Dreizehn Jahre lang ist der Amerikaner Matt Green nahezu alle Strassen New Yorks abgelaufen. Ein Spaziergang mit einem unermüdlichen Läufer.
Wer mit Matt Green sprechen will, muss mit ihm gehen. Denn Gehen ist sein Leben. Seit dem 27. März 2010 vergeht kein Tag, an dem er nicht wenigstens ein paar Kilometer unterwegs ist. Zuerst wanderte er quer durch die USA, von Rockaway Beach, New York, bis zum Rockaway Beach in Oregon. Danach durchlief er seinen Wohnort New York City gründlicher als je jemand zuvor: Er ging durch jede Strasse in allen fünf Stadtteilen, durch jeden Park, jeden Friedhof, über jeden Strand, jede Insel, jede Brücke, jedes Feld, jeden Wald. Block um Block, Weg um Weg, Pfad um Pfad. 10 000 Meilen, also 16 000 Kilometer weit.
Am 21. September 2024 beendete Matt Green seinen fast dreizehnjährigen Gang durch New York, wie er in seinem Blog «I’m Just Walkin’» berichtet. Doch die Stadt, die niemals schläft, ist unendlich, und Matt Green kann nicht aufhören zu gehen. «Kürzlich überquerte ich eine neue Fussgängerbrücke beim East River Park», sagt er, «und ich war auf dem Friedhof von Hart Island, den man nur mit einem gewonnenen Ticket besichtigen kann.»
Gemeinsam setzen wir eines der allerletzten Puzzlestücke für sein Projekt ab: den Park vor dem Hauptgebäude der Vereinten Nationen. Matt Green ist dafür rund 10 Kilometer zu Fuss aus Brooklyn gekommen – und wird, selbstverständlich, wieder zu Fuss zurückgehen; als ob es keine U-Bahn gäbe. Wir treffen uns beim Besuchereingang vor der Uno.
Er trägt, was er seit ungefähr dreizehn Jahren in Variationen trägt: Eine Baseballkappe, Wanderschuhe, Cargohosen, eine Kapuzenjacke, darunter ein Sporthemd. In dessen Tasche transportiert er immer ein Notizbuch und einen Stift. Kopfhörer trägt er bei seinen Erkundungen nie. «Das wäre wie blind herumlaufen», sagt er. Schlank, schmales Gesicht, Zehntagebart: Matt Green sieht aus wie ein Park-Ranger.
Auf einer Art Google Maps markiert er die neuste Route mit einem virtuellen Rotstift. Wir passieren einen Rosengarten, kanadische Wildgänse und einige Skulpturen. Matt Green fotografiert mit seinem Handy die Skulptur von St. Georg, dem Drachentöter, und ein Stück Berliner Mauer – wovon es mehrere Abschnitte in New York gibt, sie alle hat er fotografiert. An der Uferpromenade mit Sicht auf die Wolkenkratzer von Long Island City zeigt er auf ein etwa zehn Meter langes Inselchen im East River: Ein Guru habe darauf vor vielen Jahren ein Friedensmonument gebaut. Dessen Reste sind mit Mühe zu erkennen; aber nur, wenn man weiss, dass es dort war, wie Matt.
Erwartungen begrenzen den Blick
Nichts ist zu klein, um Matt Greens Aufmerksamkeit zu erregen. Er bemerkt die harten Borsten, die von den Rädern der Strassenreinigungsmaschinen abgefallen sind; der häufig verwendete Buchstabe «Z» anstelle von «S» in den Namensschildern von Barbierläden (Boss Cutz, Handz of Godz). Er liest die Inschriften auf Hydrantendeckeln. Manchmal nimmt er ein Mikroskop mit, um in dichtbesiedelten Gegenden kleinste Pflanzen und Insekten zu beobachten.
In dieser Stadt, in der Touristen staunend nach oben blicken, schaut Matt Green gerne nach unten. Viele Menschen kämen hierher, um Bilder aus Filmen oder Reiseführern zu bestätigen; sie besuchen ikonische Orte und glauben dann, das wahre New York gesehen zu haben. «Wenn man etwas Bestimmtes zu sehen erwartet, ist es sehr schwierig, etwas anderes zu sehen.» Er empfiehlt deshalb, einmal an einer zufälligen U-Bahn-Station auszusteigen und einfach herumzulaufen; sich dabei vielleicht vorzustellen, man sei gerade hierhergezogen, ein Restaurant zu finden, ohne vorher das Internet zu konsultieren, Fotos zu machen, die noch niemand zuvor gemacht hat. «Es ist magisch, in New York etwas selbst zu entdecken.»
