Die Schweiz hat mit der EU eine neue bilaterale Übereinkunft vereinbart. Bei der Zuwanderung wird der Bundesrat keine Obergrenze setzen können, wenn er sie als zu hoch erachtet.
Die Frage der Zuwanderung aus der EU in die Schweiz war der grosse Brocken der nun abgeschlossenen Verhandlungen zwischen den beiden Parteien. Die Schweiz wollte mit dem Staatenbund seit Beginn der Gespräche über einen sogenannten Schutzmechanismus verhandeln, der in Kraft tritt, wenn die Migration aus ihrer Sicht ein gewisses Mass übersteigt; bei Maros Sefcovic, dem für das Land zuständigen EU-Kommissar, fand sie mit diesem Anliegen scheinbar aber kein Gehör.
In den vergangenen neun Monaten berief er sich immer wieder auf das Common Understanding, also den Leitfaden der Verhandlungen, den Experten beider Seiten im Jahr 2023 ausgehandelt hatten. Darin ist von einem Schutzmechanismus keine Rede, für Sefcovic gab es daher auch keinen Grund, darüber zu sprechen. Doch die Parteien verhandelten trotzdem darüber.
Die Schweiz darf bei der Zuwanderung keine Obergrenze setzen
Künftig wird ein Schiedsgericht darüber entscheiden, ob die Schweiz Schutzmassnahmen gegen eine aus ihrer Sicht zu hohe Einwanderung vornehmen darf. Der Bundesrat müsse aber, so sagen Personen aus dem Umfeld der Kommission, das Schiedsgericht davon überzeugen, dass die Schweiz wirklich in ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecke und dem Land nicht wieder gutzumachende Schäden drohten. Nur dann seien Schutzmassnahmen überhaupt in Betracht zu ziehen.
Am Freitag haben EU-Vertreter die Schweizer Regierung zudem verdächtigt, dass sie vor dem heimischen Publikum nun den Eindruck zu erwecken versuche, die Schutzklausel sei eine unilaterale Massnahme. Das sei aber nicht der Fall, es handle sich um ein bilaterales Instrument, betonen sie ausdrücklich. Zudem sei es der Schweiz nicht gestattet, eine Obergrenze («Cap») bei der Zuwanderung aus der EU zu setzen. «Den Binnenmarkt zu bewahren, war uns wichtig», sagt Sefcovic.
Hoffnung auf mehr Wettbewerb im Schienenverkehr
Fast ebenso bedeutend ist für die EU der Transportbereich, vor allem der Schienenverkehr. Laut dem Landverkehrsabkommen mit der EU von 1999 müsste die Schweiz Eisenbahnunternehmen schon seit langem erlauben, eigenständig grenzüberschreitende Verbindungen in die Schweiz anzubieten. Demnach könnte zum Beispiel ein privater Anbieter einen Zug zwischen München und Zürich zirkulieren lassen.
Doch den sogenannten Internationalen Schienenpersonenverkehr (IPV) gibt es in der Realität nicht, die Schweiz und die SBB haben diesen hintertrieben. Das wird sich nun ändern. Dabei hat die Kommission auffallend klar betont, dass ein international verkehrender Zug auch Passagiere in der Schweiz aufnehmen dürfe.
Wenn er also von München nach Zürich fährt, können Passagiere beispielsweise in St. Gallen einsteigen. Die Forcierung des internationalen Zugverkehrs ist ein grosses Anliegen der EU, auch um 2050 netto die Klimaneutralität zu erreichen.
Scharfe Konkurrenz werden die SBB aber kaum so rasch erhalten. Der Betrieb von Eisenbahnen ist nicht besonders lukrativ, beispielsweise weil das Wagenmaterial teuer ist. Zudem dürfte es für neue Anbieter schwierig sein, attraktiv scheinende Fahrzeiten («Slots») zu ergattern.
Die EU will den Vertrag rasch ratifizieren
Die EU wird im kommenden Jahr sogleich mit der Ratifizierung des neuen Vertrags beginnen. Dieser Prozess wird auf jeden Fall rascher voranschreiten als in der Schweiz, offene Punkte gibt es allerdings auch im Staatenbund. So ist nicht klar, ob die Regierungen der Mitgliedsländer (Council) die Übereinkunft einstimmig gutheissen müssen. Das haben Juristen noch abzuklären. Aus heutiger Sicht dürfte es aber Vertragsbestandteile geben, für die es im Council die Einstimmigkeit braucht.
Sicher ist hingegen, dass das EU-Parlament mehrheitlich dem Vertrag zustimmen muss. Für den EU-Parlamentarier Andreas Schwab von der deutschen CDU ist das Ergebnis vom Freitag auf jeden Fall «ein guter Tag für die Zusammenarbeit mit der Schweiz».
Für die Kommission dürfte es keine hohe Hürde sein, die Zustimmung vom Parlament und vom Council zu bekommen. Immerhin hat sie beide Gremien regelmässig über die Verhandlungen informiert, zuletzt vor wenigen Tagen. Zudem weicht der Vertrag aus ihrer Sicht nur wenig vom Common Understanding ab.
Die deutsche Industrie will die Übereinkunft unbedingt
Die grössten Fürsprecher der Übereinkunft sind wohl deutsche Industrievertreter. Der nördliche Nachbar ist der mit Abstand bedeutendste Handelspartner der Schweiz. Der Abschluss sei ein äusserst wichtiger Baustein in der europäischen Handelspolitik, sagt ein Vertreter der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Berlin.
Aber was passiert, wenn die Schweizer in einer Abstimmung das Vertragspaket ablehnen? Sefcovic wollte dazu keine Spekulationen anstellen. Man solle jetzt das Ende der Verhandlungen feiern und die Ratifizierungsarbeit aufnehmen. «Wir leben in einer rauen Welt», meinte er. «Der Vertrag zementiert die Freundschaft der Schweiz mit der EU.» Dafür sei aber der grösste diplomatische Effort nötig gewesen, den er in seiner Karriere erbringen musste, sagte der EU-Kommissar.