Merkels Buch heisst «Freiheit» und ist langweilig. Johnsons Memoiren tragen den Titel «Unleashed», von der Kette gelassen. Und «unleashed» sind sie auch, wild sogar. Ein Vergleich der Autobiografien.
Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck führte eine spitze, ironische Feder – seine «Gedanken und Erinnerungen» sind heute noch lesenswert. Der britische Premierminister Winston Churchill arbeitete vor Beginn seiner politischen Laufbahn als Buchautor und Kriegskorrespondent. Er konnte ausgezeichnet schreiben. Für seine zwölfbändige Weltkriegs-Autobiografie erhielt er 1953 den Literaturnobelpreis.
Das wird der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel aller Voraussicht nach nicht passieren. Ihre soeben unter dem Titel «Freiheit» erschienenen Memoiren sind so dröge und teutonisch unanschaulich formuliert, wie das Publikum es auch aus vielen ihrer Reden gewohnt war. In deutschen Zeitungen gibt es bereits Karikaturen darüber, wie den Stapeln unverkaufter Exemplare in den Buchhandlungen Sammlungen von Kochrezepten beigefügt werden, um den Absatz zu steigern.
Der Humor, den Merkel-Spezialisten immer wieder bei privaten Treffen mit der Christlichdemokratin beobachtet haben wollen, ist auf ihren 700 Seiten allenfalls in homöopathischer Dosierung vorhanden. Das ist bei einem anderen gewichtigen Polit-Wälzer ganz anders: «Unleashed», die Erinnerungen des ehemaligen britischen Premierministers, früheren Londoner Bürgermeisters und Journalisten Boris Johnson, liest sich unglaublich witzig. Es ist spannend, rasant erzählt, voller Selbstironie.
Johnson hing über dem Publikum und schwenkte Fähnchen
Johnson legt erkennbar weniger Wert auf die eigene Amtswürde als Merkel. Undenkbar, dass sie jemals in ein Geschirr gestiegen wäre, mit dem man sie hoch oben über eine Menschenmenge hätte hinwegziehen können. Johnson tat genau dies bei den Olympischen Spielen 2012, als er noch Bürgermeister von London war. Und natürlich blieb das Konstrukt hängen, und natürlich baumelte Johnson eine halbe Stunde lang hilflos über dem Publikum, zwei Union Jacks aus Plastik schwenkend, bis Mitarbeiter ihn mit einer Art Lasso bergen und zurück zur Abstiegsplattform ziehen konnten.
Merkel lacht praktisch nie über sich selbst. Sogar als sie anlässlich ihrer inoffiziellen Abiturfeier in einen heimatlichen See fällt, ist in ihrer Schilderung nicht der konsumierte «Kirsch-Whiskey» schuld, sondern der Mitschüler, der überraschend aufspringt, so dass das Boot, auf dem die beiden sitzen, heftig kippelt.
Der Ex-Premierminister hadert mit seiner Corona-Politik
Ernsthaft und gar nicht scherzend befragt sich Johnson über die Fehler, die er als Aussenminister gemacht hat – zum Beispiel im Fall von Nazanin Zaghari-Ratcliffe, einer Britisch-Iranerin, die unter anderem durch seine diplomatische Ungeschicklichkeit länger in iranischer Geiselhaft bleiben musste. Sehr ernsthaft hadert der frühere Premierminister im Rückblick auch damit, als liberaler Konservativer eine womöglich zu harte Corona-Lockdown-Politik vertreten zu haben.
Die Vorwürfe, die wegen «Corona-Partys» in seinem Amtssitz gegen ihn erhoben wurden, weist er allerdings komplett zurück. Die entsprechenden Medienberichte seien definitiv von rachsüchtigen Mitarbeitern inspiriert gewesen; allenfalls habe es bei Geburtstagen oder Pensionierungen ein Glas «lauwarmen Weisswein» an genau dem Corona-konformen Schreibtisch gegeben, an dem man ohnehin den ganzen Tag gearbeitet habe. «Wenn das Partys gewesen sein sollen, dann waren es die traurigsten Feierlichkeiten seit Menschengedenken», schreibt er.
Nun sagen Johnson-Experten, dass Ironie und Selbstkritik bei diesem Tory-Politiker mit Vorsicht zu geniessen seien: Er setze sie rein taktisch ein. Das mag stimmen, doch das Lesevergnügen würde diese Haltung selbst dann steigern, wenn sie nur vorgetäuscht wäre. Es ist schwer zu verstehen, dass «Unleashed» nicht zeitgleich mit dem britischen Erscheinungstermin im Oktober ins Deutsche übersetzt wurde. Bei Titeln mit einem grossen Verkaufspotenzial ist das inzwischen die Regel. Wird Johnson wegen seiner Brexit-Politik womöglich von den europapolitisch korrekten deutschen Verlagen boykottiert?