Matt Green pflegt eine antitouristische Haltung. Er hält alles für genau gleich interessant: unbekannte Ecken wie beliebte Sehenswürdigkeiten. Das ist umso erstaunlicher in einer Stadt, in der selbst die Bewohnerinnen und Bewohner, wie er selbst sagt, «unendlich viel Zeit damit verbringen, herauszufinden, was das Beste von diesem und jenem ist, um ihre Freizeit mit solchen angeblichen Highlights zu füllen». «Das ist doch eine schöne Strasse», sage ich bei unserem ersten Spaziergang in Crown Heights, Brooklyn, und zeige auf eine Reihe von Backsteinhäusern. «Nicht schöner als alle anderen», antwortet er: «Wenn man sich an einem Ort langweilt, liegt das daran, dass man ihm nicht genug Aufmerksamkeit schenkt.»
Zunächst legte Matt Green schnell viele Kilometer zurück. Doch bald verlangsamte er sich, und er wurde beim Festhalten gründlicher. Das Recherchieren und Dokumentieren des Gesehenen begann mehr Zeit zu beanspruchen als das Gehen. Puzzleteile eines Gesamten, überall. Zwei Beispiele: Matt Green weiss, dass Nelly Bly die erste weibliche Investigativjournalistin der USA war und worüber sie schrieb, weil er auf dem Woodlawn-Friedhof in der Bronx ihr Grab entdeckte. George Washingtons Besuch der Stadt erschliesst sich ihm durch die Geschichte des ältesten Lebewesens New Yorks, einem über 400-jährigen Tulpenbaum in Queens. Hunderte solcher Einträge stehen auf seinem Blog, Hunderte mehr sollen in den kommenden Jahren folgen. «Ich bin schwer im Rückstand.»
Flanieren als freiheitliches Prinzip
Wenn Matt Green mit anderen Leuten über seine Stadtwanderung spricht, wird er immer nach den tieferliegenden Gründen für sein Projekt gefragt. Doch darauf hat er keine Antworten. Spazieren ist einfach das, worauf er Lust hatte, es entspreche seinem Wesen. Es stecke keine Philosophie dahinter, Lucius Burckhardts «Promenadologie» interessiere ihn so wenig wie antikapitalistische Argumente. Das Projekt weist trotzdem über sich selbst hinaus. Neben dem Blog entstand ein Dokumentarfilm, «The World Before Your Feet» – produziert vom Schauspieler Jesse Eisenberg («The Social Network»). Ausserdem unterrichtet Matt Green an einer Schule in Queens ein Fach namens «Entdecke New York».
Matt Green begann seinen urbanen Stadtrundgang in seinen frühen Dreissigern; jetzt ist er 44. Während andere in seinem Alter Familien gründeten und Karrieren aufbauten, kündigte er 2009 seinen Job als Bauingenieur («langweilig») und seine Wohnung, um zu flanieren. Warum? Geht es ihm um Freiheit? «Ich konnte jeden Tag hingehen, wohin ich wollte, so lange ich wollte, konnte sehen, was ich sehen wollte, reden, mit wem ich reden wollte. Nichts war zu unbedeutend, um anzuhalten, es zu betrachten oder zu fotografieren, darüber nachzudenken oder es zu erforschen. Also ja, es gab mir viel, viel Freiheit.»
Ein Sandwich war für ihn Luxus. «Ich konnte mir gerade so gut für 75 Cents Reis mit Bohnen kochen.» Er lebte von seinen Ersparnissen, kam mit ungefähr 15 Dollar pro Tag aus. Gegen ein Bett hütete er anderer Leute Haustiere oder schlief bei Freunden im Gästezimmer oder auf der Couch, die auch einmal ein Billardtisch sein konnte.
