Die geringe Arbeitslosigkeit in der Schweiz zeugt von hoher Passgenauigkeit zwischen den ausgebildeten Fähigkeiten und den Anforderungen des Arbeitsmarkts. Doch wir sollten darauf achten, keine Akademiker auf Vorrat auszubilden.
Die Vorweihnachtszeit ist ideal, um Wertschätzung und Dankbarkeit auszudrücken. Diese Gelegenheit bietet sich, wenn wir das Zusammenspiel zwischen unserem Bildungssystem und dem Arbeitsmarkt betrachten. Der Blick auf den Arbeitsmarkt zeigt: Mit einer Arbeitslosenquote von weniger als 3 Prozent und einer ebenso niedrigen Jugendarbeitslosigkeit stehen wir im internationalen Vergleich sehr gut da.
Die vergangenen Jahrzehnte haben zudem bewiesen, dass sich die niedrige Arbeitslosigkeit durch eine solide Krisenresistenz auszeichnet. Das schlägt in den Statistiken der Einkommensungleichheit positiv zu Buche: Im OECD-Vergleich belegen wir einen Spitzenplatz bei der Gleichverteilung der Einkommen vor Umverteilung. Dies ist Ergebnis eines stabilen institutionellen Rahmens.
Wie die diesjährigen Wirtschaftsnobelpreisträger Daron Acemoglu, Simon Johnson und James Robinson gezeigt haben, spielen Institutionen eine entscheidende Rolle für den Erfolg von Wirtschaft und Gesellschaft. Eine dieser zentralen Institutionen ist das Bildungswesen. Nur wenn die Menschen mit den Fähigkeiten ausgestattet werden, die auch wirklich auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind, kann die Arbeitslosigkeit langfristig niedrig gehalten werden. Die Schweiz macht hier einen guten Job, für den wir – nicht nur vorweihnächtlich gestimmt – dankbar sein können.
Der Mismatch ist vergleichsweise gering
Auskunft über diese Passgenauigkeit geben sogenannte Mismatch-Studien. Sie messen die Diskrepanz zwischen den individuellen Fähigkeiten und den Anforderungen des Arbeitsmarkts. Die Schweiz zeichnet sich durch einen hohen Anteil an Berufsbildungsabsolventen aus. Heutzutage entscheiden sich etwa zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler nach der obligatorischen Schulzeit für eine Berufsbildung. Diese berufsspezifische Ausbildung hat den Vorteil, dass sie gezielte Kompetenzen vermittelt, die den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern und mit vergleichsweise hohen Einstiegslöhnen einhergehen.
Aus der internationalen Literatur geht jedoch hervor, dass spezifisch erworbene berufliche Kompetenzen im Zuge eines Strukturwandels rascher an Bedeutung verlieren können als allgemeinere Fähigkeiten. Damit erhöht sich die Gefahr eines Mismatchs. In der Schweiz zeigt sich beispielsweise gemäss dem Bildungsbericht, dass Personen mit sehr berufsspezifischen Kompetenzen seltener den Beruf wechseln und bei Arbeitslosigkeit ein höheres Risiko haben, länger ohne Anstellung zu sein.
Trotzdem sind die Lohneinbussen, die durch eine starke Berufsspezialisierung insgesamt entstehen, in der Schweiz vergleichsweise gering. Zudem sind Personen, die nach einer Berufsmaturität einen Tertiärabschluss erlangen, nach erfolgreichem Abschluss häufiger erwerbstätig und seltener arbeitslos als jene, die über eine allgemeinbildende Schule den Weg an die Hochschule fanden. Das Berufsbildungssystem darf also derzeit als passgenau beurteilt werden.
Tertiäre Abschlüsse und ihre Passgenauigkeit
Wie sieht es im Tertiärbereich – den Hochschulen und der höheren Berufsbildung- aus, der in den vergangenen Jahrzehnten deutlich ausgeweitet wurde? Auch hier sind die Arbeitsmarktchancen intakt und die Arbeitslosenquoten gering. Interessant ist die Verteilung der sogenannten inadäquat beschäftigten Absolventen. Diese Personen üben Tätigkeiten aus, die keinen entsprechenden Abschluss erfordern und die den erworbenen fachlichen Qualifikationen nicht angemessen sind.
Bei den ausgebildeten Lehrkräften liegt dieser Anteil unter 2 Prozent, bei Masterabsolventen der universitären Hochschulen bei knapp 6 Prozent und bei den eidgenössischen Fachausweisen bei über 10 Prozent. Bei den Hochschulabsolventen offenbaren sich auch fachspezifische Unterschiede. Während bei den Medizinern nahezu 100 Prozent der Erwerbstätigen eine ausbildungsadäquate Beschäftigung haben, liegt dieser Anteil bei den Historikern und Kulturwissenschaftern bei weniger als 80 Prozent. Will heissen: Mehr als ein Fünftel der Historiker und Kulturwissenschafter üben eine Tätigkeit aus, für die sie keinen entsprechenden Abschluss benötigen würden.
Insgesamt zeigt sich, dass die Schweiz im internationalen Vergleich bei der Passgenauigkeit des Bildungssystems gut dasteht, sich jedoch nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen darf. Daraus lässt sich der folgende Neujahrsvorsatz ableiten: Die Schweizer Bildungspolitik muss dafür sorgen, dass sowohl der allgemeinbildende als auch der berufsspezifische Bildungsweg Kompetenzen vermittelt, die tatsächlich auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Zudem muss sie darauf achten, dass Tertiärabschlüsse nicht auf Vorrat erworben werden, die für die spätere Tätigkeit nicht erforderlich sind.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine besinnliche Weihnachtszeit und ein erfolgreiches neues Jahr – ein Jahr, in dem wir die symbiotische Beziehung zwischen Arbeitsmarkt und Bildungswesen weiter pflegen. Auf dass alle erfolgreich arbeiten und wirken können.
Melanie Häner-Müller leitet den Bereich Sozialpolitik am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.
Ein Artikel aus der «»