In der Uiguren-Region Xinjiang expandieren Solarfirmen, trotz Importverboten der USA. In anderen Gegenden Chinas wachsen solche Unternehmen noch schneller. Das Land ist in der Solarindustrie zum Quasimonopolisten geworden.
Am Fuss einer Bergkette in Xinjiang, nahe der Wüstenstadt Shanshan, erstreckt sich ein riesiger Industriepark. Er heisst etwas umständlich und auf jeden Fall euphemistisch «Integrierter Kohle-Strom-Silizium-Industriepark für die grüne Kreislaufwirtschaft». In der Mitte thront ein Kraftwerk, das dank Xinjiangs grossen Kohlevorkommen günstigen – und umweltschädlichen – Strom erzeugt. Mit dem Strom wird Quarzgestein in Öfen erhitzt, bis sich Silizium herauslöst, das andernorts verarbeitet wird zu Solarzellen.
Der Industriepark gehört Hoshine Silicon, dem weltweit grössten Hersteller von sogenanntem metallurgischem Silizium als wichtigem Rohstoff für die Solaranlagen. Hoshine ist ein zentraler Akteur in Chinas Solarindustrie, die weltweit ein Quasimonopol hat. Sie ist somit praktisch unentbehrlich für die Umstellung auf erneuerbare Energien.
Mit Hoshine nahm aber auch die Debatte über Zwangsarbeit in der chinesischen Solarindustrie Fahrt auf. Im Juni 2021 beschlagnahmte der amerikanische Zoll Importe von Hoshine und von Drittfirmen, die Hoshine-Silizium verwendeten. Das Ministerium für Inlandsicherheit verwies auf «hinreichende» Hinweise, dass Hoshine Zwangsarbeit nutze. Am selben Tag landete jene Hoshine-Tochter, die den Industriepark bei Shanshan betreibt, auf einer Liste zur Exportkontrolle (entity list).
US-Gesetz gegen Zwangsarbeit rüttelt Solarindustrie durch
Das war ein Vorbote zum amerikanischen Gesetz gegen Zwangsarbeit von Uiguren, das im Juni 2022 in Kraft trat. Das Gesetz geht davon aus, dass Zwangsarbeit ein wichtiger Teil der staatlichen Repression gegen Uiguren und andere Turkvölker im Nordwesten Chinas ist. Deshalb blockieren die USA Importe aus Xinjiang, ausser die Firmen können beweisen, dass sie nicht von Zwangsarbeit profitiert haben.
Das Gesetz hat die weltweite Solarindustrie durchgerüttelt. Denn Hoshine verkauft sein Silizium an alle wichtigen Hersteller des feineren Polysiliziums, das letztlich zu Solarzellen verarbeitet wird. Vor Inkrafttreten des US-Gesetzes wurden 45 Prozent des weltweiten Polysiliziums in Xinjiang produziert. Rein rechnerisch enthielt also fast jedes zweite Solarmodul auf der Welt Rohstoffe aus Xinjiang.
Mittlerweile ist der Anteil von Polysilizium aus Xinjiang auf rund 35 Prozent gesunken. Viele chinesische Solarfirmen haben nach eigenen Angaben zusätzlich Xinjiang-freie Lieferketten aufgebaut. Die USA importieren Solarmodule verstärkt aus Südostasien und Indien.
Das US-Gesetz wirkt also. Während etwa die EU noch darüber debattiert, wie sie Zwangsarbeit ausschliessen kann, zeigt das Beispiel, dass Importländer und Konsumenten Einfluss darauf haben, wie am anderen Ende der Welt produziert wird. Zugleich illustriert der Fall, dass weiterhin viele Fragen zur Zwangsarbeit offenbleiben – und dass es kein schnelles Ende aus der weltweiten Abhängigkeit von Chinas Solarindustrie gibt.
Die amerikanischen Vorwürfe gegen Hoshine dürften massgeblich auf einer Studie gründen, die kurz vor dem Importstopp erschien. Darin zeigten eine Professorin der britischen Sheffield Hallam University und eine Expertin für chinesische Lieferketten, dass Hoshine und andere Silizium-Hersteller am staatlichen Programm zum «Transfer von überschüssigen Arbeitskräften» teilnehmen. Das Programm hat das erklärte Ziel, vermeintlich rückständige Dorfbauern zu modernen Fabrikarbeitern zu machen.
