Trotz quantitativer Straffung durch die US-Notenbank kam es am Geldmarkt bisher zu keinen Turbulenzen. Das könnte sich nun ändern, weil eine wichtige Liquiditätsquelle versiegt.
Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an das Jahr 2019 denken? Klimaproteste? Trump-Impeachment? Notre Dame? Die berühmteste Kirche der Welt war nicht das einzige Gebäude, das in jenem Jahr brannte. In einem verwinkelten Untergeschoss des globalen Finanzsystems mottete ein Schwelbrand, der eiligst gelöscht werden musste und als «Liquiditätskrise 2019» in die Annalen der Geschichte eingegangen ist. Interessiert hat sie nur wenige.
Zu Unrecht, denn was geschehen war, könnte nun wieder geschehen – mit Betonung auf könnte.
Doch der Reihe nach.
1987 kam es zu einem Aktiencrash und zu einer ausgeprägten Angst vor einer Weltwirtschaftskrise wie anno 1929, die aber von Alan Greenspan, dem kauzigen amerikanischen Notenbankpräsidenten, der damals kaum zwei Monate im Amt war, souverän mit der Bereitstellung von unlimitierter Liquidität bekämpft wurde. Von ihm ist folgender Spruch überliefert:
«Ich weiss, dass Sie glauben zu verstehen, was ich Ihrer Meinung nach gesagt habe, aber ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen klar ist, dass das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich gemeint habe.»
Dieses Manöver war dermassen erfolgreich, dass das Federal Reserve damit begann, jeder noch so kleinen Zuckung der Finanzmärkte mit der Liquiditätsgiesskanne entgegenzuwirken, sodann mit Mikromanagement zu versuchen, die Schwankungen des Konjunkturzyklus zu beenden und durch eine Goldilocks-Welt mit stetigem Wachstum zu ersetzen. Der Stein kam ins Rollen. Eine weitere Ingredienz dieses grossen Experiments waren fatalerweise die permanent zu tiefen Zinsen, die für das notwendige Wachstum sorgen sollten.
Dass etwas nicht stimmt, hätte schon 1998 auffallen sollen, als der Hedge Fund «LTCM» in Schieflage geriet. Die Krise konnte aber noch problemlos mit Liquidität und Leitzinssenkung behoben werden.
Im Jahr 2000 erschien das Buch «Maestro», eine Elegie über Alan Greenspan auf dem Höhepunkt seines Ansehens, auch ich griff voller Bewunderung zu. Die Welt freute sich an der «Grossen Moderation», denn Greenspan schaffte es tatsächlich, die Volatilität an den Finanzmärkten zu mildern.
Heute schaut die Fachwelt nuancierter auf die Leistung Greenspans, denn sein guter Lauf war nicht von Dauer. Zu tiefe US-Zinsen und der Dollar sorgten für weltweite Ungleichgewichte:
1994: Tequila-Krise
1997/98: Russland- und Asienkrise
2000: Dotcom-Krise
Alles Krisen kamen aus heiterem Himmel. Jeder von uns kennt es aus dem Bekanntenkreis: Das Pärchen, das stets zusammen gesehen wird, nie streitet, dessen Beziehungsqualität uns vom Partner unter die Nase gerieben wird, das dann aber trotzdem – für alle unerwartet – innerhalb kurzer Frist auseinander geht und nie mehr gesehen wird. Wer wie Greenspan konstant den sich aufbauenden Druck unter der Oberfläche halten will, wird irgendwann mit einem Blitzschlag bestraft – im Falle der Finanzmärkte z.B. mit einem «7-Sigma-Event». Druck ist inhärent und kann entweder graduell oder schlagartig entweichen. Greenspan war Notenbankchef bis 2006. Er hatte seinem Nachfolger ein faules Ei ins Nest gelegt.
