Der Autor und Rocksänger Serhij Zhadan ist in der Ukraine ein Star. Als Patriot hat er sich unlängst zum Militärdienst gemeldet. Trotz allem Schrecken hat er das Schreiben von Gedichten nie aufgegeben. Nun legt er den erstaunlich gelassenen Band «50 und 1 Gedicht» vor.
Über tausend Tage schon dauert der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, und die Bilanz ist verheerend: Hunderttausende gefallener Soldaten und getötete Zivilisten sonder Zahl, unzählige Verwundete und Vertriebene, verschleppte Kinder, zerstörte Städte, verminte Felder, ein Fünftel des ukrainischen Territoriums von Russland besetzt. Und wie weiter?
Gleich nach dem 24. Februar 2022 begann der bekannte ukrainische Dichter, Prosaist und Rockmusiker Serhij Zhadan auf Facebook und Twitter ein Tagebuch zu schreiben. Unter dem Titel «Himmel über Charkiw» ist es im selben Jahr auf Deutsch erschienen: eine Chronik des Überlebens im Krieg. Zhadan engagierte sich von Anfang an als Helfer, seit letztem Frühling dient er in der 13. Brigade der ukrainischen Nationalgarde, wo er für militärisch-zivile Kommunikation zuständig ist und das Radio Chartija betreibt. «Wir wollen den Kämpfern, die in den Brigaden dienen, eine Stimme geben», begründet er seinen Einsatz.
Doch das Schreiben von Gedichten hat Zhadan nie aufgegeben, obwohl der Schock des russischen Überfalls ihn eine Zeitlang in eine schöpferische Krise stürzte. Wie ein Riss zieht sich jener fatale Februartag durch seinen neuen Gedichtband «Chronik des eigenen Atems», der – sorgfältig datiert – am 8. Februar 2021 beginnt und am 4. Juni 2023 endet.
Ohne Drastik, Wut und Hass
Er enthält, in der sensiblen Übersetzung von Claudia Dathe, «50 und 1 Gedicht» und erstaunt durch das Fehlen von Drastik, Wut und Hass. Statt Blut und Schrecken ist von Liebe, Luft, Atem und Licht die Rede, von den Jahreszeiten, von Gesang und der Sprache. Einer Sprache des Zweifels, der Freude, des Dankes, die es trotz allem schafft, das Schweigen zu überwinden. In seinem Nachwort bezeichnet Zhadan den Band als «eine private, fragmentarische Chronik der letzten beiden Jahre – voller Schnee, Gesang, Orthografie und Liebe».
Mit der Orthografie hat es eine besondere Bewandtnis: Der Originaltitel spielt auf den Begründer der ukrainischen Orthografie Mykola Skripnik an, der sich 1933 wegen stalinistischer Repressionen das Leben nahm. Und ein erschütterndes Memento erinnert an die ukrainischen Dichter, Schauspieler, Priester und Wissenschafter, die in den dreissiger Jahren von Stalins Schergen erschossen wurden.
Das Gedicht endet mit den Zeilen: «Unaufhörlichkeit der Schrift, Unaufhörlichkeit des Gesangs. / Gräber in der Luft, die jede grosse Literatur markieren. / Sand unter den Füssen, gefüllt mit den Zahnkronen der Sprache.» Keine Frage: Die Säuberungen von damals finden eine Parallele im Heute, geht es dem Aggressor doch unverhohlen darum, die Ukraine als Staat mitsamt ihrer Kultur und Sprache auszulöschen.
Als Stilmittel verwendet Zhadan in seinem Band immer wieder das Paradox; so begreift er die Dunkelheit als eine Form, die «die Konturen des Lichts umreisst», und Poesie als eine «Form der Medizin», die zwar nicht heilen, doch Anlass zu Hoffnung geben kann. Dazu bedarf es des Vertrauens in die Sprache. Zhadan spielt subtil auf ihren Registern, in zärtlichen und mitunter polemischen Tonlagen, er flüstert und beschwört, ergeht sich in Metaphern und rhythmischen Wiederholungen: «und die Sprache wie eine vom Schmerz verbrannte Lunge / lebt auf, hallt wider, tut ihre Arbeit, / füllt uns mit Klang wie mit Wein, / einem Leuchten gleich. Genau dafür lieben wir dich, / guter Gott der Zeichen und Lettern . . .»
Sechzehn Stimmen
Wie andere ukrainische Lyriker den Krieg verarbeiten, dokumentiert die umfangreiche Anthologie «Den Krieg übersetzen». Sechzehn Stimmen, darunter die der bei einem Raketenangriff getöteten Wiktoria Amelina, zeigen ein breites Spektrum im Umgang mit dem schmerzlichen Thema. Realistische Schilderungen des Kriegsalltags, hilfesuchende Gebete und ein anklagendes «Vater unser» kommen ebenso vor wie Reflexionen über die Sprache im Krieg («Das Abc, ein Lazarettzimmer»).
Pawlo Korobtschuk, der gesteht, keine «pathetische patriotische Poesie» schreiben zu können, nur einen «wackeligen Therapieversuch», wünscht sich, «die schönsten Wörter gegen Menschen zu tauschen, zum Beispiel: / Schmuckstück / Akupunktur / Heckenkirsche / Astrolabium / Liebkosung // Denn wozu brauchen wir Wörter, / wenn es niemanden gibt, dem man sie sagt.» Und Katerina Michalisina schreibt: «. . . viel lieber als aderpressen wären mir bücher aus der buchhandlung, / viel lieber als echte Waffen hätte ich holzpistolen . . .» Es lohnt sich, diese wütenden und verzweifelten, trotzigen und tapferen, ungeschminkten und sarkastischen Gedichte auf sich einwirken zu lassen. Als ergreifende Zeugnisse, die nie verleugnen, dass die Botschaft auch im Medium liegt.
Serhij Zhadan: Chronik des eigenen Atems. 50 und 1 Gedicht. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Edition Suhrkamp 2840, Berlin 2024. 122 S., Fr. 29.90. – Den Krieg übersetzen. Gedichte aus der Ukraine. Herausgegeben von Claudia Dathe, Tania Rodionova und Asmus Trautsch. Edition Fototapeta, Berlin 2024. 190 S., Fr. 27.90.