Zu schwach, um Comics zu lesen
Der Brite ist Altphilologe, also Geisteswissenschafter. Merkel ist Naturwissenschafterin. Schon dieser Umstand prägt wahrscheinlich den jeweiligen Erzählstil. Johnson denkt in literarischen Bildern, er zitiert die «Ilias», die «Odyssee», massgebliche Dichter aus dem «Oxford Book of English Verse», «Harry Potter», die Werke der britischen Kinderbuchautoren C. S. Lewis («Narnia») und Enid Blyton («Hanni und Nanni»).
Als er im April 2020 schwer an Corona erkrankt ist und auf der Intensivstation liegt, bringt seine Tochter ihm «Tim und Struppi»-Hefte zum Lesen ins Krankenhaus, weil sie annimmt, dass er sich in seinem Zustand leichte Lektüre wünscht. Doch selbst für Comics geht es dem Premierminister, der seine Amtsgeschäfte vorübergehend ruhen lassen muss, zu schlecht.
«Mir fielen immer wieder die Augen zu», schreibt Johnson, «aber ich wollte auf keinen Fall einschlafen. Zum einen, weil ich Angst hatte, nie wieder aufzuwachen, zum anderen, weil ich Angst hatte, sie (das medizinische Personal, die Red.) könnten sich anschleichen und einen heimtückischen Luftröhrenschnitt machen, ohne es mir vorher zu sagen.»
Nur eins sei an dieser Lage erfreulich gewesen, berichtet Johnson: Als öffentlich bekanntgeworden sei, dass er sich auf der Intensivstation befinde und tatsächlich sterben könne, seien seine Beliebtheitswerte rasant nach oben geschnellt.
Merkel diskreditiert die Positionen ihrer Gegner
Merkel schreibt ganz anders über Corona. Seit Ausbruch der Pandemie moralisiert sie die massiven Freiheitseinschränkungen in Deutschland – und bleibt auch in ihrem Buch «Freiheit» dabei. «Die Alternative», schreibt Merkel in der Rechtfertigung ihrer rigiden Lockdown-Politik, «wäre gewesen, alle Menschen in kurzer Zeit der von dem Virus verursachten Erkrankung auszusetzen und dabei zuzusehen, wie unser Gesundheitssystem kollabierte. Dabei hätten wir den Tod vieler, besonders der Alten und Vorerkrankten, riskiert, wenn nicht billigend in Kauf genommen.»
Nun hatte in Deutschland niemand vorgehabt, Alte und Kranke ungeschützt dem Wüten des Virus auszusetzen. Aber indem Merkel dies unterstellte (und bis heute unterstellt), konnte sie die Position all derjenigen diskreditieren, die über andere Vorgehensweisen im Kampf gegen die Krankheit nachdachten.
Das zweite Menschheitsthema, das die beiden Regierungszeiten – Merkels lange, 16-jährige, Johnsons nurmehr dreijährige als Premierminister – überschattet, sind das Verhältnis zu Russland und Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022, gut zwei Monate nach Merkels Ausscheiden aus dem Amt. Der Eroberungskrieg, den der russische Präsident Wladimir Putin seither gegen das souveräne Land führt, hat sich seit Jahren abgezeichnet, spätestens seit der gewaltsamen Annexion der Krim 2014.
Äquidistanz zu Russland und den westlichen Verbündeten?
Johnson lernte die zögerliche, «gesprächsbereite» Haltung, die die Deutschen und die Franzosen regelmässig gegenüber den Russen einnahmen, schon als britischer Aussenminister kennen. Merkel hatte zwar 2005 im Wahlkampf gegen den Sozialdemokraten Gerhard Schröder jeden Eindruck von deutscher «Äquidistanz» zu den westlichen Verbündeten einerseits und Russland andererseits verurteilt. Das passte damals in ihre Strategie, weil Schröder sich im Wahlkampf als «Friedenskanzler» inszenierte, der – im Rückblick muss man einräumen: zu Recht – eine Beteiligung Deutschlands am amerikanischen Irakkrieg ablehnte.
Doch in ihrem Buch klingt Merkel selbst eigenartig äquidistant. Sie ist einerseits überzeugt davon, Putin zu durchschauen, weiss, dass er ihr «offen die Unwahrheit sagt». Aber sie äussert sich über die Ukraine, als sei diese ein irgendwie zwielichtiges Land (ein Ressentiment, das in Deutschland bis heute bei Russland-Freunden sehr verbreitet ist).
