch Überraschendes zutage fördern. So hat Riccardo Chailly, der Musikdirektor der Scala und ein bekennender Puccini-Anhänger, die einst in Mailand so schmählich durchgefallene Urfassung der «Butterfly» 2016 neu zur Diskussion gestellt – eine aufregende Entdeckung, weil eine Abweichung im Leitthema der Titelfigur dem gesamten Werk eine andere Tönung gibt. Und 2019 nahm Chailly bei «Manon Lescaut» ein frappierend fortschrittliches Ensemble mit komplizierten Rhythmus-Überlagerungen wieder in den Notentext auf, das nach der Turiner Premiere dem Rotstift zum Opfer gefallen war.
Auf zu neuen Ufern
Eingespielte Denkmuster werden seit einigen Jahren auch in der biografischen Forschung infrage gestellt. Ein wichtiger Impuls ist hier dem deutschen Schriftsteller und Opernkenner Helmut Krausser mit seinem Doku-Roman «Die kleinen Gärten des Maestro Puccini» von 2008 gelungen. Breitenwirksam hat er darin den Blick geschärft für die Schicksale im Schatten dieses vordergründig so hell strahlenden Lebensweges, indem er namentlich den vielen Opfern von Puccinis Affären ihre eigenen Lebensgeschichten wiedergegeben hat.
Das Bild des notorischen Frauenhelden wird dadurch nicht relativiert, und es nimmt sich auch nicht sympathischer aus. Aber nur die schonungslose Betrachtung der Vita eröffnet wiederum neue Dimensionen für die Interpretation des Werks. In der Folge problematisieren heutige Inszenierungen vermehrt das Frauenbild in seinen Opern oder versuchen es autobiografisch zu unterfüttern.
Frauen spielen in Puccinis Privatleben und in seinen Bühnenwerken die Hauptrollen. Viele seiner frühen Interpretinnen wurden in seinen Partien selbst weltberühmt. Die Sopranistin Lina Cavalieri (1874–1944, links) war eine der führenden Sängerinnen der Tosca vor Maria Callas. Maria Jeritza (1887–1982), auch eng mit Richard Strauss befreundet, setzte unter anderem als Tosca (im Bild eine Aufführung von 1922), als Minnie («La Fanciulla del West») und als Turandot Massstäbe.
Nicht zuletzt beim Blick auf die Musik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die Perspektive nahezu umgekehrt. Statt Puccini rückblickend als letzten Vertreter der italienischen Operntradition auf den Sockel zu stellen, fokussiert man inzwischen verstärkt auf die zukunftsweisenden Aspekte seiner Ästhetik. Besonders auf die in diesem Ausmass einzigartige Offenheit seiner musikalischen Sprache für Entwicklungen avancierterer Zeitgenossen: Dies beginnt beim Impressionismus Debussys und führt über die Entfesselung des Rhythmus bei Igor Strawinsky und den Klang-Bruitismus der italienischen Futuristen bis zu Arnold Schönbergs Ringen um eine Überwindung der morsch gewordenen Tonalität.
Noch in seinem Todesjahr 1924 hört Puccini eine Aufführung von Schönbergs «Pierrot lunaire» unter dessen Leitung in Florenz, die revolutionäre Partitur vor sich auf den Knien. Faszination und Irritation halten sich die Waage, auch in der persönlichen Begegnung der beiden. Aber Puccini hat die Grösse, anzuerkennen, dass ihm Schönberg auf dem Weg in eine musikalische Zukunft vorangegangen ist, die er selbst erst in Umrissen erahnt – und leider auch nicht mehr mitgestalten kann.
Ein halbes Jahr später bricht er in Viareggio auf zu seiner letzten Fahrt. Im fernen Brüssel erhofft er sich eine Heilung seines Kehlkopftumors, Folge des exzessiven Zigarettenkonsums, mithilfe der noch jungen Radium-Strahlentherapie. Im Gepäck hat er die Skizzen zu seiner Oper «Turandot», mit deren Schlussszene er seit Monaten hadert, vermutlich noch verschärft seit der Begegnung mit Schönberg. Aber die im Übrigen vollständig ausgearbeitete und mit messerscharfer Prägnanz orchestrierte Partitur zeigt ihn auf der Höhe seiner Zeit und trotz allen Rückbindungen an die Tradition als unbedingten Zeitgenossen der Moderne.
Zugleich fasst das Werk noch einmal beispielhaft seine ureigene Bühnenästhetik zusammen. Immer und überall zuerst von der Szene aus gedacht, strebt sie maximale emotionale Verdichtung auf engstem Raum an. Das führt zu einer Dramaturgie, die jede Redundanz vermeidet und auch den Raum für die operntypische Überhöhung der Szene durch Musik beschränkt. Stattdessen zielt dieses Musiktheater auf einen Realismus des Gefühlsausdrucks, der erst vom Film mit letzter technischer Konsequenz eingelöst wird; es kennt aber bereits harte Schnitte und Wechsel der Kameraperspektive «avant la lettre». In «Turandot» kann man überdies stark ritualisierte Abläufe ausmachen und sogar Parallelen zum abstrakten Marionettentheater, die den romantischen Überschwang brechen.
Puccini bekommt die Geister, die er damit ruft, am Ende nicht mehr gebändigt. Er stirbt am 29. November 1924 in der Brüsseler Klinik im Alter von knapp 66 Jahren. «Turandot», die dennoch bald in den Kreis seiner weltweit gespielten Erfolgsstücke aufrückt, bleibt eines der grossen Rätsel-Fragmente der Musikgeschichte. Aber sie bedeutet keineswegs das Ende der italienischen Oper – man sollte sie vielmehr als unvollendeten Aufbruch zu neuen Ufern hören.