Die Verhandlungen sind offiziell zu Ende. Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen ist am Freitag nach Bern gereist, aber gefeiert wurde nicht.
Viola Amherd wagte immerhin ein Lächeln. Die Bundespräsidentin trat um 14 Uhr vor die Mikrofone. Zusammen mit der EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen, die eigens für diesen Anlass nach Bern gereist war, würdigte sie unter dem funkelnden Kronleuchter des Bernerhofs, des Sitzes des Finanzdepartements, den materiellen Abschluss der Verhandlungen: «Die vom Bundesrat festgelegten Ziele sind erreicht worden.»
Die beiden Präsidentinnen haben offensichtlich in den vielen Gesprächen des letzten Jahres Duzis gemacht. Amherd konnte ihre Nähe zur mächtigsten Frau Europas nicht genug betonen: «Liebe Frau Präsidentin, liebe Ursula . . .», sprach sie von der Leyen an.
Die Präsidentin der EU-Kommission war von allen Magistratspersonen, die am Freitag in Bern aufgetreten sind, jene, die die grösste Euphorie zeigte. Mehrfach betonte sie die gemeinsamen europäischen Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. «Näher als die EU und die Schweiz kann man sich gar nicht sein.» Den Abschluss der Verhandlungen bezeichnete sie als «historisch». In einem fairen Ausgleich habe man die Ansprüche der Schweiz und der EU befriedigen können.
Ein «historisches» Ergebnis: Viel deutlicher hätte das Bekenntnis des hohen Gasts zum bilateralen Weg kaum ausfallen können. Falls von der Leyen erwartet hatte, dass sie im Gegenzug eine ebenso herzliche Würdigung durch die Schweizer Regierung würde mit nach Hause nehmen können, ist sie enttäuscht worden.
Um 15 Uhr trat der dreiköpfige Europaausschuss des Bundesrats im Medienzentrum vor die Journalisten. Neben dem Aussenminister Ignazio Cassis sassen die Bundesräte Guy Parmelin und Beat Jans auf dem Podium, die für alle Fragen rund um Lohnschutz und Forschung sowie Zuwanderung zuständig sind.
Anstelle von Begeisterung servierten sie in allen drei Landessprachen dieselbe Vollzugsmeldung: Der Bundesrat nehme Kenntnis vom materiellen Abschluss der Verhandlungen mit der EU. Cassis ergänzte noch, der Bundesrat mache dies mit «Befriedigung» – und das war schon der Gipfel der Herzlichkeit. Helvetische Nüchternheit in Reinkultur.
Die wichtigsten Ergebnisse
In der Sache sind bei den 197 Treffen der Unterhändler keine Überraschungen herausgekommen. Auch wenn die Vertragstexte noch nicht vorliegen, sind die wichtigsten Punkte nunmehr bekannt. Die letzten offenen Fragen betrafen das Geld, die Zuwanderung, den Umgang mit Studierenden aus der EU und das Design der Volksabstimmung über das Verhandlungspaket. Nun liegen die Antworten vor:
Kohäsionszahlungen: Für die Übergangszeit bis 2029 soll die Schweiz ärmere EU-Staaten nachträglich mit Beiträgen von 130 Millionen Franken pro Jahr unterstützen. Danach soll es fast dreimal so viel sein, 350 Millionen pro Jahr. Damit kommt die Schweiz immer noch günstiger weg als Norwegen, das als EWR-Staat aber auch besseren Zugang zum Binnenmarkt der EU hat. Klar ist zudem, dass die Schweiz für die Übergangszeit nichts bezahlen muss, falls das Paket scheitert.
Schutzklausel: Bei der Zuwanderung erhält die Schweiz eine Schutzklausel, die eine Einschränkung der Personenfreizügigkeit erlauben soll. Wenn die Zuwanderung problematische Ausmasse annimmt, kann der Bund die Freizügigkeit temporär einschränken. Für Streitigkeiten in solchen Fällen ist ein Schiedsgericht geplant. Allerdings wird die Schutzklausel schon jetzt sehr unterschiedlich interpretiert: Während Bundesrat Jans in Bern betonte, wie eigenständig die Schweiz die Zuwanderung begrenzen könne, betonten die Verantwortlichen der EU in Brüssel ausdrücklich, es handle sich um ein bilaterales Instrument.
Abstimmungsstruktur: Der Bundesrat will das Paket in zwei Teile aufteilen, in einen «Stabilisierungsteil» mit den bestehenden Verträgen und einen «Weiterentwicklungsteil» mit den neuen Abkommen zu Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit. Die Schweiz muss den Stabilisierungsteil in globo annehmen, das war eine Bedingung der EU. Was noch fehlt, ist ein 0ffizieller Name für das Ganze: EU-Freunde reden von den «Bilateralen III», Kritiker vom «Kolonialvertrag». Nur der Bundesrat weiss offenbar nicht, wie er die Abkommen nennen soll.
