Tötung auf Verlangen soll legal werden, fordert der bekannteste Schweizer Sterbehilfe-Aktivist. Nur ein Puzzlestück fehle noch für die wahre Selbstbestimmung am Lebensende.
Der Rummel um die Suizidkapsel Sarco hat die Diskussion um die Sterbehilfe neu entfacht. Dass die Sarco-Leute die Schweiz als Ort der Premiere ausgewählt haben, ist die Folge davon, dass die hiesigen Gesetze weltweit zu den liberalsten zählen: Solange jemand keine selbstsüchtigen Motive verfolgt, ist die Beihilfe zum Suizid erlaubt.
Doch die Schweiz ist in Sachen Sterbehilfe nicht in jeder Hinsicht das freiheitlichste Land. Verboten ist hier die direkte aktive Sterbehilfe, auch Tötung auf Verlangen genannt. Wenn also ein Arzt oder jemand anders ein tödliches Mittel verabreicht, drohen bis zu drei Jahre Gefängnis.
«Martyrium beendet»
In der Rechtsprechung finden sich zwar Beispiele, in denen die Richter von einer Bestrafung absahen. So im Fall einer ehemaligen Neuenburger Kantonsärztin, die für die Sterbehilfeorganisation Exit tätig war. Sie hatte eine sterbewillige Frau getötet, die an ALS, einer degenerativen Erkrankung des Nervensystems, litt und nicht mehr in der Lage war, das Sterbemittel selbst zu trinken.
Das Strafgericht von Boudry sprach die Frau im Jahr 2010 frei – auch mit Hinweis auf Urteile des Bundesgerichtes. Dieses habe in der Vergangenheit eine Tötung als entschuldbar betrachtet, wenn diese ein Martyrium beendet habe.
Nicht immer können die Helfer auf die Milde der Richter zählen. 2005 etwa bestrafte das Bezirksgericht Zürich eine Witwe. Ihr Mann war an Speiseröhrenkrebs erkrankt, er hatte unter unerträglichen Schmerzen und unter Angst- und Panikattacken gelitten und deshalb sterben wollen.
Ausnahmslos strafbar
Ein Sterbehelfer brachte Schlaftabletten und einen Plastiksack in die Wohnung des Ehepaars. Der Krebskranke unterzeichnete eine Freitod-Erklärung und eine Vereinbarung, wonach er urteilsfähig sei. Doch er war zu geschwächt, die in Tee aufgelösten Tabletten selbst in die Magensonde zu spritzen. Deshalb übernahm seine Frau dies für ihn. Danach stülpte sie ihm den Plastiksack über den Kopf und schnürte ihn am Hals mit einem Schal leicht zu.
So starb der Mann – aufgrund der Tabletten oder der Erstickung. Die Gattin wurde zu sieben, der Sterbebegleiter zu vierzehn Tagen Gefängnis bedingt verurteilt. Der Einzelrichter befand, die Angeklagte hätte sich danach erkundigen müssen, ob aktive Sterbehilfe zulässig sei oder nicht. Auch ein sogenannter übergesetzlicher Rechtfertigungsgrund – wie er von ihr geltend gemacht worden war – liege nicht vor. Direkte aktive Sterbehilfe sei ausnahmslos strafbar.
Für völlig falsch hält das ein Mann, der die Schweizer Debatte über die Sterbehilfe geprägt hat wie kaum ein anderer: Ludwig A. Minelli, der Gründer von Dignitas Schweiz. «Die aktive Sterbehilfe ist das letzte Puzzlestück, das uns noch fehlt für die wahre Selbstbestimmung am Lebensende», sagt er. Es gibt ein Land, an dem sich die Schweiz dabei orientieren könnte: die Niederlande.
Brisantes Urteil von 2020
Im traditionell liberalen Königreich ist aktive Sterbehilfe zulässig, und das selbst bei dementen Personen. Die gesetzliche Grundlage dafür trat 2002 in Kraft. 2020 hat das oberste Gericht in einem aufsehenerregenden Urteil die Zulässigkeit bestätigt und gleichzeitig die Grenzen des rechtlichen Rahmens präziser abgesteckt.
