Die Syrer im Exil könnten kaum glauben, wie ihnen geschehe. Über Nacht sei ihr Land ein anderes geworden als jenes, aus dem sie geflohen seien, schreibt die in London lebende Schriftstellerin Dima Wannous.
Noch vor zwei Wochen war meine Heimatstadt Damaskus für meine Familie und mich nichts als ein Traumbild. Eine Fiktion, mit der wir gespielt, nach der wir uns gesehnt, die wir jeden Tag und bei jedem Gespräch nach unseren Wünschen ausgeschmückt haben. Mit der Zeit hatte dieses Traumbild allerdings seine Eigenschaft verloren, uns in Erstaunen zu versetzen, es war uns lästig geworden, manchmal schmerzhaft, eine unausweichliche Wiederholung in den dreizehn Jahren, die wir zur Hälfte in Beirut verbracht hatten und zur anderen Hälfte in London.
Was die Vorstellung von einem Heim, in das wir zurückkehren könnten, am meisten zu einer Illusion werden liess, waren die Gespräche mit meinem einzigen Sohn Saad. Es war äusserst schwierig, mit ihm über Damaskus zu sprechen, denn es bedeutete eher, über eine Erfindung zu sprechen als über die Realität. Saads Erinnerung an Damaskus und die vielen Wohnungen, in denen er dort gelebt hatte, umfasst einen Zeitraum von höchstens sechs Jahren.
Folglich riefen wir uns bei unseren Gesprächen mit ihm nicht nur Erinnerungen an ein Leben in der Heimat ins Gedächtnis, sondern wir erfanden den Ort neu, die Mauern, Strassen, Häuser, Cafés, die Geografie und Geschichte. Im Lauf der Jahre verlor ich meine Begeisterung, das Traumbild wurde ärmlich, und wenn die Begeisterung verschwindet, verblasst die Phantasie, und zuletzt verliert man die Fähigkeit zu schreiben.
Dies ist der erste Text, den ich seit mehr als sechs Jahren verfasse. Je weiter ich mich vom Schreiben entfernte, desto mehr verlor auch meine Stimme an Geschmeidigkeit, sie wurde leise, manchmal schwach, und das hat mich in den letzten Jahren am meisten beängstigt. Ein Gefühl der Niederlage, des Rückzugs und der Unfähigkeit zu schreiben, weil die Wörter ihre Bedeutung und ihren Glauben an Veränderung verloren haben.
Asad, bis in alle Ewigkeit
Ich bin damit nicht allein. Millionen von Syrern lebten in fremden Ländern in der Illusion, diese stellten eine Heimat dar, und die Häuser, in denen sie wohnten, ein sicheres Heim. Millionen von Syrern erfanden Heimaten und Zufluchtsorte, wo sie Schutz suchten vor dem Nichts und dem langsamen Tod. Und plötzlich ist da dieser dröhnende Moment und reisst einen aus allem heraus, und man kann es nicht glauben.
Nicht nur, weil es nicht zu glauben ist, sondern weil man Angst davor hat, es zu glauben. Weil man in den letzten Jahrzehnten etliche ähnliche Augenblicke erlebt hat, und weil der Verstand darauf trainiert ist, Angst zu haben vor der Freude, und darauf, übertriebenen Optimismus und übertriebenes Glück zu vermeiden. Und weil man eine Enttäuschung nach der anderen erlebt und gelernt hat, sich dieser Illusion nicht hinzugeben und keinen vagen Träumen nachzulaufen, weil sie sich immer wieder in nichts auflösten. Immer und «bis in alle Ewigkeit», wie das Beiwort lautet, mit dem die Asads ihren Namen schmückten.
Die vergangenen Jahre haben uns gelehrt, Erschöpfung und Enttäuschung auszutricksen, um mit diesem enormen Verlust irgendwie umzugehen. Wir erfanden einen persönlichen Raum, in dem wir Schutz suchten, um atmen zu können. Aber dieses überbordende Glück – wie kann man es begreifen und wie es aushalten?
Diese Sätze gehören zu den wenigen Malen, bei denen ich das Gefühl habe, ganz entspannt im Plural schreiben zu können: Wir wissen nicht, wie damit umgehen, wir tricksen aus, wir erfinden, wir suchen Schutz, und wir atmen. Weil die Syrer genau in diesem Moment und zum ersten Mal zu einer einzigen Gesamtheit geworden sind, nachdem die Asad-Familie über fünfzig Jahre lang Konfessionalismus, Regionalismus und die Angst vor dem anderen genährt hatte.
Es irrt, wer heute behauptet, die Revolution von 2011 habe Syrien gespalten und die Einheit und Souveränität des Landes untergraben. Die Spaltung in Syrien ist die zwangsläufige Folge der mehr als fünfzig Jahre dauernden Herrschaft der Asad-Familie. Sie ist das Ergebnis der Angst, des Terrors und der Erschütterung des Vertrauens der Syrer untereinander, was Religions- und Stammeszugehörigkeit betrifft. Mit dem Tod dieses «Asad, bis in alle Ewigkeit» stirbt auch ein Teil dieses Konfessionalismus und der abgenutzte Begriff des politischen Alawismus. Zum ersten Mal sind wir ein Wir.