Die meisten Arbeitskräfte sind Uiguren und Vertreter anderer Minderheiten. Laut der chinesischen Regierung fanden zwischen 2016 und 2020 in Xinjiang 14,33 Millionen solcher Transfers statt, innerhalb der Region und in andere Provinzen. Auch wenn teilweise dieselben Personen mehrfach gezählt wurden, weil sie in mehreren Jobs eingesetzt wurden, erscheint die Zahl sehr hoch: Sie entspricht etwa der Anzahl von Uiguren und anderen Minderheiten in Xinjiang. Die gesamte Region hat rund 25 Millionen Einwohner.
Die entscheidende Frage ist, ob die Arbeitskräfte freiwillig an den Transfers teilnehmen. Offizielle chinesische Schilderungen sprechen oft dagegen. So sagten lokale Behörden Firmen zu, eine bestimmte Zahl von Arbeitern zu transferieren. Die Behörden hatten vorgegebene Quoten zu erfüllen. Deshalb zogen Regierungsvertreter von Haus zu Haus, um Arbeitskräfte von einer Teilnahme zu überzeugen.
Das Programm hat auch explizit politische Ziele: In Ausbildungen vor den Transfers lernen Teilnehmer, «die Partei zu lieben». Eine Studie der ostchinesischen Nankai-Universität nennt als einen Vorteil der Arbeitstransfers, dass so die Bevölkerungsdichte bei Uiguren reduziert werden könne. Umgekehrt siedelt die chinesische Regierung seit Jahrzehnten gezielt Vertreter der in China mehrheitlich vorkommenden Han-Ethnie in Xinjiang an.
Lager wirken als Drohkulisse
Das wichtigste Argument für den Zwangscharakter der Arbeitstransfers sind die Internierungslager in Xinjiang. Kein Uigure oder Vertreter einer anderen Minderheit könne die Teilnahme an Regierungsprogrammen ablehnen, ohne eine Lagerhaft zu riskieren, schreiben die Autorinnen der Sheffielder Studie. Das scheint das Beispiel des Landkreises Yarkand zu untermauern: Dort verschwanden besonders viele Bewohner in Lagern – und erklärten sich angeblich besonders viele Arbeitskräfte zum Transfer bereit, nämlich 85 Prozent.
Der Hoshine-Industriepark ist ein wichtiger Partner für Arbeitstransfers, wie die Sheffielder Studie zeigt. So sagte eine lokale Arbeitsbehörde zu, Hoshine 5000 ausgebildete Arbeiter zu vermitteln. Ein Online-Artikel einer Behörde erzählte die Geschichte eines Bauern-Ehepaares, dessen Einkommen aus dem Traubenanbau nur für das Nötigste gereicht habe, zumal die Eltern des Mannes erkrankt seien. Dank der «Wärme der Partei» und einem Arbeitstransfer zu Hoshine gehe es der gesamten Familie nun viel besser.
Eine zweite Quelle von Zwangsarbeit sind die Lager selbst. Internierte arbeiteten laut Staatsmedien und Zeugenaussagen während oder nach der Haft in nahen Fabriken. Zehn Kilometer südlich des Hoshine-Geländes liegt der «Stein-Industriepark», in dem Hoshine in der Vergangenheit Gestein kaufte und verarbeitete. In dem Park befanden sich laut dem australischen Think-Tank Aspi zwei Internierungslager. Bei einem Besuch im November schienen beide Lager verlassen, wie mittlerweile viele – aber keineswegs alle – Lager in Xinjiang.
Hoshine nimmt laut einem Online-Artikel vom September 2022 weiter am Arbeitstransfer-Programm teil. Inwiefern Arbeiter heute unter Zwang stehen, ist schwer zu beurteilen. Rund zehn uigurische Arbeiter, welche die NZZ zum Schichtwechsel vor dem Hoshine-Werk ansprach, verneinten, gezwungen worden zu sein. Ein weiterer Uigure sagte, er habe sich gerade auf Empfehlung eines Freundes als Wachmann beworben. Er zeigte ein Hoshine-Formular «zur politischen Überprüfung», gemäss dem er Beurteilungen der Polizei und des Parteikomitees seines Heimatortes einholen muss.