Sie macht sich ab 2014 weniger Sorgen um die Aggressivität Putins als vielmehr darum, «dass jedwede Waffenlieferung diejenigen Kräfte in der ukrainischen Regierung stärken würde, die allein auf eine militärische Lösung hofften, auch wenn eine solche keine Aussicht auf Erfolg hatte. Andererseits verstand ich aber auch, dass wir die Ukrainer nicht schutzlos der russischen Gewalt ausliefern durften. Es war ein Dilemma.» Den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 kommentiert sie technokratisch: «Dieser Tag markiert eine Zäsur in der europäischen Geschichte des Kalten Krieges.»
Johnson hingegen beschreibt, wie er am frühen Morgen dieses Tages vom Aufleuchten seines iPhones geweckt wird. Noch schlaftrunken erkennt er die Nummer von Downing Street 10, dem Amtssitz des britischen Premierministers. Und er weiss: Es hat begonnen.
«Die Panzer rollten über die Grenze, während wir sprachen»
«Er tut es, Premierminister», ruft der Beamte am Telefon: «Er überfällt gerade die Ukraine.» Angelsächsische Flüche ausstossend, habe er sich in seine Kleider geworfen, schreibt Johnson: «Die Panzer rollten über die Grenze, während wir sprachen.» Zwanzig Minuten später habe er am Schreibtisch gesessen und mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski telefoniert. Seine erste Frage habe gelautet: «Sind Sie in Sicherheit?» Er habe seinem ukrainischen Kollegen die Möglichkeit angeboten, eine Exilregierung in London zu bilden, schreibt Johnson.
Selenski habe das höflich abgelehnt, berichtet Johnson weiter und zitiert dessen später berühmt gewordene Formulierung gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden, er brauche «keine Mitfahrgelegenheit, sondern Waffen». «Angesichts seiner Tapferkeit schämte ich mich, auch nur angedeutet zu haben, dass er vielleicht fliehen wolle», schreibt Johnson.
Zu keinem Zeitpunkt lässt er Zweifel daran, dass es Russland und Russland allein ist, das hier eben nicht nur die Ukraine, sondern den freien Westen angreift. Dass die Ukrainer ein Recht auf Selbstbestimmung haben und dass ihnen europäische Friedensfreunde keine «Verhandlungslösung» aufzwingen dürfen, die einer Unterwerfung gleichkommt.
Auch für den russischen Präsidenten verwendet er das Adverb «unleashed», das Titel seines Buches ist. Es bedeutet entfesselt, von der Leine gelassen, und ist eines der typischen Wortspiele, die die Angelsachsen mögen. Natürlich ist Johnson, der wortgewaltige, unberechenbare Politiker, selbst «unleashed». Und Grossbritannien, das er, jedenfalls in seiner eigenen Wahrnehmung, endlich aus den Klauen einer hoffärtigen und willkürlichen EU-Bürokratie gerettet hat, ist ebenfalls von der Leine gelassen.
«Warum Tory?» ist eine Frage, die Johnson sich nicht stellt
Der Brexit ist das eine Thema, bei dem Johnson nichts relativiert, zu dem er ohne Wenn und Aber steht. Das ist insofern überraschend, als er gerade in dieser Frage zunächst nicht besonders festgelegt schien: Für den «Telegraph» schrieb er sogar zwei Leitartikel; einen, in dem er sich vehement für, einen anderen, in dem er sich vehement gegen den Brexit aussprach. Doch jetzt sollen offenbar keine Zweifel mehr gelten.
Das heikelste Thema in Merkels Amtszeit dürfte, wenn man die deutschen Debatten betrachtet, ihre Flüchtlingspolitik in den Jahren ab 2015 gewesen sein. Doch darunter liegt ein fundamentaleres Problem: Merkel, die in ihrem Buch immer wieder auf die Frage «Warum CDU?» zurückkommt, kann sich selbst, ihrer Partei und dem Land ebendiese Frage eigentlich nicht beantworten.
Johnson hingegen ist «Tory» durch und durch, und ausserdem ja auch noch Brite: Ihm ist vollkommen klar, dass man dem politischen Gegner nicht gleichen darf und dass es fast schon eine rhetorische Verpflichtung gibt, ihn sprachlich hart anzugehen. Johnson fragt sich niemals: «Warum konservativ?» Er entwirft das schlüssige Bild einer Politik, die jedem Menschen, der fleissig ist, der kämpft und sich anstrengt, Aufstiegschancen erlaubt. Wie gut seine praktische Politikbilanz aussieht, ist in Grossbritannien zu Recht mehr als umstritten. Aber er formuliert immerhin eine Vision, wie sie die Deutschen bei Merkel schmerzlich vermisst haben.
Angela Merkel mit Beate Baumann: Freiheit. Erinnerungen 1954–2021. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024. 736 S., Fr. 54.90.
Boris Johnson: Unleashed: 10 15 24. Harper Collins U. K. Ltd., London 2024. 784 S., Fr. 51.90.