Die Value-Investoren Georg von Wyss und Markus Kaussen von BWM sagen im Interview, wie es um den Anlagestil steht, und erklären, weshalb sie Potenzial in den Aktien von Wacker Chemie, Inchcape, Elmos Semiconductor und Bayer sehen.
«Alle Investoren rennen denselben Aktien nach», sagen Georg von Wyss und Markus Kaussen von BWM im Gespräch und meinen damit die grossen US-Titel. Das schmerzt die beiden Value-Investoren, die abseits des Mainstreams auf billige europäische Titel setzen.
Trotz der Baisse in diesem Segment – oder gerade deswegen – sehen sie derzeit die perfekte Ausgangslage, um in kleine, unterbewertete europäische Unternehmen zu investieren. Warum und wo, erklären sie im Interview.
Herr von Wyss, Herr Kaussen, Sie sind Value-Spezialisten. Doch Ihr Anlagestil leidet seit zehn Jahren – vielleicht mit Ausnahme von 2022. Warum suchen Sie weiterhin abseits des Mainstreams nach unterbewerteten Aktien?
Von Wyss: Weil unterbewertete Titel über lange Zeiträume teure schlagen. Auch im vergangenen Jahr gab es einzelne Value-Anlagen, die sehr gut gelaufen sind: die Aktien des finnischen Schiffsmotorenherstellers Wärtsilä, des italienischen Zementkonzerns Buzzi oder des Schweizer Schliesstechnikers Dormakaba. Das Einzige, was an den Märkten derzeit aber uneingeschränkt zieht, sind US-Valoren. Überall dort, wo Unsicherheiten belasten, harzt es. Das schmerzt uns. Wir sind mehrheitlich in europäischen Titeln investiert und dabei vor allem in kleinen Werten, die an der Börse vernachlässigt werden.
Kaussen: Alle Investoren rennen derzeit denselben Aktien nach und orientieren sich am Momentum. Dazu kommt ein sehr hoher Anteil passiv angelegter Gelder, die die Ausschläge verstärken. Dies besonders in den kleinen Werten, da darin ohnehin kaum mehr Kapital steckt. Im S&P 500, der 500 Aktien umfasst, machen die zehn grössten Titel – also 2% des Index – fast 35% der Marktkapitalisierung aus.
Was bedeutet diese Marktkonzentration für Value?
Von Wyss: Value-Investoren fokussieren oft auf kleinere Unternehmen. Damit gibt es einen Zusammenhang zwischen unserer Performance und der Marktkonzentration. Steigt die Marktkonzentration, akkumuliert sich das Geld in den grosskapitalisierten Werten, und die kleinen werden abgehängt. Umgekehrt gilt: In Zeiten wie diesen, in denen die Marktkonzentration rekordhoch ist, ist das Erholungspotenzial der kleinen Werte enorm.
Sie meinen: Die Ausgangslage für die künftige Entwicklung von Value ist sehr gut?
Von Wyss: Für einen Contrarian, also jemanden, der den Mut aufbringt, gegen den Strom zu schwimmen und in kleine, unterbewertete Unternehmen zu investieren, ist die Ausgangslage nun perfekt. Man müsste meinen, dass alle, die langfristig Kapital allozieren – Pensionskassen, Versicherer und so weiter –, jetzt einen Teil ihres Anlageportfolios in billige europäische Aktien umschichten: Die Drohung Trumps mit Zöllen lastet auf diesen Titeln. Die verfahrene politische Situation in Frankreich. Doch das wird sich irgendwann lösen und ist in den Preisen enthalten, schlimmer kann es jedenfalls nicht mehr kommen. In Deutschland könnte ein Schritt zur politischen Klärung gar bereits im Februar folgen.
Schichten Institutionelle tatsächlich in europäischen Value um?
Von Wyss: Nein, niemand bringt derzeit den Mut auf, auf die langfristigen Gesetzmässigkeiten der Finanzmärkte zu setzen.
Kaussen: Für uns ist offensichtlich, dass sich eine riesige Spannung im Markt aufgebaut hat. Wann die Märkte drehen und was der Auslöser dafür sein wird, ist aber offen.
Sie setzen schon jetzt darauf, dass Value-Aktien ein Revival starten, und suchen nach billigen Titeln. Wie gehen Sie vor?
Von Wyss: Wenn ein Unternehmen nur noch schlecht verdient und die Bewertung gesunken ist, fragen wir uns, was der Grund dafür ist, und schätzen die Wahrscheinlichkeit ab, dass der Gewinn in drei Jahren höher ist. Auslöser für eine Schwäche kann zum Beispiel ein zyklisches Tief oder ein schlechtes Management sein – oder viele Klagen, wie Bayer sie derzeit am Hals hat.
