Über ein Dutzend Jahre nach ihrer Trennung erinnert eine sorgfältige Biografie an die faszinierend ambivalente Band. Ihr Stil: Punk im Rüschenhemd.
Kann man absichtslos neunzig Millionen Platten verkaufen? Die Frage ist weniger rhetorisch, als sie den Anschein macht. Denn einerseits tat die Gruppe R.E.M., die sich nach den raschen Augenbewegungen im Traumschlaf («rapid eye movements») benannt hatte, in ihrer Karriere alles andere als träumen; sie suchte konsequent den Erfolg. Andererseits stand sie sich dabei aber immer wieder selber im Weg. Ausserdem verdrängte sie die Zeichen des Niedergangs.
Das resultiert aus der sorgfältigen Musikbiografie, die der Journalist Peter Ames Carlin über die vier musizierenden Freude recherchiert hat. Sie hatten sich in den achtziger Jahren an der Universität der Kleinstadt Athens im amerikanischen Südstaat Georgia kennengelernt: der Sänger Michael Stipe, der Gitarrist Peter Buck, der Bassspieler Mike Mills, der Schlagzeuger Bill Berry. 12 Jahre später und nach 31 Jahren gemeinsamer Musik löste sich die Band in Freundschaft auf.
Phantastisches Konzert in Montreux
Keine Frage: Das Quartett hat viel für den Welterfolg getan. Die vier gaben unablässige Konzerte, nahmen laufend neue Platten auf, liessen Videos drehen und gaben Interviews, wechselten im richtigen Moment von der kleinen zur mächtigen Plattenfirma, suchten sich einen neuen Manager, absolvierten weltweite Stadiontouren und begeisterten die Fans mit ihren intensiven Konzerten. Wer R.E.M. an einem guten Abend erlebte, an ihrem phantastischen Konzert vom 6. Juli 1999 in Montreux zum Beispiel, bekam ein vielfältiges, anspruchsvolles, über zwei Dutzend Songs langes und trotzdem nicht langweiliges Set vorgespielt.
Dass R.E.M. solche Erfolge feiern konnten, ohne die Ansprüche zu senken, zumindest über eine bestimmte Zeit hinweg – das lag an der Stärke als Kollektiv. Der Gitarrist Peter Buck, der Bassist Mike Mills und der Schlagzeuger Bill Berry, alles Multiinstrumentalisten und Mitsänger, entwickelten die Songs, die Michael Stipe mit seinem Hang zum Surrealen vertextete. Die Dynamik ihres Zusammenspiels hatten die vier Musiker in unzähligen Konzerten entwickelt, vom Uni-Fest bis zum Fussballstadion. Ausserdem waren sie miteinander befreundet und sind es geblieben.
Andererseits behinderten sie sich immer wieder selber. Auch das macht der Biograf Carlin in seinem 450 Seiten starken Buch der Band deutlich. So hassten es die vier, Erwartungen zu entsprechen. Mit ihrer umständlichen Haltung brachten sie schon bei ihrem ersten landesweiten Fernsehauftritt den jungen Talkmaster David Letterman in die Sätze. Sie wollten nur zusammen interviewt werden und spielten als zweites Lied einen so neuen Song, dass sie noch keinen Titel dafür hatten.
Dazu kam die duale Persönlichkeit des Sängers Michael Stipe; erst strahlte der attraktive Mann sein Charisma aus, dann wirkte er abweisend oder abwesend. Als Sohn eines Berufsoffiziers wuchs Stipe an allen möglichen Orten auf, wie etwa auch Jim Morrison und Frank Zappa. Das machte den Sänger zum Aussenseiter; schüchtern war er sowieso, zusätzlich gehemmt durch seine Homosexualität. Gleichzeitig forcierte er die Beachtung und genoss den Auftritt. «Ich wollte der grösste Star der Welt werden», zitiert ihn der Biograf.
Begegnung in Genf
Wenn Michael Stipe seine Introversion überwinden konnte, tanzte er grell geschminkt und in silbrigem Lamé-Anzug durch die Feste. Ähnlich ambivalent verhielt er sich als Sänger. Frühe Texte wie «Radio Free Europe» oder «Can’t Get There From Here» formulierte er vieldeutig oder sang sie unverständlich, was noch mehr zu ihrer Deutung motivierte. Interviews gab er am Anfang selten und schickte den Gitarristen Peter Buck vor.