Auf Greenspan folgten Bernanke, Yellen und Powell. Interessant: Bis heute macht das Fed weiter, als ob nichts wäre. Kein Bedauern, kein Wort der Kritik am Vorgänger, geschweige denn Selbstkritik. Die Einschläge wurden immer härter, die Einsätze immer grösser, es reichte nicht mehr, Liquidität anzubieten, es mussten im grossen Stil unorthodoxe Finanzinstrumente aus dem Giftschrank geholt werden wie Nullzinspolitik (ZIRP), Zinskurvenmanipulation, Quantitative Easing (QE) oder Helikoptergeld.
2008 kam die grosse Finanzkrise: die Welt schaute in den Abgrund. Zeit für eine Umkehr? Nicht doch: Nullzinsen plus QE bedeuteten faktisch Minuszinsen.
Dann, 2012 bis 2014, als das Wachstum trotz Tiefstzinsen lahmte, kaufte das Fed erneut Anleihen im grossen Stil (QE), und in der Covid-Krise griff es mit dem Helikoptergeld zum ultimativen Doppelschwert.
Für uns wichtig: Auch die Kosten der Aufräumarbeiten wurden mit jedem Einsatz massiv höher. Es sind zwei Monster, welche die Zauberlehrlinge der Notenbank erschaffen haben, sichtbar für alle, die es sehen wollen: Grotesk hohe Schulden und eine grotesk aufgeblähte Zentralbankbilanz.
Es ist offensichtlich: Das demokratisch nicht legitimierte Experiment wurde auf dem Buckel unserer Kinder durchgeführt. Selbstverständlich werden auch sie diese Schulden nie zurückzahlen – wie denn auch? –, aber der Schuldendienst steigt unerbittlich. Er ist bereits höher als die Verteidigungsausgaben, limitiert den künftigen Handlungsspielraum und könnte weitere potenziell zerstörerische Risiken zur Folge haben.
Und damit kommen wir zum zweiten, komplizierten Teil der Geschichte. Bleiben Sie dabei, es lohnt sich.
Wäre die Zentralbankbilanz eine sanitäre Anlage, so hätte ich sie in den Achtzigerjahren gerade noch reparieren können: Sie war klein (500 Mrd. $), unbedeutend (3% im Vergleich zum BIP) und einfach strukturiert (Aktiva: Staatsanleihen für die Regulierung der Geldmenge, Gold und ein paar Diskontkredite; Passiva: Bargeldumlauf und Bankreserven).
Heute sieht die Bilanz des Fed etwa so aus:
Sie ist gross (7000 Mrd. $), bedeutend (30% des BIP) und komplex: nicht zuletzt durch Finanzunfälle hat sie neue Triebe erhalten. Seit Greenspan gibt es das Repo-Konto auf der Aktivseite, das den Banken Liquidität zuführt. Erstmals 2008, dann 2012 und wieder 2020 wurde das Konto «Wertschriften» auf der Aktivseite durch QE ins fast Unermessliche gesteigert. Das Konto des Schatzamtes beim Fed – ein Passivposten – war früher unbedeutend, heute ist es monströs, mit hohen Schwankungen und grosser Dynamik wegen der Fiskalpolitik. In der Eurokrise wurde das Konto «Reverse Repo» aus der Taufe gehoben, um Liquidität abzuschöpfen, und der neueste Spross entstand in der Regionalbankenkrise von 2023: seither schmückt ein Konto namens «Bank Term Funding Program» die Aktivseite der Bilanz.
Der Hüter über das System ist zu einem Jongleur mit vielen Bällen geworden.
Wir haben also eine hochkomplexe Fed-Bilanz in einer Zeit immer grösserer Banken (wer erinnert sich an «Too Big to Fail»?), eines Schattenbanksystems mit zum Teil hohem Leverage (Hedge Funds), massivem Liquiditäts-Missmatch (Private Market), mit hysterischen Marktteilnehmern im Repo- und Eurodollarmarkt, allesamt süchtig nach Liquidität: Von Greenspan angefixt, von Bernanke und Yellen stets mit immer höheren Dosen versorgt, Freddy Hinz wäre heute Geldmarkt-Händler geworden.