Sogar in meinen Träumen habe ich Syrien nicht von diesem «Asad, bis in alle Ewigkeit» befreit gesehen. Als sich die Nachricht von Bashar al-Asads Flucht verbreitete, verspürte ich zum ersten Mal dieses beängstigende Gefühl der Freude. Beängstigend, weil ich es kaum ertragen konnte, kaum begreifen und kaum glauben. Und gleichzeitig, weil ich mich von einer wichtigen Phase meines Lebens verabschieden musste, ohne den Wunsch, sie zu umarmen oder in den kommenden Tagen darüber zu sprechen.
Das Land ist uns fremd geworden
Ich habe plötzlich ein neues Leben vor mir, eine neue Beziehung zu meiner Stadt mit ihren Gassen, Häusern und meinen Freunden. Zu ihren Wohnungen und Küchen, wo die Wände keine Ohren mehr haben. Als ich das letzte Mal in Damaskus war, war der Ewige noch da, und so war es seit meiner Geburt gewesen. Den syrischen Flüchtlingen ist ihr eigenes Land heute fremd geworden, und wenn sie jetzt nach Syrien zurückkehren, kommen sie in eine Heimat, nach der sie sich seit Jahrzehnten sehnten, jedoch in ein Land, das vorher nicht existierte.
Obwohl ich niemals geglaubt habe, selbst in meinen Träumen nicht, dass der Ewige verschwinden könnte, so habe ich doch lange von dem Augenblick geträumt, in dem ich sehe, wie Bashar al-Asad sich vor Gericht verantworten muss und für seine Verbrechen verurteilt wird. Ich habe davon geträumt, wie er vor einer Schar von Juristen und vor den Familien der Opfer sitzt und ihnen zuhört, während sie seine Verbrechen einzeln aufzählen, Verbrechen um Verbrechen, Fassbombe um Fassbombe. Ich habe davon geträumt, wie er nur einige der Qualen erleidet, die Millionen Syrer unter ihm erdulden mussten. Ich habe davon geträumt, wie er durch die Strassen von Damaskus geschleift wird, genau wie vor vielen Jahren Muammar al-Ghadhafi.
Aber er ist geflohen. Während ich mir den Augenblick seiner Flucht ins Gedächtnis rufe, erinnere ich mich sehr gut an meine Gefühle, die zwischen Freude, Verblüffung und Angst schwankten. Dann kursierte unter den Syrern die Nachricht vom Absturz eines Flugzeugs, das Asad von der Luftwaffenbasis Hmeimim nach Moskau bringen sollte. Wie konnte ein Despot einfach so verschwinden? Von der Nacht verschluckt werden, während aus nahezu allen Regionen Syriens gerufen wurde: «Die Freiheit steht vor der Tür, hau ab, Bashar!» Wie konnte ein ganzes Zeitalter von Unheil durch einen Flugzeugabsturz beendet werden?
Dann löste sich dieser Irrsinn mit der Erklärung des Kremls auf, Asad sei in Moskau gelandet und man habe ihm und seiner Familie politisches Asyl gewährt. Er wird also jetzt nicht vor Gericht gestellt werden, aber ein bisschen Gerechtigkeit wird es doch geben. Nach dreizehn Jahren Vertreibung und Diaspora werden vierzehn Millionen Syrer in ihr Land zurückkehren, und zum ersten Mal werden sie Staatsbürger sein, während Bashar al-Asad vom Despoten zum Flüchtling geworden ist.
Ich stelle mir genüsslich vor, wie er genau wie wir von der rasanten Entwicklung überrascht wurde, wie er davon überzeugt war, bleiben zu können und einfach weiterzumachen, wie um acht Uhr abends während des Abendessens plötzlich jemand zu ihm sagte: «Sie müssen sofort weg!», so dass er noch nicht einmal genügend Zeit hatte, zurückzublicken.
Asad in der Badehose
Dieser Ewige floh, und die Damaszener liefen zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren hinaus auf die Strassen der Hauptstadt. Sie zogen frei durch die Gassen ihrer Stadt, sie skandierten, schrien, weinten, lachten. Sie öffneten in surrealistisch anmutenden Szenen die Paläste, vergriffen sich an dem pompösen Mobiliar und wühlten in intimen Dingen, in seinen und denen seiner Familie, in ihren Kleidungsstücken, ihren Bildern – genau wie die Gräber der Syrer in den letzten Jahren durchwühlt wurden. Sie nahmen mit, was ihnen gefiel, durchforsteten seine Fotos und entdeckten ihn auf einer der Aufnahmen in Badehose, fast nackt, mit einem mageren, dürren Körper.
