Die Europäer hinken im All den Supermächten hinterher. Josef Aschbacher, Direktor der Europäischen Weltraumagentur ESA, erklärt, was Europa von Elon Musk lernen kann – und wann der erste Mensch den Mars betreten wird.
Herr Aschbacher, die Ariane 6 hätte bereits 2020 starten sollen, nun ist der Start Ende 2023 erneut gescheitert. Gleichzeitig schiesst SpaceX, die Firma von Elon Musk, Rakete um Rakete ins All. Was würden Sie wetten, ob der nächste Termin klappt?
Ich wette nicht, bin aber sehr zuversichtlich, dass wir den Termin von Mitte des Jahres einhalten können. Es stehen noch einige Tests aus, die technischen Probleme haben wir aber zum grössten Teil in den Griff bekommen. Das Einzige, was den Start noch verunmöglichen kann, ist ein sogenannter schwarzer Schwan – also ein Ereignis, das niemand auf dem Radar hatte. Dann müssten wir nochmals über die Bücher gehen.
Europa hat derzeit keine Trägerrakete. Sie ähneln dem Chef eines Formel-1-Rennstalles, der kein funktionsfähiges Auto hat. Das muss ein unangenehmes Gefühl sein.
Natürlich ist das nicht angenehm. Europa steckt in einer Krise bei den Trägerraketen, wir sind aber in guter Gesellschaft damit. Die USA waren zehn Jahre lang von Russland abhängig, um Astronauten auf die Raumstationen zu bringen. Auch der viel bewunderte Elon Musk schaffte den Erstflug mit einer Trägerrakete erst mit jahrelanger Verzögerung. Japan, Indien und weitere Nationen mussten die Starttermine immer wieder verschieben.
Sie lenken ab vom eigenen Versagen. Immerhin fliesst viel Steuergeld zur ESA.
Ich lenke nicht ab. Das Steuergeld ist gut investiert und wird dazu führen, dass wir eine gute Rakete haben. Die Ariane 6 wird eine technologisch sehr interessante und leistungsfähige Rakete sein. Wir wollen sie nun schnellstmöglich auf die Startrampe bringen. Damit hat Europa wieder einen garantierten, eigenständigen Zugang zum Weltraum.
Selbst wenn die Ariane 6 funktioniert, wird sie in zehn Jahren nicht so viele Satelliten ins All fliegen wie SpaceX in einem Jahr.
Das ist möglich, aber es ist eine Folge davon, wie die Rakete konzipiert ist. Ariane 6 ist eine nicht wiederverwendbare Rakete. Der Entscheid dazu wurde lange vor meiner Zeit als Generaldirektor getroffen.
Die Weichen wurden falsch gestellt.
Aus heutiger Sicht, ja. Elon Musk entschied sich früh, eine wiederverwertbare Rakete zu entwickeln, Europa entschied sich 2014 dagegen. Als Musk 2017 reüssierte, war es bereits zu spät. Dadurch haben wir wertvolle Zeit verloren. Nun haben wir die Konsequenzen gezogen. Die nächste Rakete, eine Schwerlastrakete, werden wir genauso entwickeln, wie die Falcon 9 von Elon Musk entwickelt wurde: mit einem Wettbewerb, in dem sich die besten und schnellsten Firmen durchsetzen. Die Wiederverwertbarkeit wird dabei ein wichtiges Kriterium sein.
Wer hat die besten Chancen, das SpaceX Europas zu werden?
Es gibt verschiedene Firmen, die gut positioniert sind. Aber wer gewinnt, ist nicht absehbar. Es wird allerdings nicht eine einzige Firma sein. Zwei oder drei werden im Rennen bleiben. Sonst haben wir keinen Wettbewerb.
Sind auch Schweizer Firmen dabei?
Das ist möglich, steht aber noch nicht fest.
Kann Elon Musk die Europäer aus ihrem eigenen Markt drängen?
Weil der Wettbewerb mit europäischen Steuergeldern finanziert wird, ist SpaceX als nichteuropäische Firma davon ausgeschlossen. Die amerikanische Gesetzgebung, die den Export von Schlüsseltechnologien verbietet, würde dies ohnehin verhindern. Die Rolle der ESA ist es auch, europäische Hightech-Industrie zu fordern und zu fördern.
Die ESA hat ein Budget von 7,8 Milliarden Euro im Jahr. Wie hoch müsste es sein, um mit den USA und China mithalten zu können?
