Er ist 26-jährig, aus reichem Haus und gutaussehend. Luigi M. scheint den ideologisch motivierten Mord an Brian Thompson begangen zu haben. Die Beweise sind erdrückend. Trotzdem sympathisieren viele Amerikaner mit ihm. Wie kam es dazu?
Er sass im McDonald’s von Altoona im Gliedstaat Pennsylvania, in einer Ecke weit hinten im Lokal. Als die Polizei am Montagabend vor seinem Tisch erschien, starrte Luigi M. in seinen Laptop. Er trug eine Wollmütze und eine medizinische Maske. Ein anderer Kunde hatte ihn dennoch erkannt, aus Fahndungsbildern in den Medien.
Fünf Tage davor hatte in New York ein Mann mit hochgezogener Kapuze den CEO von United Healthcare auf offener Strasse ermordet. Mit drei Schüssen in den Rücken streckte der Täter den Manager Brian Thompson am frühen Mittwochmorgen zu Boden – mitten in Manhattan vor dem «Hilton»-Hotel.
Auf jeder der drei Patronenhülsen stand ein Wort: «delay,» «deny», «depose». In den USA sind diese drei Verben geläufig, wenn es darum geht, Krankenversicherungen zu kritisieren. Viele Amerikaner sind wütend auf die Branche. Diese würden die Ansprüche ihrer Kunden «verzögern», sie «verweigern», sie «ablehnen». Die Polizei hatte es mit einem ideologisch motivierten Anschlag zu tun.
Nur 450 Kilometer vom Tatort entfernt
Obwohl Überwachungskameras den Täter vor, während und nach dem Mord filmten, fahndete die Polizei tagelang nach ihm – mit Hunden, Helikoptern, Drohnen, Tauchern, DNA-Tests, dem Studium von Tausenden Stunden Videomaterial. Vergebens. Sie hatte zwar Bilder vom Täter, aber keine Hinweise auf seinen Aufenthaltsort oder seine Identität.
Und dann fand sie ihn in einem Fast-Food-Lokal, 450 Kilometer westlich von New York – in den weitläufigen «States» eine eher kurze Distanz. Ein aufmerksamer Kunde steckte seinen Verdacht einem Angestellten des Schnellimbisses. Dieser alarmierte die Polizei.
Der Fund überraschte die Ermittler: Luigi M., 26-jährig, hatten sie überhaupt nicht auf ihrer Liste der Verdächtigen. Der junge Mann war nicht vorbestraft. Stunden nach der Festnahme machten der New Yorker Bürgermeister Eric Adams und die Ermittler an einer Pressekonferenz dessen Personalien öffentlich. Wie in amerikanischen Medien üblich, ist sein Gesicht nun auf allen Kanälen sichtbar, mit vollem Namen.
Musterschüler mit Sixpack
Luigi M. entstammt einer reichen Familie aus dem Gliedstaat Maryland. Sie besitzt Immobilien, Country Clubs und den konservativen Radiosender WCBM-AM. Einer seiner Cousins ist Abgeordneter für die Republikaner Marylands.
Aufgefallen war der mutmassliche Täter bisher nur durch herausragende akademische Leistungen. Er besuchte die renommierte Privatschule Gilman in Baltimore, war Klassenbester und hielt die Abschiedsrede seines Jahrgangs. Danach erlangte er einen Master-Abschluss in Informatik und Mathematik an der University of Pennsylvania, die wie Harvard oder Yale zu den acht Elite-Hochschulen der Ivy League zählt.
Laut seinem Linkedin-Profil arbeitete er zuletzt 2023 als Dateningenieur für ein Autokauf-Portal. Als letzter Wohnort ist Honolulu im Gliedstaat Hawaii bekannt. Bilder aus Social-Media-Accounts zeigen einen freundlichen Mittzwanziger, charmant und mit Sixpack.
Handgeschriebenes Manifest
Doch wieso sollte der junge Mann eine solche Tat begehen? War er es tatsächlich? Die Beweise sind bis jetzt erdrückend. Die «New York Times» berichtet unter Berufung auf Polizeiquellen, dass Luigi M. ein Dokument auf sich trug: drei handgeschriebene Seiten, 262 Wörter. In den Anfangssätzen scheint er die Verantwortung für den Mord zu übernehmen. Die Marktkapitalisierung von United Healthcare sei gestiegen, die Lebenserwartung der Amerikaner aber nicht, stehe darin. Er verurteile Unternehmen, die «weiterhin unser Land für immense Profite missbrauchen, weil die amerikanische Öffentlichkeit es ihnen erlaubt hat, damit durchzukommen».
