Der Zivilschutz in Schweden wurde lange vernachlässigt. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist das anders. Carl-Oskar Bohlin soll die Bevölkerung krisenfest machen, ohne sie zu verängstigen. Geht das?
Am 7. Januar 2024 schreckte Carl-Oskar Bohlin die schwedische Öffentlichkeit auf. «Es könnte Krieg geben», sagte er vor dem schwedischen König, ausländischen Diplomaten und anderen Würdenträgern. An der jährlichen Sicherheitskonferenz «Volk und Verteidigung» mahnte Bohlin, die russische Invasion in der Ukraine gefährde auch das eigene Land. Es sei höchste Zeit, den Zivilschutz auf Vordermann zu bringen. «Das Gefühl, dass es nicht genügend schnell geht, raubt mir den Schlaf», gestand Bohlin damals.
Die Rede des Ministers schlug in Schweden hohe Wellen. Auch internationale Medien berichteten darüber. Bohlin betreibe Kriegstreiberei, schimpfte die Opposition.
Den Zivilschutz zerlegt
Ein Jahr nach der aufsehenerregenden Rede sitzt der 39-Jährige mit dem Vollbart in der Lobby eines Berner Hotels. Bohlin, wie Ministerpräsident Ulf Kristersson Mitglied der Mitte-rechts-Partei Die Moderaten, kommt von einer Konferenz über Cyberangriffe in Genf. Den Vorwurf, er sei zu alarmistisch aufgetreten, weist er zurück. «Ich habe nie behauptet, der Krieg stehe unmittelbar bevor. Meine Botschaft lautete: Wir müssen alles unternehmen, um eine solche Situation zu vermeiden.» Nach seiner eigenen Beurteilung fielen 95 Prozent der Reaktionen auf die Kapuzinerpredigt positiv aus.
Dieser Einschätzung dürften nicht alle zustimmen. Schwedische Eltern machten ihrem Ärger über verängstigte Kinder Luft. Schliesslich sah sich der damalige Oberbefehlshaber der Armee, Micael Byden, gezwungen, in einer Jugendsendung die Gemüter zu besänftigen. Er mache sich keine Sorgen, dass gleich der Krieg ausbreche. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei die Bedrohungslage aber noch nie so angespannt gewesen wie jetzt. Auch diese Aussage wirkte nicht wirklich beruhigend.
Unbestritten ist, dass Schweden bei der militärischen und der zivilen Verteidigung erheblichen Nachholbedarf hat. Nach dem Ende des Kalten Kriegs erfreute sich das Königreich an der Friedensdividende und strich die Militärbudgets zusammen. Bohlin sagt: «Nach Ende des Kalten Kriegs wurde der Zivilschutz zerlegt.» Das Szenario eines bewaffneten Angriffs sei quasi ausgeschlossen worden. Für viele im skandinavischen Königreich, wo seit 210 Jahren Frieden herrscht, war Krieg kaum vorstellbar. Daher fand Bohlins Weckruf so viel Gehör.
Ein Umdenken hatte zwar bereits Russlands Annexion der Krim ausgelöst; doch erst der Überfall auf die Ukraine rief die Dringlichkeit ziviler Schutzmassnahmen in Erinnerung. Sie sollen sicherstellen, dass die Verwaltung und kritische Infrastruktur auch in Krisensituationen funktionieren. Zum ersten Mal seit Ende des Weltkriegs wurde in Schweden 2022 wieder ein Zivilschutzchef im Ministerrang eingesetzt.
Von 2025 bis 2030 wird das Budget für den Zivilschutz verfünffacht. Früher habe das Geld gefehlt, dafür sei das Zeitbudget unbeschränkt gewesen. Jetzt ist es genau umgekehrt: «Wir haben genügend Geld, aber wenig Zeit.» Bohlin, der schnell denkt und schnell redet, plädiert für pragmatische Lösungen, auch wenn sie nicht perfekt sind. «Lieber schnell und improvisiert als langsam und perfekt», lautet seine Devise.
Was Schweden von der Ukraine lernt
Bohlin unterstreicht bei jeder Gelegenheit, dass der Zivilschutz nicht allein Sache der Behörden sei. Er gehe jede und jeden etwas an. Beispielhaft zeige sich das in der Ukraine. «Die Bevölkerung hat in diesem brutalen Krieg enorme Widerstandsfähigkeit bewiesen.» Der schwedische Minister hat das kriegsversehrte Land im November besucht.
Zu Resilienz ruft auch die Informationsbroschüre «Wenn eine Krise oder der Krieg kommt» auf, die Bohlin an die zehn Millionen Schwedinnen und Schweden verschicken liess. Darin heisst es: «Wenn Schweden von einem anderen Land angegriffen wird, werden wir niemals aufgeben. Alle Informationen, die besagen, dass der Widerstand aufgegeben werden soll, sind falsch.» Auf 32 Seiten erfährt die Bevölkerung, wie ein Luftalarm tönt oder wie sie sich bei einem Terrorangriff verhalten soll.
Sabotage und Desinformation
Ausser um klassische Infrastruktureinrichtungen wie Schutzkeller kümmert sich Schwedens Zivilschutz auch um die Abwehr von Cyberangriffen oder Falschmeldungen. Zeitgleich zum Nato-Beitrittsverfahren wurde Schweden ausserdem Ziel von mutmasslichen Sabotageaktionen. Auf einer wichtigen Zugstrecke etwa, wo unter anderem Eisenerz und andere für die Rüstungsindustrie relevante Grüter transportiert werden, entgleisten mehrmals Güterzüge.
In sozialen Netzwerken und den Medien tauchten derweil Berichte auf, in denen behauptet wurde, dass Sozialämter muslimischen Familien willkürlich Kinder wegnähmen und diese in staatliche Einrichtungen steckten. Um solche Desinformationskampagnen einzudämmen, schuf Stockholm 2022 eine Agentur für psychologische Abwehr. Zivilschutzminister Bohlin, der Schwedens Bevölkerung krisenfest machen will, ist noch nicht am Ziel. Aber er sieht offenbar genügend Fortschritte. Er schlafe wieder ganz gut, meint er am Schluss des Gesprächs.