Der Mitte-Präsident Gerhard Pfister will der Nachhaltigkeitsinitiative der SVP einen direkten Gegenvorschlag auf Verfassungsebene entgegenstellen. Er basiert auf einem Modell des Ex-Staatssekretärs Michael Ambühl.
Während Aussenminister Ignazio Cassis bei der Präsentation des materiellen Verhandlungsergebnisses mit der EU dreinschaute wie ein Weihnachtskarussellbetreiber bei Regen, wirkte Bundespräsidentin Viola Amherd am Freitag fast schon euphorisch.
Dabei hatte es Amherds Mitte-Partei lange vermieden, eine klare Positionierung vorzunehmen. Der Parteichef Gerhard Pfister stand dem gescheiterten Rahmenvertrag skeptisch gegenüber und hat sich seither auch für die Nachfolgeverträge nicht in die Bresche geworfen. Die Mitte ist europapolitisch gespalten. Begeisterte Pro-Europäer und kritische Vertragsskeptiker halten sich etwa die Waage.
«Weitere Massnahmen nötig»
Doch nun schlägt die Partei einen zurückhaltend optimistischen Ton an. Das neue Verhandlungsergebnis sei ein klarer Fortschritt im Vergleich zum Rahmenabkommen von 2018, teilte sie am Freitag mit. Die Frage der Zuwanderung bleibe aber zentral. Dem Bundesrat sei es zwar gelungen, eine Konkretisierung der bisherigen Schutzklausel zu erreichen. Mit Blick auf die Zuwanderungsinitiative der SVP seien allerdings weitere Massnahmen nötig.
Deshalb will die Mitte dem Volksbegehren einen Gegenvorschlag auf Verfassungsebene entgegenstellen. Bund und Kantone, sagt Gerhard Pfister, sollten die Möglichkeit haben, bei im Vergleich zur EU überdurchschnittlichem Zuwanderungsdruck regionen- und branchenspezifische Massnahmen zu ergreifen.
Pfister schwebt damit offenbar die Umsetzung des Schutzklauselmodells von Michael Ambühl vor. Der damalige Chefunterhändler der bilateralen Verträge II formuliert darin, wie die im Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU festgehaltenen Schutzmassnahmen konkret umgesetzt werden könnten. Der entsprechende Artikel im Abkommen hält fest, dass die Schweiz bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» Gegenmassnahmen treffen kann. Er kam bisher allerdings nie zur Anwendung, weil klare Kriterien fehlen und Massnahmen nur im Einklang mit der EU verfügt werden könnten.
Das Ambühl-Modell zieht deshalb als Grundlage die Nettomigration innerhalb der EU- und Efta-Staaten heran. Sollte die Einwanderung einen bestimmten Schwellenwert überschreiten, solle die Schweiz zuerst versuchen, mit der EU geeignete Massnahmen zu beschliessen. Erst wenn keine Einigung erzielt werden kann, soll sie unilateral Massnahmen beschliessen dürfen. In einem ersten Schritt müsste sie versuchen, die negativen Folgen der Zuwanderung mit marktwirtschaftlichen Lenkungsmassnahmen zu bekämpfen. Blieben die Probleme bestehen, könnte die Schweiz zu Kontingenten greifen.
Die Nachhaltigkeitsinitiative gegen eine 10-Millionen-Schweiz der SVP gilt als grosses Hindernis auf dem Weg einer institutionellen Einigung mit der EU. Wird sie angenommen, müssen der Bundesrat und die Bundesversammlung ab einem Grenzwert von 9,5 Millionen Einwohnern Abwehrmassnahmen treffen. Ist der Grenzwert nach zwei Jahren immer noch überschritten und können keine Ausnahme- oder Schutzklauseln aktiviert werden, so muss die Schweiz das Freizügigkeitsabkommen mit der EU auf den nächstmöglichen Termin kündigen. Da das Volksbegehren wahrscheinlich vor der Abstimmung über das Vertragspaket mit der EU an die Urne kommt, wäre das neue Vertragspaket mit der EU bei Annahme der Initiative wohl hinfällig.
Politik und Wirtschaft sind sich deshalb einig, dass der Initiative der SVP innenpolitische Massnahmen entgegengestellt werden müssen. Justizminister Beat Jans präsentierte seinen Kollegen in der Landesregierung ein ganzes Paket von Abwehrmassnahmen, scheiterte aber im Gremium, weil er die Initiative der SVP mit Kinderzulagen, strengerem Mieterschutz und anderen Sozialleistungen verhindern wollte.
FDP und Linke reagieren abwartend
Ob die geplante Offensive der Mitte auch von anderen Parteien unterstützt wird, ist offen. Der freisinnige Waadtländer Nationalrat Laurent Wehrli hat sich in der Westschweizer Zeitung «Le Matin Dimanche» am Sonntag zwar für einen Gegenvorschlag zur SVP-Initiative ausgesprochen. Er warnte aber auch davor, die EU zu verärgern. Man müsse vorsichtig ans Werk gehen, sagte er. Zurückhaltend reagierte auch der FDP-Präsident Thierry Burkart, der sich schon mehrfach für griffige Schutzmassnahmen ausgesprochen hat. Er kenne die Pläne der Mitte nicht, sagte er auf Anfrage, deshalb könne er sich auch nicht dazu äussern.
Um mit ihrer Idee mehrheitsfähig zu sein, wäre die Mitte vor allem auf die Linke angewiesen, doch die reagiert ebenfalls zurückhaltend. Der grüne Genfer Nationalrat Nicolas Walder sagte zu «Le Matin Dimanche», er könne sich nicht vorstellen, dass die EU das Ambühl-Modell akzeptiere. Und der Genfer SP-Ständerat Carlo Sommaruga erklärte, dass primär der Lohnschutz im Zentrum der kommenden Diskussionen stehen müsse.
Sicher ist: Die Diskussion um die Zuwanderung geht gerade erst los. Der Bundesrat hat mit der EU zwar eine Schutzklausel ausgehandelt; wie die genau aussieht, konnte er am Freitag aber nicht sagen. So ist noch offen, welche Rolle dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zufällt. Entscheidet allein das paritätisch zusammengesetzte Schiedsgericht ohne Beizug des Europäischen Gerichtshofes, wäre das ein starkes Argument gegen die 10-Millionen-Schweiz-Initiative. Muss der EuGH hingegen bei Streitfällen angerufen werden, erhält die SVP weiter Auftrieb.