Laut einem hochrangigen Strafverfolgungsbeamten stehe im Dokument auch folgender Satz: «Um Ihnen eine langwierige Untersuchung zu ersparen, stelle ich klar, dass ich mit niemandem zusammengearbeitet habe.» Das klingt für die Ermittler wie ein Bekenntnis.
Schon davor hatte Joseph Kenny, Leiter der New Yorker Kriminalpolizei, von einem «Manifest» gesprochen, das der mutmassliche Täter auf sich trug. Es habe zwar keine konkreten Drohungen beinhaltet, aber eine feindliche Einstellung gegen das amerikanische Wirtschaftsmodell offenbart. CNN zitierte das Dokument unter Berufung auf eine Polizeiquelle: «Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten und das Trauma, aber es musste getan werden», hiess es darin. Oder: «Diese Parasiten haben es verdient.»
Waffe mit 3-D-Drucker gefertigt
Nach der Festnahme fand die Polizei im Gepäck von Luigi M. eine Waffe mit Schalldämpfer. Der Verdächtige hatte sie mit einem 3-D-Drucker selbst gefertigt. Sie war somit nicht registriert. Auch Munition hatte er dabei. Pistole und Schüsse stimmten mit den beim Mord verwendeten überein, sagten die Ermittler. Luigi M. führte zudem gefälschte Identitätsausweise mit sich. Einen davon hatte er am Vortag der Tat genutzt, um in einem Hostel in der Nähe des Tatorts einzuchecken.
Inzwischen haben ihn die Behörden in Pennsylvania in fünf Punkten angeklagt, unter anderen des Mordes, des illegalen Waffenbesitzes und der Dokumentenfälschung.
Seit Monaten soll Luigi M. den Kontakt zu seinem Umfeld abgebrochen haben. Über seinen X-Account fragte ein Bekannter: «Ich weiss nicht, ob es dir gutgeht oder ob du nur an einem sehr abgelegenen Ort bist und keinen Empfang hast. Aber ich habe seit Monaten nichts mehr von dir gehört.»
Dass er sich radikalisierte, darauf deuten Hinweise im Internet hin. So postete er etwa Auszüge aus Schriften von Ted Kaczynski, der auch als «Unabomber» bekannt ist. Von den 1970er bis 1990er Jahren verübte Kaczynski Attentate mit Paketbomben und wollte so gegen moderne Technologien ankämpfen, die seiner Meinung nach die Umwelt zerstörten.
Luigi M. erfährt in den USA viele Sympathien
Wieso genau Brian Thompson zum Opfer wurde, könnte aber auch mit einem körperlichen Gebrechen von Luigi M. und anschliessenden Versicherungsproblemen zu tun haben. Ein Weggefährte aus seiner Zeit in Honolulu erzählte der «New York Times», dass Luigi M. an einer Fehlstellung der Wirbelsäule gelitten habe. Diese habe starke Schmerzen verursacht. Ein Surf-Unfall hatte seinen Zustand offenbar verschlimmert. Im vergangenen Jahr soll er sich einem Eingriff unterzogen haben, kämpfte aber mit den Folgen der Operation. Auf seinem X-Profil ist ein Röntgenbild einer Wirbelsäule zu sehen – mit Schrauben, die sie stabilisieren.
Sah sich Luigi M. mit einem schwierigen Versicherungsfall konfrontiert? Wollte er auf die Macht der amerikanischen Krankenversicherungen aufmerksam machen? Die Wut der Bürger auf die Branche wird nach der Tat umso deutlicher. Sie schlägt in makabre Schadenfreude um. Viele Amerikaner bringen dem mutmasslichen Täter auf Social Media Sympathien entgegen. Userinnen zeigen sich in Posts vom Aussehen des Italoamerikaners angetan. Sein X-Account erreichte am Dienstag fast 300 000 Follower, die allermeisten dürften in den letzten 24 Stunden dazugekommen sein.