Der Italiener Casse gewinnt den Super-G in Val Gardena, er wird im Februar 35. Vor zwei Wochen feierten auch Justin Murisier, 32, und Thomas Tumler, 35, ihre Siegpremiere. Sie alle mussten lange warten, bis sie ihr unbestrittenes Talent zur Entfaltung brachten.
Es war im Januar 2016, Markus Waldner, der Renndirektor des Ski-Weltverbandes, stand am Lauberhorn auf seinem Beobachtungsposten über dem Brüggli-S. Als die Nummer 45 gestartet war, sagte er zum halb erfrorenen Journalisten neben sich: «Jetzt musst du genau hinschauen, das wird einmal ein Grosser.» Waldner meinte Mattia Casse, damals 25-jährig, dieser beendete das Rennen im 31. Rang.
Waldner ist Italiener, aber nicht nur in seiner Heimat galt Casse damals als grosses Talent. Er schien alles mitzubringen, um zu den Italo-Heroen Dominik Paris, Christof Innerhofer und Peter Fill aufzuschliessen. Doch es sollte Jahre dauern, bis der Mann aus Bergamo, 2010 Junioren-Weltmeister in der Abfahrt, aufs Podest fuhr; 2022 wurde er Dritter in der Abfahrt von Val Gardena.
Dreimal stand Casse vor dem Hinauswurf aus dem Kader
Innerhofer, unterdessen 40 und immer noch im Weltcup unterwegs, sagte, Casses grösste Qualität sei seine Hartnäckigkeit. Casse brach sich einst beide Knöchel, zertrümmerte sich die Schulter und gab dennoch nie auf. Dreimal stand er vor dem Hinauswurf aus dem italienischen Kader und konnte sich wohl nur deshalb halten, weil es im Team an Breite fehlte. Seine Kollegen haben Casse den Spitznamen «Traktor» verpasst, weil er wie ein Diesel einfach immer weiterrattert.
Am Freitag im Super-G in Val Gardena nahm er von Anfang an Fahrt auf: Er war schon im ersten Training für die Abfahrt der Schnellste gewesen, im zweiten Testlauf belegte er Rang 2. Mit entsprechendem Selbstvertrauen startete er zum Super-G. Wie gut seine Fahrt war, spiegelt sich in einer Aussage von Marco Odermatt. Auf den letzten Metern vor dem Ziel überlege er sich immer, wie gut er gefahren sei, so der Schweizer. In Val Gardena sagte er sich, es könnte zum Sieg reichen – doch dann lag er 0,43 Sekunden hinter Casse.
Mattia Casse STORMED to a first-ever World Cup win on home snow! ⛷️🇮🇹#fisapine pic.twitter.com/pE519eBCvs
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Mit dem Erfolg des Italieners setzt sich in diesen Wochen eine erstaunliche Serie fort: In der Abfahrt von Beaver Creek feierte Justin Murisier seinen ersten Sieg, er wird im Januar 33; zwei Tage später gewann im Riesenslalom Thomas Tumler erstmals, er wurde im November 35; Casse feiert im Februar den 35. Geburtstag. Alle drei fuhren weit über zehn Jahre im Weltcup, bis endlich der grosse Tag kam.
Dass es doch noch klappte, spricht für ihre Beharrlichkeit und die Geduld der Trainer. Es steht aber auch für einen Trend im Skirennsport. Die Karrieren werden länger, und es ist fast schon normal, dass Athleten jenseits der 30 zu Spitzenleistungen fähig sind. Didier Cuche gewann mit 37 auf der berüchtigten Streif in Kitzbühel; Johan Clarey raste mit 42 mehrmals aufs Podest; Lara Gut-Behrami gewann mit 32 den Gesamtweltcup.
Die Tessinerin ist nicht nur die älteste Gesamtsiegerin, sondern hält auch Rekorde der Langlebigkeit: Zwischen ihrem ersten und dem bisher letzten Triumph im Weltcup liegen 15 Jahre; bei den Podestplätzen beträgt die Spanne sogar fast 17 Jahre. Und es muss viel passieren, damit sie ihre eigenen Bestmarken nicht überbietet, denn in dieser Saison belegte sie bereits je einen zweiten und einen dritten Rang.
Dass es auch Glück braucht, zeigte sich beim Triumph von Casse in Val Gardena. Er liess sich im Zielraum bereits auf die Schulter klopfen, als plötzlich mit Startnummer 26 der Amerikaner Jared Goldberg beste Zwischenzeiten in den Schnee legte. Im Ziel lag er nur um eine Hundertstelsekunde hinter Casse.
Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass auf der Saslonch-Piste die Ergebnisse spät noch durcheinandergewirbelt werden. Den Rekord hält der Liechtensteiner Markus Foser, der 1993 mit der Nummer 66 zum Sieg raste. Es gibt diverse Gründe dafür, dass auf der Saslonch immer wieder Athleten aus der zweiten Reihe nach vorne preschen. Einerseits ist die Strecke nicht besonders selektiv, anderseits können hier Licht und Wind innerhalb von kürzester Zeit wechseln.
So war es auch am Freitag. Odermatt hatte im unteren Teil Gegenwind, Goldberg hingegen Rückenwind. Der Schweizer Seriensieger nahm das einigermassen gelassen hin, sagte aber, er sei froh, dass Casse nicht noch um sein Glück gebracht worden sei. Denn der sei an diesem Tag eindeutig der Beste gewesen.
Marco Odermatt just misses out on the top spot as he puts himself into second place in Val Gardena’s Super-G! ⛷️🤏#fisalpine pic.twitter.com/QGVQ1h1iiA
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Diskussionen über Sinn und Unsinn dieses Rennens
Im Zielraum wurde wieder einmal über Sinn und Unsinn eines Super-G auf der Saslonch diskutiert. Die Disziplin stand schon oft in der Kritik, es gab immer wieder Leute, die ihre Abschaffung forderten. In Val Gardena eignet sich das Terrain nicht, um einen drehenden Kurs mit heiklen Klippen auszuflaggen. Odermatt sagte, das Tempo sei hier ohnehin tief. Wenn man mehr Kurven einbaue, könne man gleich mit Langlaufski starten.
Odermatt gewann in dieser Disziplin 2023 und 2024 die kleine Kristallkugel. Er sagte, der Super-G lebe auch davon, dass auf unterschiedlichen Pisten Rennen mit eigenen Anforderungen ausgetragen würden. Auf der technisch anspruchsvollen «Birds of Prey» in Beaver Creek siegte Odermatt vor zwei Wochen, nun hielt er auf der langsamen Saslonch mit Rang 3 den Schaden in Grenzen. Wer ihm in diesem Winter die Position als bester Super-G-Fahrer der Welt streitig machen will, muss sich etwas einfallen lassen.