Kaussen: Falls sich solche Probleme lösen lassen, bietet das eine Investitionschance. Schwierig wird es hingegen, wenn eine ganze Industrie leidet, beispielsweise die europäischen Autobauer, die strukturell unter der Umstellung auf die Elektromobilität sowie unter der chinesischen Konkurrenz leiden.
Dieser Blick schafft zwei Hebel: Im Erfolgsfall steigt der Gewinn, und gleichzeitig expandiert die Bewertung, was zusammen eine starke Kursentwicklung verspricht. Worauf setzen Sie derzeit? Lassen Sie mich raten: Europa, gar deutsche Chemie?
Von Wyss: Genau, eine Horrorkombination. Wir sind deshalb dieses Jahr neu bei Wacker Chemie eingestiegen – das Unternehmen investiert gar zusätzlich in seinen deutschen Standort. Die Aktien stehen unter enormem Druck.
Was zeichnet Wacker aus?
Von Wyss: Wacker hat vier Sparten. Der wichtigste Gewinnträger sind Silikone. Das Material kann je nach Formulierung höchst unterschiedlichen Anwendungszwecken dienen. Wacker hat sich hier in Richtung Spezialitäten bewegt, die individuell für Kunden gefertigt werden. Das bringt sowohl Kundentreue als auch gute Margen.
Kaussen: Dennoch bleibt das Geschäft zyklisch – beispielsweise mit der Autoindustrie als grossem Abnehmer. Zudem bietet Wacker Polymere, etwa für die Bauindustrie mit Sika als Grosskunden. In beiden Bereichen dürfte die Nachfrage inzwischen den Boden erreicht haben.
Welche weiteren Bereiche hat das Unternehmen?
Von Wyss: Das dritte Standbein ist Polysilicium. Daraus werden sowohl Solarpanels als auch Wafer für Chips hergestellt. Rund die Hälfte der Produktion geht als hochreines Polysilicium in die Chipindustrie. Wacker rühmt sich, die weltweit höchste Qualität zu bieten.
Was spricht für die Aktien?
Von Wyss: Die Nachfrage nach Silikon wird zurückkehren, was mit steigender Menge die Marge des Bereichs anziehen lassen wird. Zudem sprechen die Zölle – Wacker produziert in den USA Polysilicium für Chips und Solarpanels – für eine Margenverbesserung in letzterem Bereich. Beim Polysilicium für Wafer-Hersteller wiederum vergrössert das Unternehmen stetig seinen Marktanteil und baut derzeit in Bayern die Produktion aus. Insgesamt rechtfertigt diese Perspektive eine Kursverdoppelung.
Was haben Sie weiter in Ihr Portfolio aufgenommen?
Kaussen: Seit einem Jahr sind wir in Inchcape investiert. Das ist quasi die Amag der südlichen Welthalbkugel. Dort fungiert das britische Unternehmen als grösster unabhängiger Autoimporteur, und zwar in Ländern, deren Markt für die Automobilhersteller zu klein ist, um eine eigene Vertriebsstruktur aufzubauen: Chile, Kolumbien, Singapur, Hongkong, Australien, Äthiopien usw.
Zu Beginn des Gesprächs haben Sie darauf verwiesen, dass der Automarkt ein gefährliches Investitionspflaster sei. Nun sind Sie neben Wacker in einem weiteren Unternehmen investiert, das von diesem Markt abhängig ist. Wie das?
Kaussen: Mit der deutschen Elmos Semiconductor, die Halbleiter für Autos herstellt, gar in ein drittes. Die Gründe sind unternehmensspezifisch: Inchcape hat in dem halben Jahrhundert, in dem sie tätig ist, noch nie einen Vertrag verloren, sondern wächst stetig, indem sie neue Marken und Länder übernimmt.
Von Wyss: Die Vertriebsstruktur von Inchcape ist höchst effizient. Beispielsweise in Peru und Chile vertritt sie über dreissig Marken, von BMW, Mercedes bis hin zu den chinesischen Anbietern. Mit diesem Geschäft generiert sie stetig 6 bis 7% Marge.
Was spricht für eine Investition?
Kaussen: Die Aktien handeln zu einem KGV von 9, während das Unternehmen jährlich mindestens im mittleren einstelligen Prozentbereich wächst. Die Anzahl Autos je Einwohner ist in diesen Märkten noch deutlich geringer als bei uns, was Wachstumspotenzial verspricht. Zudem bindet die Vertriebsstruktur kaum Umlaufvermögen, sondern wirft direkt hohe Cash-Margen ab.
