Sarah Meyssonnier / AP
Fünfeinhalb Jahre nach dem verheerenden Brand ist das Wahrzeichen von Paris wiederhergestellt. Für den französischen Präsidenten ist es auch ein persönlicher Triumph.
Sie hielten ihn für verrückt. Für grössenwahnsinnig. Als Emmanuel Macron in einer Fernsehansprache am Tag nach dem Brand der Notre-Dame versprach, das Wahrzeichen von Paris innerhalb von fünf Jahren wieder aufbauen zu lassen – «schöner als zuvor!» –, glaubten viele Franzosen, ihr Präsident sei nicht ganz bei Trost.
Noch schmeckte die Luft über der Île de la Cité nach Rauch und Asche, als sich Macron mit seiner Rede an die Nation wandte. Noch konnte niemand eine Bestandsaufnahme von den Folgen der Feuersbrunst durchführen. Und noch war nicht einmal klar, ob die Struktur der über 860 Jahre alten Kathedrale dem Brand standgehalten hatte. Aber aus dem Bauch heraus, oder doch weil ihm jemand die Zahl zugeflüstert hatte, legte sich der französische Staatschef am 16. April 2019 auf eine Zahl fest.
Fünf Jahre, sagte Macron und fügte ein «Wir schaffen das» an. Die Franzosen seien schliesslich ein «Volk der Baumeister». Und grosse Prüfungen habe dieses Volk in seiner Geschichte schon viele überwinden müssen.
«Kohle in Kunst verwandelt»
Genau 2054 Tage später, an einem Freitag im November, strömen Hunderte von Handwerkern, Spezialisten und Feuerwehrleuten ins Innere der Notre-Dame. Es sind Steinmetze und Maurer unter ihnen, Zimmerleute, Tischlerinnen, Dachdeckerinnen, Glasmaler, Tapezierer, Ingenieure, Brandschutztechniker. Auch der Erzbischof von Paris, Laurent Ulrich, die Bürgermeisterin der Stadt, Anne Hidalgo, die französische Kulturministerin Rachida Dati und die Präsidentengattin Brigitte Macron haben sich im Kirchenschiff versammelt.
Dann schreitet Emmanuel Macron durch die Menge, bevor er auf ein kleines Podest steigt und ein Mikrofon in die Hand nimmt. Es ist sein letzter Besuch auf der «Jahrhundertbaustelle», und Macron will ihn nutzen, um allen Beteiligten des Wiederaufbaus zu danken. «Sie haben es geschafft», sagt er, «Sie haben Kohle in Kunst verwandelt. Dieser Brand war eine nationale Wunde, und Sie waren ihr Heilmittel.»
Der Präsident hat seine Wette gewonnen. Davon zeugen die spektakulären Bilder aus der Notre-Dame, die das Fernsehen an diesem Tag überträgt. Zu sehen sind strahlend helle Mauern, die nicht nur von den Blei- und Russablagerungen des Brandes befreit wurden, sondern gleich zu ihrer ursprünglichen Farbe zurückfanden, die im Laufe der Jahrhunderte verblasst war.
Die Kameras verfolgen Macron bei seinem Rundgang durch die restaurierte Kathedrale. Sie filmen, wie er den neuen Dachstuhl bewundert, der mit mittelalterlichen Werkzeugen originalgetreu wieder aufgebaut wurde. Wie er sich von einem Organologen die Reinigung der grossen Orgel erklären lässt, deren 8000 Pfeifen einzeln zerlegt und vom Bleistaub befreit werden mussten. «Es ist erhaben, es ist grossartig», sagt Macron immer wieder, mit einem seligen Lächeln.
Obwohl die Notre-Dame offiziell erst am 7. und 8. Dezember wiedereröffnet wird, hat sich der Präsident diese Vorpremiere gegönnt. Eine Rede im Kirchenschiff während der Feierlichkeiten wollte ihm die Diözese von Paris nicht durchgehen lassen. Es wäre ein Verstoss gegen die kirchliche Autorität und auch gegen die Trennung von Staat und Kirche gewesen. Aber so steht der oberste Wiederaufbaumeister bei seiner «Baustellenbesichtigung» eben auch allein im Rampenlicht.
Mit der Schlagzeile «Emmanuel Macron fait son seul en Cène» fängt die Zeitung «Libération» die Atmosphäre am nächsten Tag treffend ein. Man kann das Wortspiel so verstehen, dass der Präsident sein letztes Abendmahl inszeniert oder den Alleinunterhalter gibt. Aber was ist eigentlich falsch daran, einen Erfolg auszukosten, den lange niemand für möglich hielt?
