Der Euro ist zum Franken und zum Dollar auf Talfahrt gegangen, obwohl die Europäische Zentralbank die Leitzinsen erhöht hat. Wie sich die Schwäche der europäischen Gemeinschaftswährung erklärt.
Der Euro wird gegenüber dem Franken und dem Dollar immer schwächer. Gegenüber der Schweizer Währung notiert die europäische Gemeinschaftswährung nahe ihrem Rekordtief. Am Freitagabend wurden für einen Euro 0.9566 Franken bezahlt, am Donnerstagabend waren es sogar nur 0.9524 Franken. Damit war der Euro nicht weit entfernt von seinem Tiefstwert von 0.9502 Franken, den er Ende September vergangenen Jahres erreicht hatte.
Auch gegenüber dem Dollar notierte der Euro jüngst deutlich schwächer. Am Donnerstag erreichte er bei 1.0632 Dollar den tiefsten Stand seit einem halben Jahr.
Auf den ersten Blick erstaunt dies. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat schliesslich den Einlagezins am Donnerstag um 0,25 Prozentpunkte auf 4 Prozent erhöht. Es war die zehnte Erhöhung in Folge. Ende Juli vergangenen Jahres lag der Zins noch bei –0,5 Prozent – die EZB hat die Geldpolitik in den vergangenen Monaten also beträchtlich gestrafft.
Höhere Zinsen stärken im Allgemeinen eine Währung – und mit der EZB-Zinserhöhung am Donnerstag hatten viele Marktteilnehmer nicht gerechnet. «Die Reaktion des Euro auf die Zinserhöhung der EZB am Donnerstag war überraschend», sagt denn auch Thomas Stucki, Anlagechef der St. Galler Kantonalbank (SGKB). Was sind dann also die Gründe für die Euro-Schwäche?
Wirtschaft in der Stagflation
Der Dollar profitiere davon, dass sich die amerikanische Wirtschaft relativ gut hält, sagt Stucki – obwohl schon länger mit einem Abschwung gerechnet wird. Der Franken habe indessen gegenüber dem Euro auch deshalb zugelegt, weil die Schweizerische Nationalbank weiterhin aktiv am Markt sei und Fremdwährungen verkaufe.
Es gibt aber vor allem einen ganzen Cocktail an Nachrichten zur Euro-Zone und zum Euro, welche die europäische Gemeinschaftswährung schwächen. Dies sind die folgenden:
Anleger rechnen nicht mit weiteren Zinserhöhungen: Zunächst einmal wurde der Euro wohl dadurch geschwächt, dass die EZB-Vertreter in Aussicht stellten, dass vorerst keine weiteren Zinserhöhungen geplant seien. Nun gehen viele Investoren davon aus, dass die Zinsen über eine längere Zeit hinweg unverändert bleiben dürften – der «Zinsgipfel» wäre also erreicht.
Am Freitag sagte der EZB-Vizepräsident Luis de Guindos laut Agenturberichten in einem Radiointerview, die jüngsten Erhöhungen des Zinsniveaus in der Euro-Zone dürften – wenn dies einige Zeit lang beibehalten werde – ausreichen, um die Inflation dem 2-Prozent-Ziel der EZB anzunähern. Laut der Nachrichtenagentur Bloomberg haben die Finanzmärkte während der Rede der EZB-Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag bereits rund drei viertelprozentige Zinssenkungen im Jahr 2024 eingepreist.
Wirtschaft in der Stagflation: Auch die schlechte wirtschaftliche Lage der Euro-Zone schwächt die Gemeinschaftswährung. Sie leidet derzeit unter dem Phänomen der sogenannten Stagflation. Bei diesem Sprachgebilde handelt es sich um eine Koppelung der Wörter Stagnation und Inflation. Während die Wirtschaft nicht vom Fleck kommt, bleibt gleichzeitig die Teuerung hoch. Im August lag die Inflation in der Euro-Zone immer noch bei 5,3 Prozent.
«Eine Stagflation ist die schlechteste aller möglichen Kombinationen», sagt Karsten Junius, der Chefökonom der Bank J. Safra Sarasin. «Wir müssen uns aber auf einige Quartale mit Stagflation in der Euro-Zone einrichten.» Die Inflation dürfte in der kommenden Zeit zu hoch bleiben. Unter anderem verhindere die starke Nachfrage nach Arbeitskräften, dass die Löhne sinken – was wiederum die Teuerung hoch hält. Auch könnten die Deglobalisierung, die demografische Entwicklung sowie der Klimawandel den Inflationsdruck erhöhen.
Schwache wirtschaftliche Lage in Deutschland: Auch die schwierige Lage der deutschen Wirtschaft spielt eine Rolle. Das Land wurde jüngst wieder als «kranker Mann Europas» gehandelt, obwohl die Wirtschaft doch eigentlich das Zugpferd für die Euro-Zone sein sollte. Die deutsche Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren an Wettbewerbsfähigkeit verloren, die hohen Energiepreise belasten die Industrie. Zudem ist die deutsche Wirtschaft abhängig von der Nachfrage aus China.
Wirtschaftskrise in China: Auch die Krise im Reich der Mitte belastet die Wirtschaft in der Euro-Zone erheblich. Die chinesische Wirtschaft leidet unter einer Immobilienkrise. Der Immobilienentwickler Country Garden stand mehrmals knapp vor dem Zahlungsausfall, und das ebenfalls in dieser Branche tätige Unternehmen Evergrande hat im August in den Vereinigten Staaten Gläubigerschutz beantragt.
Der Immobiliensektor macht einen grossen Teil der chinesischen Wirtschaftsleistung aus. Junius hält eine starke Konjunkturerholung in China für unwahrscheinlich. Er weist darauf hin, dass die monatliche Kreditvergabe im Juli dieses Jahres auf ein 14-Jahr-Tief gefallen ist.
Eine Belastung auch für die Schweizer Wirtschaft
Die schlechte Entwicklung in der Euro-Zone ist auch nicht gut für die Schweizer Wirtschaft. Das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) der Schweiz lag im zweiten Quartal dieses Jahres bei 0 Prozent. Hart traf es die Schweizer Industrie, sie bekam die Flauten von Märkten wie China und Europa zu spüren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Schweizerische Nationalbank (SNB) die Leitzinsen am 21. September weiter erhöhen wird.
Wie sollten Sparer und Anleger im derzeitigen Umfeld agieren? Junius ist derzeit zurückhaltend gegenüber Aktien. Der konjunkturelle Gegenwind dürfte bis zum Jahresende steigen, denn der Aufschwung in den USA dürfte an Dynamik verlieren. Viele Aktien seien auf den derzeitigen Kursniveaus teuer.
Er bevorzugt bei Aktienanlagen derzeit defensive Märkte wie Grossbritannien oder die Schweiz. Bei defensiven Aktienmärkten sind Titel stark gewichtet, die weniger stark vom Verlauf der Wirtschaft abhängig sind – beispielsweise Aktien von Pharma- oder Nahrungsmittelherstellern.
Im ersten Halbjahr hatten sich derweil zyklische, also konjunkturabhängige Aktien besser geschlagen als defensive. Titel aus der Euro-Zone empfiehlt der Safra-Sarasin-Chefökonom zu meiden, obwohl diese oftmals günstig bewertet sind. Dies hänge mit dem sich abschwächenden Konjunkturzyklus in Europa und China zusammen.