Gehen wir zu Elmos Semiconductor. Was zeichnet den deutschen Halbleiterhersteller aus?
Kaussen: Auch hier gilt – Auto, deutsch, klein, das wird an der Börse abgestraft. Doch Elmos wächst dieses Jahr 4%, und zwar obwohl 6% der Nachfrage wegen des noch laufenden Lagerabbaus fehlen. Die Endnachfrage nach ihren Chips hat volle 10% zugenommen, obwohl der Automobilsektor harzt. Weil jedes Auto, das neu gebaut wird, einen höheren Anteil an Elektronik hat, erwartet das Management auch für die kommenden Jahre Wachstum.
Was genau bietet Elmos an?
Kaussen: Das Unternehmen ist Weltmarktführer bei Chips, die die Daten verarbeiten, die beispielsweise Ultraschallsensoren zum Parken liefern. Zudem steuern sie Airbags, Rück- und Blinklichter.
Was lastet auf der Bewertung?
Kaussen: Ein Problem ist die bislang schwache Bargeldgenerierung. Doch das liegt am fulminanten Wachstum, in das Elmos in den vergangenen Jahren investiert hat. Die Gesellschaft sollte nun weiter 7 bis 8% jährlich wachsen, die Kapitalausgaben dürften sich jedoch halbieren. Jetzt beginnt der Cashflow zu sprudeln, aber die Aktien handeln gleichwohl zu einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von lediglich 9.
Wo sind Sie ausserhalb des Automobilsektors fündig geworden?
Von Wyss: Bei Elis. Das ist ein sterbenslangweiliges Unternehmen – und französisch. Die dortigen politischen Verwerfungen belasten die Aktien, obwohl sie für das Geschäftsmodell irrelevant sind.
Was macht Elis?
Von Wyss: Es ist eine Wäscherei für Hotels usw. Der Lastwagen von Elis bringt saubere Bettwäsche sowie Tücher oder Uniformen, nimmt die verschmutzten mit und fährt zum nächsten Kunden. Das ist ein lokales Geschäft, und die Effizienz hängt davon ab, dass in kurzer Zeit möglichst viele Kunden in einer Fahrt bedient werden können. Ein dichtes Netz verbessert zudem die Auslastung der eigenen Wäschereien.
Was macht die Aktien attraktiv?
Von Wyss: In allen Regionen, in denen Elis stark ist, verdrängt sie die lokale Konkurrenz. Dank Grössenvorteilen kann sie günstiger offerieren und dennoch höhere Margen einfahren.
Kaussen: Dazu kommt, dass Elis operativ sehr gut arbeitet und mit Übernahmen nach Skandinavien und Grossbritannien expandiert, um ihr Erfolgsmodell in neue Länder auszudehnen. Dieses wachsende Nischengeschäft gibt es derzeit zu einem KGV von 10. Die faire Bewertung sehen wir bei 15 oder mehr.
Das Problem dabei ist: Elis mag ein gutes Unternehmen sein, doch wer wird je bereit sein, Ihnen diese französischen Titel zu einem Aufpreis von 50% abzukaufen?
Von Wyss: Irgendwann werden die Anleger feststellen, dass sie zu stark in US-Aktien und zu schwach in europäischen Titeln investiert sind – und dass die Politik keinen Einfluss auf den Erfolg einer Wäscherei hat. Zudem ist das Geschäftsmodell von Elis auch für Private Equity interessant. In jedem Fall gilt: Der Wert ist da, und mit Elis liegt eine lukrative Arbitrage-Möglichkeit vor, die derzeit von allen ignoriert wird. Deshalb haben wir gekauft.
Apropos Private Equity: Angesichts Ihres Anlagestils verwundert die spekulative Position in SoftwareOne. Der ausgewechselte Verwaltungsrat ist verkaufswillig, dennoch gibt es bislang keinen Deal.
Von Wyss: Anfang Jahr haben wir eine kleine Position gekauft, weil wir davon ausgingen, dass die Übernahme durch Private Equity und die Gründer kommen werde. Das ist vorläufig in die Hose gegangen.
Gehen wir zu Ihrer grössten Position, Fresenius. Was zeichnet das deutsche Gesundheitsunternehmen aus?
Von Wyss: Fresenius war unter dem späteren Nestlé-Chef Mark Schneider hoch bewertet. Dann übernahm Finanzchef Stephan Sturm, und die Bewertung halbierte sich auf ein KGV von 10. Das hatte mitunter damit zu tun, dass das Wachstum der Pharmatochter Fresenius Kabi abflaute. Wegen gleichzeitiger Kostenprobleme sowie erhöhter Forschungsaufwendungen schrumpfte die Marge, und beim Gesamtkonzern kollabierte die Gewinnentwicklung von zuvor im Schnitt zweistelligen Wachstumsraten auf null.