So hat man die Band auch bei der Begegnung in Genf erlebt, das war im Oktober 1985. Peter Buck liess sich auf ein leidenschaftliches Gespräch über Musik und die Einflüsse der Gruppe ein, Michael Stipe sass in einer Garderobenecke mit einem Bildband über den surrealistischen Fotografen Man Ray. «It’s a Man Ray kind of sky», sang der Sänger wenig später auf der Bühne der Genfer «Faubourg»-Halle.
Auch dieser Auftritt bleibt als zunächst berückende und zuletzt ekstatische Aufführung einer Band in Erinnerung, die den filigranen Stil des englischen Songwriters Nick Drake mit Elementen aus Folk und Rock, den avantgardistischen Absichten von Velvet Underground und der Energie des Punk zu einem dichten, von harten Breaks strukturierten Sound zusammenbauten. Punk im Rüschenhemd, wenn man so will.
Michael Stipe fasste seine Abneigung gegenüber der Masse und der Sehnsucht nach ihrer Verehrung in drei oft zitierte Zeilen: «That’s me in the corner / That’s me in the spotlight / Losing my religion». Der letzte Satz wurde in Europa als Ausdruck einer Glaubenskrise verstanden, dabei hatte ihn der Sänger als Missverständnis einkalkuliert. Ich verliere meinen Glauben: Das sagen Mütter im amerikanischen Süden zu ihren Kindern, wenn sie die Geduld verlieren; Metaphysik als Morgenschelte.
Das Drama von Lausanne
Dass auch andere Musiker von R.E.M. mit dem stratosphärischen Ruhm nicht klarkamen, erlebte man an ihrem zweiten Konzert entlang des Genfersees. Es passierte am 1. März 1995 in der Patinoire von Malley westlich von Lausanne. Gegen Ende des Abends taumelte der Schlagzeuger Bill Berry von seinem Instrument weg, hielt sich den Kopf und brach dann zusammen. Seine Kollegen beendeten das Konzert mit dem Schlagzeuger der Vorband, wir im Publikum dachten uns nichts dabei. Erst Stunden später im Lausanner CHUV-Spital realisierten die Ärzte, dass der junge Musiker eine Gehirnembolie erlitten hatte, eine lebensbedrohliche Ausweitung der Arterien.
Eine sofortige Operation rettete dem Schlagzeuger das Leben. Berry wurde wieder gesund, zog sich aber vom Showgeschäft zurück und arbeitete als Bauer. Auf derselben Tournee erkrankten zwei weitere Musiker der Band. Trotzdem beschlossen die drei, mit Gastmusikern weiterzumachen. Obwohl sie weitere grossartige Lieder schreiben sollten und auch auf der Bühne überzeugten, vermochten R.E.M. nicht mehr an ihre grössten Erfolge anzuschliessen. Das von einer dankbaren Presse zum Meisterwerk gestemmte «New Adventures In Hi-Fi» von 1996 zum Beispiel bleibt unter dem Niveau früherer Werke. Auch spätere Veröffentlichungen verstärken den Eindruck, die Gruppe habe den Moment fürs Aufhören verpasst.
Davon steht in dieser Biografie zu wenig. Obwohl Peter Carlin unter Mithilfe und ohne Einmischungen der Musiker recherchieren durfte und differenziert berichtet, vermisst man einen kritischeren Zugang. Und merkt, dass der Autor schon mehrere solcher affirmativen Bücher geschrieben hat, über Bruce Springsteen etwa oder Paul McCartney. Seine routinierte Kompetenz wird den Talenten der eigenwilligen Südstaatler kaum gerecht.
Dafür inspiriert sie einen dazu, die Musik von R.E.M. wieder und wieder zu hören. Die «rapid eye movements» signalisieren rasche horizontale Augenbewegungen während einer Traumschlafphase. R.E.M. haben ihre Träume vertont, als wären es die unsrigen.
Peter Ames Carlin: «The Name of This Band Is R.E.M. A Biography». Doubleday, New York 2024. 447 S., Fr. 43.90.