Der gross inszenierte Rückblick auf Nan Goldins fotografisches Schaffen in der Neuen Nationalgalerie Berlin zeigt ein Leben im New Yorker Untergrund und am Abgrund von Sucht und Selbstzerstörung.
Das Leben ist ein einziger Strom aus Flashbacks. Das fröhliche Picknick am Fluss. Das Selfie in der Badewanne. Die freizügige Liebesszene auf dem Bett. Jede Menge Schnappschüsse der Dragqueen-Freunde, der nächtlichen Barszenen, der ausgelassenen Klubpartys. Und alles unterlegt mit der melancholischen Stimme von Nico von The Velvet Underground. Oder mit Klaus Nomis Techno-Balladen. Träumerisch ist das, manchmal auch schwermütig. Und immer etwas abgefuckt.
Nan Goldin hat ihr Leben fotografiert. Ihren verlorenen Blick in den Spiegel gezeigt. Auch die Blutergüsse unter den eigenen Augen, Resultat der Fäuste ihres Ex. Und selbst das trostlose Zimmer in der Entzugsklinik war ihr Sujet genug. Nicht einmal vor der aufgebahrten Freundin hat der Finger am Drücker ihrer Kamera haltgemacht. Das mache man doch nicht, sagten die Galeristen. Das sei doch keine Kunst. Man fotografiere nicht sein eigenes Leben.
Das Fotografieren ihres Lebens aber hat Nan Goldin eine Stimme gegeben. Heute hat sie einen Namen in der Kunstwelt. Denn Nan Goldin hat Geschichten gemacht aus ihrem Leben. Mit der Kamera Erinnerungen bewahrt. Und diese Erinnerungen haben einen Geruch. Es sind Geschichten, die stets etwas dreckig sind und oft ohne Happy End.
Die Authentizität ihrer Erfahrungen in diesen Bildern berührt. Zum Beispiel die Aufnahme des trostlosen elterlichen Backsteinhauses in der trügerischen Idylle der Suburbs. «Die Vorstadt war beengend, die Nachbarn sollten nichts mitbekommen. Natürlich bekamen sie alles mit, weil so viel geschrien wurde zu Hause», erinnert sich Goldin in dem Film «All the Beauty and the Bloodshed» von 2022.
Nan Goldin, 1953 in Washington DC in eine jüdische Familie geboren, hat die Kamera auf das Leben gerichtet. Und damit auf den Schmerz, der dazugehört. In Goldins Leben trug dieser Schmerz schon sehr früh den Namen ihrer älteren Schwester: Barbara. Sie legte sich mit achtzehn Jahren auf die Gleise. Es war Suizid. Zu Hause hiess es, es sei ein Unfall gewesen. Die Wahrheit durfte nicht sein. Zuvor hatte sich Barbara gerne netten Jungs in die Arme gelegt. Auch das durfte nicht sein. Das aber war ihre Rebellion: gegen die miefige Moral der Nachkriegsjahre, gegen die sexuelle Unterdrückung, gegen die Banalität und Stumpfheit der Vorstadt.
Die Rebellion ihrer Schwester war der Beginn von Nan Goldins eigener Revolte. Sie verliess mit vierzehn Jahren ihr Elternhaus. Wenn sie zu Hause bliebe, meinte ein Psychologe, würde sie enden wie Barbara. Deren Tod liess Nan Goldin lange verstummen. Sie sprach nur durch ihre Polaroidkamera. Fotos zu machen, schützte sie, wie sie sich erinnert. Gab ihr einen Grund, da zu sein. Stimmte sie euphorisch, versetzte sie in einen Rauschzustand.
New Yorks Untergrundszene
Nan Goldin fand für sich eine neue Familie. Ihre Freunde. Nur dank ihnen sei sie davongekommen. Sie bewegte sich in der Bostoner Trans-Community. Lebte in einer lesbischen Kommune, dann in New York mit Freundinnen und Geliebten aus der New-Wave-Szene zusammen. Und fotografierte dauernd. Fotografieren war für Nan Goldin wie Sex, nein, es sei besser gewesen als Sex, sagt sie.
Es war das New York der achtziger Jahre. Ein Leben ausserhalb der Normen. Alle liefen vor Amerika davon. Und fanden einander. Man sah sich nicht als Rebellen, aber man war es. Man lebte, wie es einem entsprach, egal wie die Aussenwelt darauf reagierte. Man sah die komische Seite an allem. Es war eine Zeit der Freiheit und der Möglichkeiten. Dennoch konnte man jederzeit verhaftet werden. Queer sein war damals verboten. Zu überleben, war eine Kunst.
Nan Goldin arbeitete als Go-go-Tänzerin. Drüben in New Jersey musste man nicht «oben ohne» auftreten. Sie tanzte, um Fotofilme kaufen zu können. Auch in einem Bordell hat sie gearbeitet. Sexarbeit sei nichts Schlimmes, meint Goldin im Rückblick, aber kein Vergnügen, sondern einer der härtesten Jobs überhaupt.