Wir kommen zu des Pudels Kern:
«Liquidität» wird heute an den Finanzmärkten synonym mit «Bank Reserves» verwendet. Sie sind ein Konto rechts unten in der grossen, komplexen, dynamischen Notenbankbilanz. Es beschreibt die Gesamtgrösse der Reserven (Liquidität) der Geschäftsbanken bei der Zentralbank. Wenn es da aus welchem Grund auch immer zu einem Engpass kommt (hier mehr zur Mechanik), kann Panik aufkommen.
Erinnern Sie sich an die Frage am Anfang des Artikels betreffend 2019? Damals ist es zu einer Panik gekommen, die kurzen Zinsen stiegen von 2% auf über 10%. Die Ursachen für diesen Anstieg waren unter anderem eine plötzliche Zunahme der Nachfrage nach Liquidität von Banken und anderen Finanzinstituten, kombiniert mit einem Rückgang der verfügbaren Mittel im Geldmarkt. Das Fed reagierte, indem es Liquidität bereitstellte und die Zinssätze stabilisierte, um die Märkte zu beruhigen. Nochmals ist alles gut gegangen.
Und heute? Die US-Notenbank muss dringend ihre ins Groteske aufgeblasene Bilanz abbauen («Quantitative Tightening»), sie muss sich auf die nächste Krise vorbereiten, die bestimmt kommen wird. Der Abbau von Aktiva bedeutet aber ein kongruenter Abbau von Bankreserven.
Das Fed hatte allerdings Glück (oder Verstand?): Seit 2022 ziehen die Geldmarktfonds in den USA systematisch Geld aus einem anderen Liquiditätspolster der Fed-Bilanz ab – den Reverse Repos (ich verschone Sie mit Details) – und kaufen damit kurzfristige Staatsanleihen. Sie lösen damit bis anhin gleich zwei Probleme: Sie alimentieren die enorme Emissionstätigkeit der Regierung (a.k.a. Yellens Va-banque-Spiel mit der Emission kurzfristiger Treasuries zur Finanzierung langfristiger Schulden…) und sie kompensieren den Liquiditätsabfluss durch das Quantitative Tightening. Bis jetzt. Denn jetzt sind diese Reverse Repos am Versiegen.
Wir sind jetzt an einem Wendepunkt. Was passiert mit der Liquidität? Wenn das Fed mit QT weitermacht wie bisher, nimmt die Liquidität ab. Soviel ist klar. Und danach?
Eine schwierige, gefährliche Situation? Vielleicht. Die Zentralbank hat es in ihren Händen. Powell ist bei weitem nicht ohne Handlungsspielraum. Aber er ist ein Jongleur mit (zu?) vielen Bällen. Was immer er macht, wie immer er dies verkauft, er trifft auf eine hypersensible Anlegergemeinde am Geldmarkt, bei einer extrem hohen Bewertung und rekordtiefen Liquiditätsprämien von Aktien und Corporate Bonds sowie Schabernack in den privaten Märkten (CLO, Private Debt ETF, etc.). Es könnte genügen, wenn ein einzelner Marktteilnehmer in einem Liquiditäts-Squeeze Pleite geht und eine Kettenreaktion auslöst.
Eigentlich ein perfektes Umfeld für einen Blitzschlag, nicht wahr?
Jürg Lutz
Jürg Lutz ist Anleihenspezialist beim Schweizer Vermögensverwalter PK Assets, der auf die Anlage von Pensionskassengeldern spezialisiert ist. Er bezeichnet sich selbst als alten Hasen im Bondmarkt, was angesichts seiner dreissigjährigen Erfahrung in der Verwaltung von Anleihenportfolios nicht ganz abwegig ist. Vor geraumer Zeit hat er – gemäss eigenen Worten – nach einem dreijährigen Martyrium den CFA-Charterholder erworben. Der Bündner ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er ist beseelt von der Vorstellung, bis zu seinem Ableben die Via Spluga, die entlang des alten Säumerpfades von Thusis ins italienische Chiavenna führt, mindestens hundert Mal zu wandern. Viel fehlt ihm bis zu diesem Ziel nicht mehr.