Vor 250 Jahren besuchte der französische Philosoph Denis Diderot Katharina II. in Petersburg. Dieses Treffen hat Leopold von Sacher-Masoch in einem Text verarbeitet, den das Theater Neumarkt nun auf die Bühne bringt.
Es tritt auf: Die russische Zarin Katharina II., genannt die Grosse. Tatsächlich ist sie mindestens einen Kopf grösser als die Diener und Favoriten, die sie auf den von Publikum gesäumten Laufsteg begleiten, der hier als Hof und politisches Parkett fungiert. Noch auffälliger als die majestätische Physis der Zarin sind allerdings ihre dunkle Haut und ihr Geschlecht: männlich, würde man sagen, obwohl das wogende Barockkleid feminine Formen andeutet.
Die Zarin (Challenge Gumbodete), so wird man später erfahren, leidet an niedriger Toleranz für Langweile – abgekürzt: NTL. Es dürstet sie nach geistigen und sinnlichen Abenteuern. Deshalb lädt sie dann auch den Philosophen Denis Diderot zu sich nach Petersburg ein. Der Franzose soll die Aufklärung ins dunkle Russland bringen.
Diderots Besuch bei Katharina II. ist eine historische Tatsache, die Begegnung fand vor zweihundertfünfzig Jahren statt. Und vor hundert Jahren wiederum hat der österreichische Dichter Leopold von Sacher-Masoch (bekannt für den Masochismus) den Stoff literarisch verarbeitet. Sein Text diente nun als Vorlage für das Stück «Diderot in Petersburg», das am Donnerstag in einer Inszenierung der Gruppe «Bruch» im Theater Neumarkt Premiere feierte.
Freiheiten und Sinnlichkeit
Wenn Diderot (Stanislav Iordanov) erstmals über den Laufsteg spaziert, führt er zwar demokratische Begriffe im Munde. Aber «Liberté», «Égalité», «Fraternité» haucht er so sinnlich dahin wie einst Serge Gainsbourg seine Liebe zu den Frauen. So wird spürbar, dass die westliche Freiheit auch erotische Versprechen mit sich führt. Diderot verliebt sich in die Hofdame Katinka (Nadège Meta Kanku) ebenso wie in Katharina. Bei Sacher-Masoch zündet die Verkupplung von westlicher Philosophie mit russischer Autokratie dann üppige pornografische Phantasien, die Werte und Ordnung ins Wanken bringen.
Ohnehin sind die Hüter des russischen Staats skeptisch gegenüber der westlichen Philosophie. Zumal ihnen Diderot bereits vom Kommunismus vorschwärmt – etwas verfrüht, wie er selbst zugibt. Um die russische Seele vor umstürzlerischen Gedanken zu schützen, wird Diderot gegen sich selbst in Stellung gebracht.
Katinka, der Denker Lagetschnikoff (Sascha Ö. Soydan) und der Kriegsminister Orlow (Frances Chiaverini) spielen der Zarin ein authentisches Diderot-Stück vor – es handelt sich um einen Text, in dem er die edlen Wilden Tahitis gegen die kolonialistischen Ansinnen des Westens verteidigt hat. Die Zarin versteht nun – aha, ähnlich will der Westen auch uns kassieren mit toxischen Ideen – und übergibt Diderot der russischen Inquisition. Seine Befreiung aber wird zuletzt eine Revolution auslösen.
Theatrale Comicfiguren
«Diderot in Petersburg» wird am Theater Neumarkt als «Operette» angepriesen. Tatsächlich wird der westöstliche Diskurs durch viel Musik verflüssigt – von der «Internationale» über Prince bis zum russischen Pop-Duo t.A.T.u. Der Sound trägt dazu bei, dass einem die Themen und Leitideen leicht durchs Gemüt flutschen. Das Schauspiel der theatralen Comicfiguren verzichtet ganz auf psychologische Vertiefung – zugunsten von fluider Verfügbarkeit. Dunkelhäutige Frauen spielen hier hellhäutige Männer, die Sprachen wechseln dauernd zwischen Englisch, Französisch, Deutsch und etwas Russisch.
Auf die Dauer riskiert man bei der burlesken Leichtigkeit vielleicht einen Anfall von NTL, für eine gute Stunde aber hält sie einen bei Laune. In dieser Zeit entdeckt man im poppigen Spektakel immer wieder plausible historische Bezüge. Was etwa die Fluidität betrifft, so ist Katharina tatsächlich ein exemplarischer Fall: Als geborene deutsche Lutheranerin wurde sie später eine orthodoxe Russin, die in die maskuline Rolle des Kaisers schlüpfte.