In einer Übernahme von den Salzburger Pfingstfestspielen ist der Publikumsliebling als mythischer Sänger in Glucks «Orfeo ed Euridice» zu erleben. Bei der intensiven Aufführung in der Tonhalle Zürich gibt es keine Kulissen – aber eine Bartoli braucht sowieso keine.
Orpheus hat alles verloren. Sein Glück, seine Liebe und nun auch jene einmalige zweite Chance, die ihm die Götter gewährt hatten. Ausnahmsweise hätte er seine gestorbene Geliebte noch einmal aus der Unterwelt zurückholen dürfen. Doch auch diese Hoffnung ist jetzt für immer dahin: Er hat sich nämlich nicht beherrschen können, hat sie angesehen auf dem gemeinsamen Weg zurück ins Leben. Ein kurzer Blick nur – aber ein endgültiger und letzter. Denn damit haben er und Eurydike die Probe der Götter nicht bestanden. Statt einander blind zu vertrauen, haben sie sich von Zweifeln und widerstreitenden Gefühlen übermannen lassen. Eurydike muss nun für immer als Schatten im Totenreich dahinvegetieren.
Und er? Cecilia Bartoli will in der Rolle des Orpheus die Trennung nicht akzeptieren. «Aspetta!», ruft sie dem schwindenden Schatten hinterher, «so warte doch!» – und die fatalistische Verzweiflung, die sie in diesen Ruf legt, lässt einen den Atem anhalten. Denn es besteht nicht der geringste Zweifel, wohin der Sänger aller Sänger seiner Freundin folgen will.
In der Aufführung der Salzburger Pfingstfestspiele 2023 schritt Bartoli in diesem Moment durch ein dunkles Tor dem Tod entgegen. Bei der halbszenischen Wiederaufnahme der Produktion, die jetzt im Rahmen der «Neuen Konzertreihe Zürich» in der Tonhalle stattfand, braucht es nicht einmal mehr Kulissen: Bartoli geht singend, trauernd, klagend einfach durch die rechte Tür oberhalb des Konzertpodiums ab. Die Wirkung aber ist dieselbe: Man bleibt in grenzenloser Desillusionierung zurück, nun auch der letzten Aussicht auf eine bessere Welt durch die Kunst beraubt.
Ohne Happy End
Wie schon in der Salzburger Inszenierung von Christof Loy fehlt bei der Aufführung in Zürich das «lieto fine», das Happy End, das Christoph Willibald Gluck seiner berühmten Opernfassung des Orpheus-Mythos zugestanden hat. Kein hilfreicher Deus ex Machina steigt da vom Olymp herab, um die Liebenden zu retten. Heutige Regisseure haben ja ohnehin ihre liebe Not mit solchen Schlüssen – eigentlich mit jeder Form einer inszenierten Transzendenz. Hier aber erscheint das bedrückende Ende auch ohne Szenerie rein aus der musikalischen Darbietung motiviert.
Cecilia Bartoli und Mélissa Petit, die Sängerin der Euridice und wie Bartoli ein Zürcher Publikumsliebling, gestalten die Begegnung zwischen Orfeo und seiner Geliebten nämlich mit packender Eindringlichkeit als eskalierendes Missverständnis: Je mehr der Sänger am rätselhaften Zaudern Euridices verzweifelt, desto mehr wachsen wiederum ihre Zweifel, dass das versprochene zweite Leben mit ihm ein glückliches sein wird. Vor unseren Ohren gerät die vorher Grenzen überwindende Liebe der beiden in einen fatalen Zirkel aus mangelndem Vertrauen und gegenseitigem Nichtverstehen. So drastisch und niederschmetternd hört man diese Schlüsselszene selten.
Zugleich staunt man wieder einmal über den psychologischen Scharfsinn, den Gluck hier – rund zwei Jahrzehnte vor Mozart – in der Oper entwickelt: Jede der beiden Figuren wirkt in ihren Emotionen glaubhaft und absolut menschlich in den Motiven ihres Handelns. Deshalb kommen sie uns noch heute so nahe.
Irritierender Klagegesang
Cecilia Bartoli, die sich seit Jahren für den notorisch unterschätzten Opernreformer Gluck einsetzt, hat dies in Zürich auch schon in einer denkwürdigen Produktion der «Iphigénie en Tauride» am Opernhaus unter Beweis gestellt. Bereits vor vier Jahren stand ihr dort Gianluca Capuano zur Seite, damals am Pult des hauseigenen Originalklang-Ensembles La Scintilla. In der Tonhalle dirigiert Capuano jetzt das 2017 gegründete Orchester Les Musiciens du Prince, das eine tragende Rolle bei Bartolis Pfingstfestspielen in Salzburg spielt.
Man spürt die Vertrautheit in jedem Ton: Gesang und Orchester laufen nie nebeneinanderher, sie durchdringen sich vielmehr in jedem Augenblick, immer im Sinne des dramatischen Geschehens. Die Tempi sind fliessend, der Ton der alten Instrumente ist rau, manchmal bewusst scharf. Doch immer geht es um die pointierte, nahezu realistische Darstellung der jeweils ausgedrückten Affekte. Mustergültig gelingt dies nicht zuletzt in der bekanntesten Arie des Werks, «Che farò senza Euridice?».
Bartoli und Capuano nehmen sie zu Beginn fast doppelt so schnell wie lange Zeit üblich. Der Charakter dieses in irritierend hellem Dur komponierten Klagegesangs wandelt sich dadurch völlig: Hörbar wird die Zerrissenheit, die Wut, die Verzweiflung des Orpheus über den erneuten Verlust seiner Euridice. Erst am Schluss fügt er sich stockend in sein Schicksal, und das Tempo kehrt gleichsam resignierend ins gewohnte Zeitmass zurück. Danach tritt noch einmal der vorzügliche Chor mit dem passenden Namen Il Canto di Orfeo auf und stimmt ein zweites Mal den Grabgesang auf Euridice vom Beginn der Oper an. Währenddessen wird es dunkel in der Tonhalle, und nach Bartolis finalem «Aspetta!» bleibt es lange still. Erst als zum Glück doch noch jemand den Lichtschalter betätigt, bricht sich Jubel Bahn im ausverkauften Saal.