Das Recht auf einen assistierten Suizid gilt in den Niederlanden auch dann, wenn eine Demenzerkrankung schon fortgeschritten ist – doch es ist nicht absolut. Eine Vielzahl von Kriterien muss erfüllt sein, damit die Sterbehilfe tatsächlich durchgeführt wird. So muss die demente Person an unerträglichen Beschwerden leiden und zwingend eine entsprechende Patientenverfügung erstellt haben, als sie noch urteilsfähig war.
Wichtig ist auch, dass die Person zuvor ordnungsgemäss informiert worden ist und mehrere Gespräche mit einem Arzt geführt hat, bei denen die Patientenverfügung thematisiert worden ist.
Was aber passiert, wenn eine Person um Sterbehilfe bittet, bevor sie dement ist, sie dann aber ablehnt, wenn sie tatsächlich schwer erkrankt ist? Oder anders gesagt: Inwieweit überlagern die Überzeugungen des «früheren Ichs» diejenigen des «gegenwärtigen Ichs»? Um bestmöglich auf solch komplexe medizinethische Fragestellungen einzugehen, hat die niederländische Ärztekammer KNMG eine Leitlinie ausgearbeitet.
Wünsche der Dementen respektieren
Grundsätzlich gilt, dass es die gegenwärtigen Wünsche, Interessen und Vorlieben eines Menschen mit fortgeschrittener Demenz verdienen, «respektiert zu werden», schreibt die KNMG. In «Ausnahmesituationen» kann allerdings auch die vor der Erkrankung erstellte Patientenverfügung massgeblich sein – dies, wenn keine Kontraindikationen vorliegen, also zum Beispiel deutliche Anzeichen dafür, dass der Patient keine Sterbehilfe mehr wünscht.
Damit sind nicht gelegentliche Äusserungen gemeint, sondern «konsistente und klare Verhaltensweisen oder Mitteilungen» der an Demenz erkrankten Person. Geht daraus hervor, dass der Patient noch den Wunsch zu leben hat oder dass er mit seiner derzeitigen Situation zufrieden ist, obwohl er in seiner Patientenverfügung angegeben hat, dass er nicht in dieser Lage sein möchte, muss der Arzt von der Sterbehilfe absehen.
Kurz: Selbst wenn die niederländische Gesetzgebung gegenüber der Sterbehilfe bei Dementen «tolerant» ist, sind die Hürden hoch. Dies manifestiert sich auch in den Zahlen: Nach dem höchstrichterlichen Urteil haben die Fälle leicht zugenommen, sie bewegen sich aber weiterhin auf tiefem Niveau. So wurde letztes Jahr landesweit nur gerade bei acht Personen mit schwerer Demenz Sterbehilfe geleistet. In den beiden Jahren zuvor waren es je sechs Fälle, zwischen 2018 und 2020 lediglich zwei.
«Wenn ich meine Kinder nicht mehr erkenne»
Ludwig A. Minelli fordert, dass die Tötung auf Verlangen in der Schweiz künftig einerseits Personen offenstehe, die urteilsfähig seien, das tödliche Medikament aber nicht selbst einnehmen könnten, andererseits Personen, die wegen einer degenerativen Erkrankung des Gehirns nicht mehr urteilsfähig seien.
Für den Fall einer Demenz könnte man laut Minelli in einer Vorausverfügung festhalten, wann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem man nicht mehr leben möchte. «Ein Kriterium könnte sein, dass ich meine Kinder, meine Enkel, meine Partnerin nicht mehr erkenne.»
Minelli weiss, dass das ein heikles Thema ist. Gerade auch, weil der Beistand – meistens jemand aus der Familie – die Verantwortung übernehmen müsste für den Tötungsentscheid. Aber er ist überzeugt, dass es dies wert ist. «Wenn ich mich auf den Demenzabteilungen der Pflegeheime umsehe, dann erblicke ich grosses Elend. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Menschen noch geniessen können. Für mich wäre das kein erfülltes Leben mehr.»
Wäre er 30 Jahre jünger, würde er eine Volksinitiative für die Einführung der aktiven Sterbehilfe lancieren, sagt der 92-Jährige. Er geht davon aus, dass das Anliegen mehrheitsfähig wäre und nicht einmal das Ständemehr ein grosses Hindernis darstellen würde. Selbst im Wallis habe sich das Volk deutlich dafür ausgesprochen, dass die Pflegeheime Suizidhilfe zulassen müssen. «Das zeigt, wie offen der Zeitgeist in solchen Fragen ist.»