Es gibt drei Dinge, die für den Erfolg in der Raumfahrt entscheidend sind: Geld, Exzellenz und Geschwindigkeit. Europa hat sehr viele hervorragende Ingenieure, Wissenschafter und Techniker. Hier sind wir auf Augenhöhe mit anderen Ländern. Bei den anderen beiden Faktoren liegen wir im Hintertreffen. Wir müssen neue Finanzierungsquellen erschliessen, auch private. In den letzten eineinhalb Jahren habe ich 41 Vereinbarungen mit Privatfirmen unterschrieben, die in den Weltraum investieren wollen. Letztes Jahr kamen 400 Millionen Euro zusammen. Damit spielen wir nicht in derselben Liga wie das Silicon Valley, aber wir haben wichtige Schritte gemacht.
Zur Person
Josef Aschbacher, Generaldirektor ESA
Der Österreicher ist seit 2020 Generaldirektor der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). Aufgewachsen als Bergbauernsohn in Tirol, studierte Josef Aschbacher Meteorologie und Geophysik in Innsbruck. Bei der ESA entwickelte er zunächst das Erdbeobachtungsprogramm Copernicus. Der ESA gehören 22 Länder an – darunter Nicht-EU-Mitglieder wie die Schweiz, Norwegen oder Grossbritannien.
Beim Tempo hinken Sie hinterher. Haben Ihre Mitglieder zu viel Angst?
Wir haben in Europa ein kulturelles Problem, wir sind viel weniger risikofreudig als die USA. Die Mentalität der Leute ist eine andere als im Silicon Valley. Das kann ich als ESA-Generaldirektor nicht ändern.
Hat Europa die Wichtigkeit der Raumfahrt zu spät erkannt?
Europa ist spät aufgewacht. Man hat zwar gesehen, dass Raumfahrt wichtig ist, aber der Bereich war zu klein, um global mithalten zu können. Europa hat das Ausmass der Entwicklungen zu spät erkannt.
Sind die Franzosen schuld, weil sie ihre Vormachtstellung in der europäischen Raumfahrt nicht teilen wollen?
Nein. Einem Land die Schuld zu geben, wäre verfehlt.
Was macht Elon Musk besser?
SpaceX ist eine private Firma, die allerdings von der Nasa und dem amerikanischen Verteidigungsdepartement viel Kapital und Expertise erhalten hat, um Raketen zu entwickeln. Damit kann Musk in einem ganz anderen Umfeld operieren.
Haben Sie mit ihm zu tun?
Natürlich. Meine Hauptansprechpartnerin bei SpaceX ist allerdings Gwynne Shotwell. Sie ist als operative Chefin für das Tagesgeschäft verantwortlich.
Was kann man von ihnen lernen?
Dass man mehr Risiken eingehen sollte. Dass eine technische Lösung nicht immer zu 120 Prozent ausgefeilt sein muss, bis man sie auf den Markt bringt, sondern dass auch 95 Prozent genügen. Natürlich kann sich das rächen. Je mehr Risiken man eingeht, desto mehr kann man gewinnen, aber auch verlieren.
Die ESA ist auf Musk angewiesen, um Astronauten auf die Forschungsstation ISS zu bringen. Er ist launisch und sprunghaft. Eine solche Abhängigkeit ist gefährlich.
Da sind wir nicht die Einzigen. Die ganze westliche Welt hängt von Elon Musks Raketen Crew Dragon und Falcon 9 ab, um Astronauten und Satelliten ins All zu bringen. Die Nasa genauso wie die ESA oder Saudiarabien. Natürlich birgt das Risiken und ist genau der Grund, warum wir mehr Autonomie für Europa brauchen. Unabhängigkeit bedingt aber auch grössere finanzielle Mittel. Das ist derzeit jedoch eine schwierige Diskussion.
Wo liegt die Stärke der ESA?
Die europäische Raumfahrtindustrie gehört zu den besten weltweit. Das ist auch ein Verdienst der ESA, die seit fast 50 Jahren diese Industrie mit ihren Beschaffungen gefordert und gefördert hat. Mit Copernicus verfügt die ESA zudem über das beste Erdbeobachtungsprogramm der Welt. Das Navigationssystem Galileo liefert das genaueste Signal weltweit, genauer als GPS. Auch im Bereich Wissenschaft ist die ESA an der Weltspitze dabei. Sie hat unter anderem wichtige europäische Beiträge zur James-Webb-Mission geleistet. Das Teleskop wurde zudem von einer Ariane-5-Rakete aus Kourou hochpräzise in den Weltraum gestartet.