Studierende: Im Sommer herrschte in Bern plötzlich Nervosität, weil die EU die Personenfreizügigkeit auf Studierende ausdehnen wollte, womit diese praktisch freien Zugang zu hiesigen Universitäten erhalten hätten. Dies konnten die Diplomaten verhindern. Beim Geld aber hat die Schweiz nachgegeben: Grundsätzlich sollen die Schweizer Hochschulen von Studierenden aus EU-Ländern keine höheren Gebühren verlangen als von inländischen.
So geht es weiter
In den nächsten Monaten werden sich der Bundesrat und seine Spezialisten in der Verwaltung en détail mit den Abkommen auseinandersetzen und die innenpolitische Umsetzung vorantreiben. Im Frühling 2025 sollen die Chefunterhändler der beiden Seiten die endgültigen Abkommenstexte unterschreiben. Der Bundesrat will die Verträge voraussichtlich vor der Sommerpause 2025 in die Vernehmlassung geben.
Voraussichtlich Anfang 2026 fängt die Arbeit des Parlaments an. National- und Ständerat haben es in der Hand, wann und wie das Paket zur Abstimmung gelangt. Gegner der neuen Verträge verlangen eine Abstimmung mit dem doppelten Mehr von Volk und Ständen, weil aus ihrer Sicht die geplanten Regeln zur Rechtsübernahme und zur Streitbeilegung Verfassungscharakter haben. Dies würde die Chancen des Pakets an der Urne schmälern, da der Widerstand in den kleineren, konservativen Kantonen grösser sein dürfte. Laut einem Gutachten des Bundesamts für Justiz kommt eine Abstimmung mit Ständemehr nicht infrage. Der Bundesrat will sich erst im Frühling festlegen. Das letzte Wort hat auch hier das Parlament.
In Bundesbern läuft man aufgrund der EU-Verhandlungen seit Monaten wie auf Eiern. Niemand will sich zu weit aus dem Fenster lehnen. Seit dem Abbruch der Verhandlungen im Jahr 2021 sind die Diskussionen über die Beziehungen zur EU angespannt wie lange nicht mehr. Die hohe Asylzuwanderung nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs hat die Debatte über die Personenfreizügigkeit zusätzlich befeuert.
Die SVP hält als grösste Partei den Druck mit ihrer 10-Millionen-Initiative hoch, die in letzter Konsequenz das Ende der Freizügigkeit verlangen würde. Die Kreise, die sich klar für das Abkommen aussprechen, muss man fast suchen: Zu hören sind vor allem Economiesuisse, die Kantone und die Grünliberalen. Die FDP und die Mitte sind gespalten, und auch aus der traditionell europafreundlichen Wirtschaft sind zunehmend kritische Stimmen zu hören, welche sich vor dem «Bürokratiemonster» fürchten. Auch die Linke ist nicht geschlossen, sie schwankt zwischen Europaeuphorie und Protektionismus.
Vor allem die Gewerkschaften bleiben hart. Ihr Ziel ist, beim Lohnschutz Kompensationen im Inland herauszuholen. Unter Leitung des Staatssekretariats für Wirtschaft diskutieren sie mit den Arbeitgebern unter anderem über die bessere Verankerung von Mindestlöhnen in den Gesamtarbeitsverträgen. Der Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard ist ein kluger Taktierer und knallharter Verhandler. Unterstützung von den Gewerkschaften gibt es nur, wenn der Preis stimmt. Gleichzeitig sprechen sich die Wirtschaft, die FDP und die SVP klar gegen Konzessionen in diesem Bereich aus.
Kurzum: Ob das Paket in der Schweiz politisch eine Chance hat, ist völlig unklar. Das mag die unterkühlte Stimmung an der Medienkonferenz des Bundesrats erklären.
Wenn der Bundesrat die Bevölkerung überzeugen will, muss er in den nächsten Monaten kommunikativ zulegen. Doch es bleibt noch Zeit; dass die finale Abstimmung vor dem Jahr 2028 stattfindet, ist unrealistisch. Im Herbst 2027 wird in der Schweiz gewählt. Ein Volksentscheid über das umstrittene EU-Paket mitten im Wahljahr wäre eine Steilvorlage für die SVP.
In Brüssel dürfte der Prozess schneller gehen. Allerdings ist noch unklar, ob die Regierungen der Mitgliedsländer die Übereinkunft einstimmig gutheissen müssen.