Eine andere Studie der Sheffield Hallam University vom Sommer hat nicht mehr das Zwangsarbeitsrisiko bei Silizium-Rohstoffen untersucht, sondern jenes bei den fertigen Solarmodulen, die Verbraucher in aller Welt auf ihre Hausdächer montieren. 75 Prozent aller Module werden von chinesischen Firmen hergestellt. Diese Firmen haben laut dieser Studie zwischen 7 und 14 Prozent ihrer Produktionskapazitäten auf «Xinjiang-frei» umgestellt, offenbar, um dem US-Gesetz gegen Zwangsarbeit zu genügen.
Das Problem ist, dass die allermeisten Firmen keine überprüfbaren Angaben zu ihren Lieferketten machen. Manche begründeten das gegenüber den Studienautoren mit chinesischen Gesetzen gegen Spionage und ausländische Sanktionen. Trotz globalem Druck nach erhöhter Transparenz werde die Solarindustrie intransparenter, schreiben die Autoren.
Die Studie schätzt deshalb anhand von Produktionskapazitäten und anderen Daten, wie wahrscheinlich es ist, dass weltweit verkaufte Solarmodule Rohstoffe aus Xinjiang enthalten, zum Beispiel Silizium von Hoshine. Für fast alle Module ist diese Wahrscheinlichkeit «hoch» bis «sehr hoch». Eine Ausnahme ist der Schweizer Hersteller Meyer Burger, der nach eigenen Angaben kein Polysilizium aus China verwendet.
Die USA lassen chinesische Solarimporte durch
Doch ohne China geht es auf dem Solarmarkt selbst für die USA nicht. Der Importstopp für Xinjiang-Produkte bremste den amerikanischen Solarausbau, weil offenbar auch viele Module, die nach Herstellerangaben Xinjiang-frei sind, an der Grenze steckenblieben. Mittlerweile hat der amerikanische Zoll etwa die Hälfte der Solarmodule freigegeben. Ein Drittel hat der Zoll definitiv abgelehnt, beim Rest steht das Prüfergebnis noch aus.
Dabei stammen die allermeisten dieser Solarmodule offiziell aus Malaysia und Vietnam, wo viele chinesische Hersteller produzieren. Die USA werfen manchen von ihnen vor, hauptsächlich in China zu produzieren und in Südostasien nur eine minimale Endmontage zu machen, um Anti-Dumping-Zölle gegen China zu umgehen. Im August erliess Washington deshalb Strafzölle gegen Firmen wie BYD und Trina Solar – nur um diese Zölle bis Juni 2024 auszusetzen, damit der Solarausbau in den USA nicht weiter behindert wird.
Die chinesische Solarindustrie scheinen weder das US-Gesetz gegen Zwangsarbeit noch Strafzölle auszubremsen, im Gegenteil. Hoshine baut gerade neue Produktionsanlagen im «Kohle-Strom-Silizium-Industriepark». Die Firma profitiere in Xinjiang von «politischen Kostenvorteilen», sagte der Hoshine-Vorsitzende Luo Liguo im Sommer. Ob er damit den günstigen Kohlestrom oder gar Zwangsarbeit meinte, ist unklar – Hoshine liess eine NZZ-Anfrage unbeantwortet.
Seit 2021, also seit dem Importstopp der USA, haben Silizium-Firmen in Xinjiang sechs neue Fabriken angekündigt, wie der Lieferketten-Experte Alan Crawford, ein Co-Autor der Sheffielder Studie vom Sommer, recherchiert hat. Alle nutzen Kohlestrom. In anderen chinesischen Regionen wie Sichuan und der Inneren Mongolei gibt es weitere fünfzehn solcher Projekte. Die Hälfte von ihnen setzt ebenfalls auf Kohle, die andere auf Wasserstoff.
Eine ähnliche Expansion beschreibt Christophe Ballif, ein Solarexperte der ETH Lausanne, für die gesamte chinesische Solarindustrie. China habe seit 2021 seine Produktionskapazitäten über die gesamte Wertschöpfungskette fast verdreifacht, von 500 auf 1400 Gigawatt, sagt Ballif, der kürzlich zwei Wochen lang chinesische Fabriken besichtigte. Das Land könne nun für die Welt die wesentlichen Komponenten der Energiewende günstig bereitstellen. «Bei den Produktionskosten wird es praktisch unmöglich, mit China mitzuhalten.»