Hoffnungen ruhen auf Exit
Nun hofft Minelli auf die andere grosse Schweizer Sterbehilfeorganisation, Exit. «Sie wäre prädestiniert dafür, sie hat mehr Mitglieder als jede Partei.» Doch wie die Exit-Sprecherin Danièle Bersier erklärt, erhebt ihre Organisation die Forderung nach aktiver Sterbehilfe für Demente zum jetzigen Zeitpunkt bewusst nicht.
Hier bekommen Sie Hilfe:
Wenn Sie selbst Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, wenden Sie sich bitte an die Berater der Dargebotenen Hand. Sie können diese vertraulich und rund um die Uhr telefonisch unter der Nummer 143 erreichen. Spezielle Hilfe für Kinder und Jugendliche gibt es unter der Nummer 147.
Einerseits, weil durch die politische Debatte über eine Gesetzesänderung die Gefahr bestehe, dass es zu Einschränkungen gegenüber der heutigen, liberalen Situation hinsichtlich des assistierten Suizids kommen könnte. «Wir fordern generell, dass man keine Spezialgesetzgebung anstreben sollte», sagt Bersier.
Andererseits hält Exit die heutige Regelung, dass Demenzpatienten nach der Diagnose assistierten Suizid begehen können, solange sie noch urteilsfähig sind, für «gangbar und zumutbar». «Eine Begleitung ist in vielen Fällen bis zum mittleren Stadium der Erkrankung möglich», sagt Bersier. Dafür sei es wichtig, frühzeitig ein Netzwerk mit Angehörigen, Ärzten und einer Exit-Begleitperson aufzubauen, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, ab dem eine Entscheidung für den Freitod nicht mehr möglich sei.
Stefanie Becker, Direktorin von Alzheimer Schweiz, sagt, sie habe zwar Verständnis dafür, dass eine Demenzerkrankung die Befürchtung auslöse, keine Kontrolle mehr über das eigene Leben zu haben. «Höchst problematisch ist aber die generelle Annahme, dass ein Leben mit Demenz per se nicht lebenswert oder erfüllend sein kann.»
Belastung und Missbrauchspotenzial
Becker mahnt, für die verantwortlichen Personen wäre die Entscheidung, die aktive Sterbehilfe für einen Demenzpatienten zu veranlassen, mit einer enormen Belastung verbunden. Sie enthalte aber auch ein grosses Missbrauchspotenzial. «Hinzu kommt, dass man sich aus der Perspektive eines – geistig wie körperlich – gesunden Menschen nicht vorausschauend in eine Lebenssituation mit einer Behinderung oder einer chronischen Erkrankung so einfühlen kann, dass man die eigene Reaktion darauf vorwegnehmen kann.»
Vehement gegen die aktive Sterbehilfe spricht sich auch Yvonne Gilli aus, die Präsidentin der Ärztevereinigung FMH. «Wenn wir Demenz so sehr stigmatisieren und sagen, das sei kein menschenwürdiges Leben mehr, dann überschreiten wir eine medizinethische Grenze», sagt sie.
Wer schon Menschen in ihren letzten Tagen begleitet habe, wisse, dass das Sterben ein Prozess sei, in dem sich die Haltung der sterbenden Person immer wieder verändern könne. «Deshalb habe ich Angst vor einer Gesellschaft, in der es normal wird, zu sagen: ‹Wir machen heute einen Plan, der für immer gilt, und legen genau fest, wie es am Tag X sein wird.› Und das in einer Frage, in der jede Entscheidung irreversibel ist.»
Statt über die aktive Sterbehilfe zu diskutieren, legt Alzheimer Schweiz den Fokus laut der Direktorin Becker lieber auf alternative Möglichkeiten wie die Palliative Care oder die rechtzeitige Vorsorge mit Patientenverfügungen und Vorsorgeaufträgen. «Es darf nicht sein, dass sich Menschen aus Gründen des gesellschaftlichen Drucks oder der mangelnden Wertschätzung und Betreuung dafür entscheiden, aus dem Leben zu scheiden», betont Becker.