Was spricht nun für die Aktien?
Von Wyss: Mit Michael Sen ist ein neuer CEO da, der die Probleme angeht. Die Marge erholt sich seit 2023. Nachdem die Wende greifbar geworden war, begann auch der Kurs anzuziehen, was Fresenius zu unserer grössten Position heranwachsen liess.
Bauen Sie nun ab?
Von Wyss: Fresenius bildet ein gutes Gegengewicht zu unserem industrielastigen Portfolio. Wir bleiben investiert. Unsere Erwartung ist, dass der Gewinn künftig überproportional zum Umsatzwachstum zulegen wird und die Bewertung auf ein faires Niveau zurückkehrt. Wir veranschlagen es bei rund 15. Persönlich hege ich zudem die Hoffnung, dass sich das Unternehmen aufspaltet: Fresenius Helios, die kapitalintensive Gesundheitseinrichtungen betreibt, und das Pharmageschäft von Fresenius Kabi passen nicht zusammen.
In die gegenteilige Richtung ging es bei Bayer: Aufgrund des schwachen Kursverlaufs sind die Valoren, die Sie letztes Jahr neu aufgenommen haben, aus Ihren Toppositionen verschwunden. Was ist schiefgelaufen?
Von Wyss: Bei Bayer sahen wir damals übermässigen Pessimismus und waren überzeugt, der neue CEO Bill Anderson werde einen besseren Job machen als sein Vorgänger Werner Baumann. Dieser Überzeugung sind wir heute noch – ausser, dass hier die Aufspaltungsfantasie weg ist.
Der Kursverlauf zeigt seither klar nach unten.
Von Wyss: Der Kurs hat nicht immer recht. Wir erkennen, wie Anderson in die richtige Richtung steuert, die Strukturen verschlankt und die Kosten senkt. Dass die Nachfrage in der Chemie derzeit allgemein schwächelt, liegt ausserhalb seines Einflussbereichs; dass die Pipeline im Pharmabereich schlecht gefüllt ist, lässt sich ebenfalls nicht sofort ändern.
Zudem sind weiterhin Milliardenklagen hängig. Dies wegen der von Monsanto übernommenen Altlasten. Was erwarten Sie diesbezüglich?
Von Wyss: Die gute Nachricht ist, dass 2025 das Glyphosat-Thema vom US Supreme Court behandelt werden wird. Nahezu unabhängig davon, wie das Verdikt ausfallen wird: Es wird diese Unsicherheit beenden, die auf den Aktien lastet. Welcher anständige Portfoliomanager will schon ein europäisches Chemieunternehmen im Portfolio haben, das in den USA gegen Klagen kämpft?
Sie offensichtlich.
Von Wyss: Bayer handelt derzeit zu einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 4 und zu lediglich 0,6 des Buchwerts. Das ist nicht normal für ein Unternehmen, das freien Cashflow generiert. Wir sehen operatives Verbesserungspotenzial und damit einhergehend über die Zeit deutliche Kurschancen. Die eingangs erwähnten Investitionsbeispiele Wärtsilä oder Dormakaba zeigen: Wenn sich eine Gesellschaft in die richtige Richtung bewegt, kommen mit etwas Verzögerung auch ihre Aktien in Schwung. Wir versuchen, solche Entwicklungen zu antizipieren, und springen nicht auf einen bereits fahrenden Zug auf.
Zur Person
Georg von Wyss ist Partner und Portfoliomanager bei BWM Value Investing. Der gebürtige Zürcher wuchs in den USA auf und schloss mit einem B.A. in Literatur und Ökonomie sowie einem M.A. in Anglistik und vergleichenden Literaturwissenschaften der Columbia University ab. Nach zwei Jahren als Finanzjournalist machte er einen MBA an der Tuck School am Dartmouth College und arbeitete danach als Finanzanalyst bei Mutual Series Fund und Rüd, Blass. 1997 hat der heute 60-Jährige zusammen mit Thomas Braun und Erich Müller die Fondsboutique BWM gegründet.
Zur Person
Markus Kaussen ist Partner und Aktienanalyst bei BWM Value Investing. Nach dem Abschluss des Volkswirtschaftsstudiums an der Universität St. Gallen 1998 war der heute 50-Jährige Portfoliomanager bei UBS Asset Management und danach Aktienanalyst bei der Rothschild Bank. 2004 ist er zur Fondsboutique BWM gewechselt.