Gespür für ein nationales Symbol
Seit Gründung der Fünften Republik sahen fast alle französischen Präsidenten einen Sinn darin, der Nachwelt grosse architektonische Projekte zu hinterlassen. Für François Mitterrand waren das unter anderem die Glaspyramide im Innenhof des Louvre und die Grande Arche von La Defense, für Georges Pompidou das gleichnamige Kunst- und Kulturzentrum, für Valéry Giscard d’Estaing das Musée d’Orsay, für Jacques Chirac das Musée du Quai Branly.
Macrons Projekt sollte die Rettung des Renaissance-Schlosses von François I. in Villers-Cotterêts sein, das entschied er schon, bevor er im Mai 2017 gewählt wurde. Für das meistbesuchte, aber dringend sanierungsbedürftige Monument von Paris, die Notre-Dame, brachte er damals keine grössere Leidenschaft auf.
In der Nacht des 15. April 2019 jedoch, das berichten alle, die ihn in der Nähe des Brandes gesehen haben, stand der Präsident wie gelähmt vor den Flammen. Die Bilder des einstürzenden Vierungsturms, der entsetzten Schaulustigen und der betenden Christen verfehlten ihre Wirkung nicht. «Er hat diese Intuition, dieses Gespür für Ereignisse», sagt einer, der ihn in der Nacht begleitete. Macron beschloss, die Notre-Dame wiederaufzubauen, so schnell wie möglich und um jeden Preis.
Kurz zuvor hatte Macron noch eine Fernsehansprache im Élysée-Palast aufgezeichnet, um einen ganz anderen Brand zu löschen: den der Gelbwesten. Die Bürgerbewegung, die damals das halbe Land lahmlegte, um gegen hohe Spritpreise zu protestieren, gefährdete Macrons noch junge Präsidentschaft. Aber jene Aufnahme wurde nie ausgestrahlt. Denn nun gab es Wichtigeres. Die Rettung der Notre-Dame, welches Symbol für die Widerstandsfähigkeit der Nation konnte stärker sein?
Rasch ernannte Macron einen Sonderbeauftragten, den Fünf-Sterne-General Jean-Louis Georgelin. Das sollte es erleichtern, die Restaurierung auf Biegen und Brechen und nicht selten zum Leidwesen von Architekten und Denkmalschützern voranzutreiben. Etwa als ein Wettbewerb für die Gestaltung zeitgenössischer Glasfenster in den sechs Kapellen des südlichen Seitenschiffes ausgerufen wurde, obwohl die historischen Fenster von Viollet-le-Duc vom Feuer verschont geblieben waren. Auch beim zerstörten Spitzturm schwebte Macron zunächst eine moderne Neugestaltung und kein originalgetreuer Wiederaufbau vor.
Eine Obsession
Für Macron, sagt die ehemalige Kulturministerin Rima Abdul Malak, sei die Notre-Dame zur Obsession geworden: «Er wollte die Bilder sehen, die Modelle, sogar die künstlerischen Vorschläge für das liturgische Mobiliar und die Stühle.» Die ehrgeizige, disruptive, zuweilen rücksichtslose Vorgehensweise des Präsidenten steht stellvertretend für seinen Regierungsstil, den Macronismus.
Und das bekamen auch die Kirchenoberen zu spüren. Denn Macron, der Absolvent einer Jesuitenschule, zugleich aber überzeugter Laizist, wollte auch bei der Zeremonie der Wiederöffnung mitreden. Seine Vorstellung war es, den Erzbischof Laurent Ulrich am 7. Dezember unter den gotischen Gewölben zu empfangen und dann vor laufenden Kameras die Schlüssel der Notre-Dame zu übergeben. Damit hätte das republikanische Staatsoberhaupt freilich eine jahrhundertealte Tradition gebrochen, wonach der Erzbischof als Herr der Kathedrale erst dreimal mit seinem Bischofsstab an die verschlossene Tür des Gebäudes klopft und sie dann als Erster alleine betritt, um sie zu «sakralisieren».
Die Notre-Dame gehört dem französischen Staat, die katholische Kirche hat allein ein Nutzungsrecht, aber sie gebietet natürlich über den Ablauf der religiösen Zeremonien. Finanziert, auch das darf man nicht vergessen, wurde der Wiederaufbau zudem keineswegs vom Staat, sondern aus privater Hand.
Und dennoch: Ohne Macron, darin ist man sich in Frankreich einig, wäre die Notre-Dame de Paris nie so schnell aus der Asche auferstanden. Der Präsident musste wohl erst den Anstoss geben, dass sich Tausende Ingenieursgehirne und Handwerkerarme an die verrückte Frist von fünf Jahren hielten. Dafür gebührt ihm Ehre. Ob die Franzosen deswegen heute versöhnlicher auf ihn schauen – ihm, dem politisch und wirtschaftlich wenig geglückt ist und der sein Land an den Rand der Unregierbarkeit gerückt hat –, ist eine ganz andere Frage.