Goldin verkehrte in Untergrundklubs, mit Künstlern, linken Aktivisten, Musikern, schwarzen Bürgerrechtlern, Hausbesetzern. Dort begann sie Diashows zu zeigen, mit lauter Musik unterlegt, wie jetzt auch in der Neuen Nationalgalerie in Berlin: In der grossen Retrospektive sind sechs ihrer eindrücklichsten Fotoserien in riesigen Darkroom-Installationen als Multimedia-Inszenierungen zu sehen.
Goldin überarbeitet und ergänzt ihre Fotoserien laufend und über lange Jahre. Sie verändert die Reihenfolgen, die Musik dazu, wann immer sich ihre Gefühle und Stimmungen verändern. Denn ihre Fotografien sind mehrdeutig, die Wahrheit darin ist fluid. Zu viel geht in diesen Bildern vor. Deren filmisch bewegte Qualität ist nichts für Eindeutigkeit. Mit dieser Art von Fotografie galt Goldin lange als Aussenseiterin. Sie selber hielt die Kunstszene für Blödsinn, den damals noch anrüchigen Times Square für das richtige Leben.
Das richtige Leben aber ist für Nan Goldin gleichbedeutend mit Kampf. Sie hat die Opioidkrise überlebt. Mit viel Glück. Nach einer Operation wurde sie abhängig vom Schmerzmittel Oxycontin. Für die US-weite Epidemie verantwortlich war die Familie Sackler. Goldin gründete eine Aktivistengruppe und prangerte das Mäzenatentum der Sacklers an. Diese kannte sie zuerst nur als Gönner grosser Museen: des Metropolitan, des Guggenheim, der Tate, des Louvre, des Victoria and Albert Museum.
Die Philanthropie der milliardenschweren Sacklers hatte ein schmutziges Geheimnis: den immensen Profit aus dem Schmerz von Menschen. Der Verkauf von Oxycontin generierte riesige Gewinne. Das Schmerzmittel wurde aggressiv vermarktet, obwohl die Verantwortlichen um sein hohes Suchtpotenzial wussten. Eine halbe Million Menschen starb in den USA an einer Überdosis.
Nan Goldin legte sich mit einer der mächtigsten Familien der USA an. Sie nutzte ihren Einfluss in der Kunstwelt. Organisierte Protestaktionen. Und war erfolgreich. Die grossen Museen wollten lieber mit ihr zusammenarbeiten. Sie wollten ihre Bilder haben. Heute ist der Name Sackler aus den Museen verschwunden. 2022 kam es zu einem Vergleich: Sechs Milliarden aus dem Sackler-Vermögen flossen der Suchthilfe zu.
Bild links: Nan Goldin: «Greer mit Schmuck modelnd, NYC», 1985, Fotografie, aus der Serie «The Other Side». Bild rechts: Nan Goldin: «Die Umarmung, New York City», 1980, Fotografie, aus der Serie «The Ballad of Sexual Dependency».
Kunst und Aktivismus
Leben und Kunst, Kunst und politisches Engagement: Bei Nan Goldin war das immer dasselbe. Nie habe es eine Trennung zwischen ihrer Tätigkeit als Künstlerin und ihrem Aktivismus gegeben, sagte sie nun an der Eröffnung ihrer Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie Berlin, an der sie gleich auch eine Probe dieses Verständnisses gab. Den Rückblick auf fünfzig Jahre ihres fotografischen Schaffens nutzte sie als Plattform, um gegen den Krieg in Gaza zu protestieren.
An der Eröffnung wollte sie sprechen, weil das vergangene Jahr in ihrer Ausstellung fehle. Seit dem 7. Oktober 2023 beschäftige sie der Nahostkonflikt jeden Tag. In ihrer Kunst komme er aber bis jetzt nicht vor. Sie kritisierte, dass in Deutschland, dem Gastland ihrer Ausstellung, Kritik an Israel verhindert, weil mit Antisemitismus gleichgesetzt werde. Sie warf der israelischen Armee einen Genozid an der palästinensischen Zivilbevölkerung vor. Und sie sagte, sich für Menschenrechte einzusetzen, könne nie antisemitisch sein.
Was Nan Goldin tut, tut sie mit radikaler Kompromisslosigkeit. Ihr Vorgehen hat oft etwas Blindwütiges, wie ihre einseitige Parteinahme im Nahostkonflikt zeigt. Das nimmt bisweilen selbstdestruktive Züge an. Das wird ersichtlich in ihrer berühmten Arbeit «Die Ballade der sexuellen Abhängigkeit».
Die Bilder dieser Fotoserie schildern den Kampf zwischen Autonomie und Abhängigkeit. Sie sind direkt, brutal und zärtlich zugleich: Koks und Speed, freie Liebe, Einsamkeit, Sehnsucht, Gewalt, Aids und der Tod vieler ihrer Freunde sind Gegenstand dieser atemberaubenden, epischen Sequenz aus Goldins Leben.
Die Frage, warum sie fotografiere, beantwortete Nan Goldin einmal mit der Bemerkung: «Man hält die falschen Dinge geheim, und das zerstört die Menschen.»
«Nan Goldin. This will not end well», Neue Nationalgalerie Berlin, bis 6. April 2025. Katalog: 48 Euro.