Die grösste Menschenrechtsorganisation der Welt erhebt schwere Vorwürfe gegen den jüdischen Staat und mischt sich damit in eine hoch politisierte Debatte ein. In Israel sorgt der Bericht für Empörung – und auch Amnesty-intern ist er umstritten.
Bereits wenige Wochen nach dem brutalen Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem Beginn des Krieges im Gazastreifen wurden die ersten Stimmen laut, die Israel vorwarfen, einen Völkermord an den Palästinensern zu begehen. Im Dezember vergangenen Jahres zog Südafrika mit einer Genozid-Klage gegen Israel vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag und sorgte für gehässige juristische Debatten. Gleichzeitig hat sich das Wort «Genozid» zu einem politischen Kampfbegriff entwickelt, der primär von propalästinensischen Aktivisten verwendet wird.
Nun mischt sich auch Amnesty International, die weltweit grösste Menschenrechtsorganisation, in diese hoch politisierte Thematik ein. In einem am Donnerstag veröffentlichten, 300-seitigen Bericht kommt Amnesty zu dem Schluss, «dass es genügend Beweise für die Annahme gibt, dass Israels Verhalten in Gaza einem Völkermord gleichkommt».
Fokus auf Luftangriffe und Hilfslieferungen
Die Organisation basiert ihre Erkenntnisse unter anderem auf Interviews mit 212 Personen, unter ihnen vom Krieg betroffene Palästinenser sowie Vertreter von im Gazastreifen tätigen Nichtregierungsorganisationen (NGO). Ausserdem hat Amnesty Satellitenbilder, Videos sowie Datensätze der Vereinten Nationen und israelischer Behörden ausgewertet. Auffallend ist, dass sich die Organisation vor allem auf Experten der Uno und diverser NGO beruft, aber offenbar keine unabhängigen Militär- oder Völkerrechtsexperten konsultiert hat.
Israel habe mit wahllosen und willkürlichen Angriffen absichtlich Tausende Palästinenser getötet und die Lieferung von lebensnotwendigen Hilfsgütern behindert, heisst es in dem Bericht. Einen besonderen Fokus legt Amnesty auf 15 israelische Luftangriffe zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 20. April 2024, bei denen laut dem Bericht mindestens 334 Zivilisten getötet wurden. Dabei seien keine Beweise gefunden worden, dass sich diese Attacken gegen militärische Ziele gerichtet hätten. Der Umstand, dass die Hamas in zivilen Einrichtungen agiere, entbinde Israel nicht von seiner Verpflichtung, die Zivilbevölkerung zu schützen.
Allerdings reicht das Begehen von mutmasslichen Kriegsverbrechen noch nicht aus, um einen Genozid festzustellen. Die Völkermordkonvention legt fest, dass solche Taten in der Absicht erfolgen müssen, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise auszulöschen. Amnesty gibt an, eine solche Vernichtungsabsicht zweifelsfrei festgestellt zu haben: Einerseits macht die Organisation dabei ein «Verhaltensmuster» von direkten Attacken auf Zivilisten, zivile Infrastruktur sowie religiöse und kulturelle Einrichtungen geltend. Andererseits bezieht sie sich auf 102 Aussagen von israelischen Beamten, Politikern und Militärs, die offenbar zu völkermörderischen Handlungen aufriefen oder diese rechtfertigten.
Vorwürfe gegen den Bericht
In Israel hat der Amnesty-Bericht für Empörung gesorgt. «Die bedauernswerte und fanatische Organisation Amnesty International hat wieder einmal einen fabrizierten Bericht vorgelegt, der völlig falsch ist und auf Lügen beruht», schrieb das israelische Aussenministerium in einer Mitteilung. Israel hat wiederholt erklärt, die Armee halte sich strikt ans Völkerrecht und unternehme alles, um die Zivilbevölkerung zu schützen.
Doch auch innerhalb von Amnesty International hat der Bericht zu Spannungen geführt. So hat der israelische Ableger der Organisation – der an der Ausarbeitung des Papiers nicht beteiligt war – in einer Mitteilung festgehalten, dass zwar der Verdacht auf schwere Verstösse gegen das Völkerrecht bestehe, es aber zweifelhaft sei, dass dabei auch die Absicht zur Zerstörung der palästinensischen Bevölkerung nachgewiesen worden sei.
Noch konkreter wurde eine Gruppe von mehreren Angehörigen von Amnesty Israel und jüdischen Mitgliedern von Amnesty International: In einer Mitteilung, die die israelische Zeitung «Haaretz» eingesehen hat, hält die Gruppe fest, dass der Bericht eine «künstliche Analyse» der Lage im Gazastreifen liefere. Das Dokument sei durch den Wunsch motiviert, «ein populäres Narrativ in der Zielgruppe von Amnesty International zu unterstützen».
Derweil hat Amnesty International angekündigt, demnächst einen weiteren Bericht über die von der Hamas begangenen Verbrechen vorzulegen.