Mehr als vierzehn Millionen Syrer mussten in weniger als vierzehn Jahren ihr Heim verlassen. Die meisten waren in aller Eile vor Tod oder Verhaftung geflohen, häufig nur mit einer kleinen Tasche, und hatten alles hinter sich gelassen, Erinnerungen, Fotos, persönliche Gegenstände, Dokumente, Bücher und Bilder. Nachdem jahrzehntelang sie es gewesen waren, die täglich ausgeplündert wurden, hatten sie nun die Gelegenheit zur Revanche.
Derweil stiegen die Rettungstrupps in die unteren Stockwerke der Gefängnisse und Kerker der Geheimdienstabteilungen hinab, um die Gefangenen zu befreien. Es vergingen Stunden mit vergeblichen Versuchen, die Geheimcodes für die Eisentüren der Zellen herauszufinden.
Plötzlich war ganz Damaskus ein riesiges Gefängnis, ein Schlachthaus für Menschen voller Folterinstrumente und mit dem Gestank verwesender Körper und blutbespritzter Mauern, mit Gefangenen, die um den Verstand gebracht worden waren, einige hatten ihr Gedächtnis verloren, sie wussten nicht, wie sie hiessen, woher sie kamen und wohin sie zurückkehren sollten.
Wohin mit dem Hass?
Dann legte sich der Schmerz über die Freude der Syrer, und schwierige Fragen bemächtigten sich ihrer. Wie sollen wir das Bild von der tonnenschweren Presse aus unserem Gedächtnis tilgen, mit der die Leichen der Gefolterten zusammengepresst wurden? Wohin wird sich der Gestank der Säure verziehen, in der die Körper sich auflösten wie eine im Wasser sprudelnde Vitamin-C-Tablette? Und die Dampftröpfchen, die von den Röhren aufsteigen, die die Kerker mit der Erdoberfläche verbinden und auf die Anwesenheit von Gefangenen hinweisen, die noch immer hinter geheimen Türen atmen, ohne dass man sie erreichen kann.
In welchem Teil des Gehirns werden wir das Bild von Mazen Hamadeh verbergen, dem hübschen Aktivisten, der der furchtbaren Folter entkommen war, dann in die Niederlande floh, nur um danach in Asads Syrien zurückzukehren, weil man ihm gedroht hatte, seine Familie umzubringen. In Syrien wurde er erneut verhaftet und zu Tode gefoltert.
Wie sollen die Jahrzehnte dieses Ewigen und der Folter verschwinden, wenn nicht in allernächster Zeit der Gerechtigkeit Genüge getan wird und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden? Wie sollen wir mit dem überbordenden Strom unserer Gefühle umgehen? Was sollen wir mit unserem legitimen Hass machen, und wie unterdrücken wir unseren Wunsch nach Rache?
Die schwierigste Prüfung ist für mich zunächst, wie ich meine neue Heimat, meine Identität und Zugehörigkeit definiere. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, Syrerin zu sein. Über dieses Thema habe ich viel geschrieben und in den neunundzwanzig Jahren, die ich in Damaskus verbrachte, lange nachgedacht, bevor ich die Stadt im Jahr 2011 verliess. Wie wird sich diese fragile Beziehung zur Heimat, zu meiner Zugehörigkeit und zur Sprache mit ihren Dialekten entwickeln?
Nachdem das Regime jahrzehntelang die Idee von Heimat mit der Asad-Familie verbunden hatte, haben viele die Liebe zu ihrem Land verloren und begonnen, ihr Syrien zu hassen, in dem ihnen überall gezeigt wurde, dass es Asads Syrien war. Ihre eigene Identität, für die sie nichts konnten, war ihnen eine Last. Je nachdem, in welcher Region sie geboren waren, hatten sie entweder Macht geerbt oder wurden ihrer Rechte beraubt. Die Zugehörigkeit zu Hama war zu einem Verbrechen geworden, wer aus Latakia kam, dem war eine bevorzugte Stellung verheissen.
Bis die Revolution kam und alles über den Haufen warf, so dass der Starke schwach wurde und der Schwache frei. Nachdem die Bevölkerung von Idlib oder Hama die Namen ihrer Städte früher wie ein Eingeständnis der Schuld geflüstert hatte, sagen sie heute stolz und deutlich: «Ich komme aus Hama.» «Und ich aus Idlib.» Diese Regionen, die über fünf Jahrzehnte lang unterdrückt und marginalisiert worden waren, werden in die Geschichte eingehen als jene revolutionären Regionen, von denen aus das gesamte syrische Territorium befreit wurde, so dass die Flüchtlinge nach Hause zurückkehren können, während Asad – «Asad, bis in alle Ewigkeit» – ein Flüchtling in Moskau wurde.
Dima Wannous, 1982 in Damaskus geboren, ist Schriftstellerin und lebt seit 2017 im Exil in London. – Aus dem Arabischen von Larissa Bender.