Die ESA ist also eine gute Beobachterin und Vermesserin, aber zum Mars wird es nicht reichen.
Tatsächlich ist die Hälfte unseres Budgets reserviert für die Erkundung der Erde. In der Nasa sind 50 Prozent der Gelder für die Exploration des Weltalls reserviert. Das zeigt die Prioritäten. Wir haben für die Exploration nur knapp 7 Prozent der Mittel der Nasa. Damit kann man nicht die gleichen Resultate erwarten.
Die Russen versuchen Europa auszuspionieren. Wie stark ist die ESA davon betroffen?
Ich kann das nicht kommentieren. Wir haben aber ein sehr robustes System gegen Cyberspionage. Bisher hatten wir keine grösseren Probleme.
Sie führten in Davos eben ein Gespräch mit der für die ESA zuständigen Schweizer Staatssekretärin Martina Hirayama. Konnten Sie sie zu einer Erhöhung des Schweizer Beitrages überzeugen?
Ich wäre ein schlechter Generaldirektor, wenn ich das nicht versuchen würde. Mit ihrem Beitrag von 186 Millionen Franken ist die Schweiz bereits ein guter und zuverlässiger Partner. Sie gehört zu den Ländern mit einem positiven Geo-Return. Schweizer Firmen erhalten mehr zurück, als der Staat einzahlt. Neben der Ruag gibt es weitere Firmen, die in ihrem Bereich spitze sind.
Was erwarten Sie von der Schweiz?
Dass sie sich weiterhin stark engagiert in der ESA. Die Schweiz verfügt über eine hervorragende industrielle Basis und exzellente Hochschulen. Sie hat viel zu bieten, profitiert aber auch stark von der Teilnahme an der ESA.
Seit 2022 befindet sich mit Marco Sieber ein Schweizer in der Astronautenausbildung. Wie entwickelt er sich?
Ich höre nur Gutes. Die Ausbildung ist aber noch im Gange.
Wie stehen seine Chancen, dass er bei einer Mission auf ISS mitfliegen kann?
Gut! Geplant ist, dass alle fünf Astronauten, die derzeit in der Ausbildung sind, noch in diesem Jahrzehnt einen Flug zur ISS bekommen. Alle sind aber noch in der Basisausbildung. Wenn ein Astronaut einer Mission zugeteilt wird, muss er nochmals eine Ausbildung von zwei Jahren absolvieren. Der nächste Slot ist 2026. Das Training müsste dieses Jahr beginnen.
Wird Marco Sieber dafür ausgewählt?
Das kann ich heute nicht sagen.
Musk will mit SpaceX im Jahr 2029 zum Mars fliegen. Ist das realistisch?
Ich bin skeptisch. Ein Flug zum Mars und zurück dauert rund zwei Jahre. Mit dem heutigen Stand der Forschung würden wir keine Astronauten auf eine zweijährige Mission ausserhalb des Schutzgürtels der Erde schicken. Die starke Strahlung würde zu gesundheitlichen Schäden führen. Ich gehe davon aus, dass die Nasa diese Einschätzung teilt. Neben dem Strahlenschutz braucht man auch eine geeignete Rakete und eine Landeposition auf dem Mars. All das existiert heute nicht. Ich glaube nicht, dass sich dies in den nächsten Jahren ändern wird.
Ist Musk grössenwahnsinnig?
Er ist sicher optimistisch in der Ankündigung seiner Ziele.
Wann rechnen Sie mit einer bemannten Mars-Mission?
Selbst bei starken Innovationsschüben nicht vor Anfang der 2040er Jahre. Vielleicht bin ich zu pessimistisch, aber es gibt noch viele Probleme, die gelöst werden müssen. Siedlungen auf dem Mond wird es schon viel früher geben. Die Amerikaner, China, Indien und wir haben Pläne, Astronauten auf den Mond zu bringen. Wir werden dort eine Infrastruktur aufbauen.
Ist das ein Geschäft, oder geht es nur um Geopolitik?
Es ist um beides. Geopolitische Überlegungen spielen eine Rolle, aber die Forschung ist ebenso wichtig. Man geht davon aus, dass der Mond von der Erde abgespalten wurde und über ähnliche Bodenschätze verfügt. Der Mond hat ein enormes wirtschaftliches Potenzial.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»