Als die Pandemie ausbrach, musste Matt Green für anderthalb Jahre zurück zu seinen Eltern nach Ashland im Gliedstaat Virginia ziehen, weil er kein eigenes Zuhause mehr hatte. In jener Zeit lief er die Strassen dieser Kleinstadt ab. Dabei sei ihm bewusst geworden, dass seine Spaziergänge in New York oberflächlich seien: «Hier sieht man überall grosse Gebäude, Historisches, Menschen aus aller Welt; es gibt einfach so viel zu sehen, dass einem ganz leicht etwas ins Auge fällt. In meiner kleinen Heimatstadt ist alles bescheidener. Da muss man sich tiefer in die Dinge hineindenken, denen man Aufmerksamkeit schenkt.»
Jetzt sind wir in Prospect Heights, aber Matt Green mag nicht in Quartieren denken. Diese Etiketten bedeuten ihm nichts. Beim Stichwort «gefährliche Stadtteile», winkt er ab; das seien oft Behauptungen. Geführte Touren sind ihm ein Graus: «Ein selbsternannter Experte erklärt einem, was wichtig ist – und man glaubt, den Ort verstanden zu haben.»
Die Stadt wandelt sich ständig
Die Stadt erzählt ihm ihre eigene Geschichte. An einer Stelle haben Kinder bunte Sterne, Kreise, Herzen und das Wort «Love» ins Trottoir gedrückt. Kommt ihm das bekannt vor? Nein, er habe diesen Strassenzug zuletzt vor zwölf Jahren betreten. «In all den Jahren hat sich natürlich vieles verändert», sage ich. «Es wird hier schon in fünf Minuten wieder anders aussehen», sagt er.
Wir marschieren erstaunlich zügig, als wollte Matt Green meiner Erwartung entkommen, er werde jeden Zentimeter anhalten. Ab und zu grüsst er zufällige Passanten. Er konzentriert sich auf unser Gespräch, das regelmässig von Sirenengeheul von Kranken- und Feuerwehrwagen unterbrochen wird.
Was hat ihm das Flanieren am meisten gelehrt? «Dass wir im Grunde alle ziemlich gleich sind. Die Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen überwiegen die Unterschiede in Lebensstilen oder Traditionen.» Es sei leicht, Vorurteile gegen Menschen zu hegen, wenn man noch nie jemanden aus dieser Gruppe getroffen habe. In New York habe man die einzigartige Möglichkeit, ganz viele verschiedene Kulturen innerhalb derselben Stadt kennenzulernen. «Wenn man durch deren Nachbarschaft geht, merkt man: Die sind ja auch so wie wir. Die Unterschiede sind klein im Vergleich zur weiten Bandbreite der menschlichen Erfahrung. Und wenn man Differenzen bemerkt, so tut es gut, sich zu vergegenwärtigen, dass die eigene Art, Dinge zu tun, nicht die einzige oder die beste ist.»
Fühlt er sich nun leer, da sein Projekt fast beendet ist? Nein. «Mein ziemlich ausgedehnter Spaziergang war ein Geschenk, das mir ständig mehr gab», sagt Matt Green. Unweigerlich denkt man an den leidenschaftlichen Schweizer Poeten Robert Walser, dessen Spaziergänge «immer schöner, reicher und grösser werden wollten».
Matt Green liess seinen «Spaziergang» durch New York gemächlich auslaufen. Er nahm wieder einige Gelegenheitsjobs an, da er mit seiner neuen Freundin zusammengezogen ist und nun Miete zahlen muss. Neue Projekte plane er noch nicht, sagt er, und rückt dann doch mit einigen Ideen heraus. Jetzt, wo das Land als so gespalten gelte, würde er es gerne erneut durchqueren. Er habe beim ersten Mal die unglaubliche Gastfreundschaft der Amerikaner kennengelernt – und manchmal machten die nettesten Leute beim Abendessen eine rassistische Bemerkung. Oder da ist der Selbsttranszendenz-3100-Meilen-Lauf – gegründet vom selben Guru, der das Friedensdenkmal auf jenem Inselchen vor der Uno erbaute. Die Teilnehmer umrunden 52 Tage lang denselben Block, täglich Hunderte von Malen. Etwa 12 Leute nehmen daran teil, etwa die Hälfte schaffe es, das durchzuziehen. Das klingt komplett sinnlos. Es ist Matt Green zuzutrauen.