Die US-Börsen dominieren den Rest der Welt. Anzeichen, dass sich das demnächst ändert, gibt es derzeit nicht. Möglicherweise gewinnen aber Länderindizes zulasten der Sektoren wieder an Bedeutung.
Wenn es aussieht wie eine Ente, läuft wie eine Ente und quakt wie eine Ente, dann ist es eine Ente. Darüber herrscht wohl Einigkeit.
Nach einem Anstieg des MSCI Welt von 20% seit Jahresanfang und von 26% des S&P 500 scheint man kaum mehr bestreiten zu können, dass es zumindest in den USA nach einem Bullenmarkt aussieht, was dank einer Gewichtung von über 70% Balsam für den Weltindex ist.
Der Anstieg des Dax um 17% einerseits und die schwächelnde deutsche Wirtschaft andererseits erinnern daran, dass Konjunktur und Aktienindex eines Landes unter Umständen wenig miteinander zu tun haben können. Das kann daran liegen, dass die meisten Unternehmen in einem Index global aktiv sind.
Was braucht es für nachhaltige Trends?
Und woran erinnert der Anstieg des DJ Stoxx Europe 600 von wenig mehr als 6% seit Jahresanfang? Ich denke daran, dass niedrige Bewertungen alleine nicht genügen, um die Kurse nach oben zu bewegen.
Was es dazu braucht, sind weitgehend übereinstimmende Erwartungen von Populationen, die sich unterschiedlicher Methoden bedienen, um zu ihren Anlageentscheiden zu gelangen. Trotz aller Differenzen, welches Verfahren sich bei der Meinungsbildung zur Zukunft am besten eignet, schmieden die verschiedenen Populationen eine Koalition der Bullen, die in der täglichen Auseinandersetzung gegen die Koalition der Bären antritt.
Die Koalitionen sind instabil
Die Koalitionen an den Börsen sind jedoch instabil. Die Koalitionäre wandern zwischen den Parteien. Die Population der Anhänger fundamentaler Analyse wird beispielsweise nach einer Baisse früher der Partei der Bullen beitreten als die Anhänger reiner Momentum-Modelle, und sie wird nach einer Hausse früher zur Partei der Bären wechseln als die Anhänger reiner Momentum-Strategien.
Die Wanderung der Populationen erkennen
Die Methode zur Identifikation der Populationen-Wanderung liegt in der Marktbreite und der Rotation der relativen Stärke. Rückschlüsse ermöglichen Indizes, die typischerweise zu den Glaubenssätzen der verschiedenen Populationen passen, wie beispielsweise gleich gewichtete Indizes relativ zu den kapitalgewichteten Indizes mit identischen Komponenten, Small Caps vs. Large Caps, Value vs. Growth etc.
Das alles ist eine äusserst wichtige Aufgabe der sogenannten technischen Analyse, die sich keinesfalls auf die Zerlegung von Charts reduzieren darf. Ihre Rolle ist vielmehr die Entwicklung einer Geschichte, die so nahe an die Wirklichkeit kommt, dass sie ihren Zweck erfüllt – und der Zweck besteht in einer erfolgreichen Navigation in jeder Marktphase.
Die USA besetzen einen Sonderstatus
Insbesondere in den USA dominierte das ganze Jahr hindurch die Koalition verschiedener Populationen in der Partei der Bullen, die den Markt antrieb.
Die Partei der Bären ist deutlich schwächer als jene der Bullen. Das sieht man an der Clusterbildung in den meisten Sektoren und Industrien. Trotzdem kommen auch die Bären immer noch zu Wort.
Kritisch wird es auch in den USA, wenn den Bären keine medialen Ventile mehr zugestanden werden, um ihre Meinungen publik zu machen. Wenn ein Bullenmarkt in eine Übertreibung mündet, gibt es immer noch Bären, die jedoch nicht mehr öffentlich zu Wort kommen.
Einen Anflug einer solchen Entwicklung haben wir im DJ US Semiconductors ab dem 19. April dieses Jahres gesehen. Der Markt hat die Entwicklung mit einer Korrektur im August entschärft, bevor sie toxisch werden konnte. Das ist der grosse Unterschied zur Technologie-, Medien- und Telecom-Blase, die sich von April 1998 bis März 2000 aufblähte. Weil es auf dem Weg zur Spitze keine Korrektur gab, platzte sie mit dem Ergebnis, dass das Angebot in ein Nachfrage-Vakuum fiel und die Kurse kollabierten.
Der DJ US Semiconductors schloss den Monat November mit einem immer noch sensationellen Jahresgewinn von rund 69% ab. Das sind rund 9% unter dem im Juni notierten Rekord. Dies ist einer beachtlichen Erholung von 32% seit dem Tiefst der Korrektur, das am 15. August erreicht wurde, zu verdanken. Seit Mitte September wird der US-Halbleiterindex jedoch von anderen Industrie-Indizes überflügelt, darunter vom DJ US Software, der früher die schwächste Industrie im MSCI Information Technology war.
Mittlerweile figuriert Halbleiter unter den fünfzehn schwächsten Industrien aus allen Sektoren. Das alleine zeigt schon, wie viel Momentum in anderen Industrien aus verschiedenen Sektoren entstanden ist.
Kommt der Länderansatz zurück?
Die beste Region ist mit Abstand die USA. Europa ist in allen wesentlichen Kriterien weit abgeschlagen. Das Momentum des DJ Stoxx Europe 600, ausgedrückt in Unifinanz-Ratings, weist einen Faktor von 0,82 im Verhältnis zum S&P 500 auf. Die Marktbreite stagniert um 50% herum, gegenüber rund 75% in den USA.
Manche Leute sagen, Europa sei ein Sandwich, eingeklemmt zwischen den USA und den autoritären Blöcken, insbesondere Russland und China. Das sehe ich anders. Das Beste im Sandwich liegt ja in der Mitte. Richtiger wäre wohl, Europa zwischen Hammer und Amboss zu verorten.
Regelmässige Leserinnen und Leser meiner Kolumne wissen, dass es aus meiner Sicht nur eine Konstante an der Börse gibt: den Wandel.
Die Frage treibt mich um, ob die dominante Rolle der Sektoren, die seit mehr als dreissig Jahren die nach Ländern und Regionen aufgebauten Indizes prägen, vor ihrer Ablösung durch geoökonomische Blockbildungen steht.
Bis jetzt ist das nur ein Gedanke. Es gibt immer noch europäische Aktien, die zur Elite in ihrem jeweiligen Sektor gehören. Allerdings nicht in genügender Menge und mit ausreichendem Gewicht, um die breit aufgestellten europäischen Indizes zu beleben. Das Visier ist für allenfalls auftretende neue Entwicklungen im Verhältnis zwischen Regionen, Sektoren und Industrien jedoch weit offen.
Alfons Cortés