Der Krieg in der Ukraine und das Wiederaufflammen des Kriegs im Nahen Osten bezeichnen eine Zeitenwende. Auch für die Nachrichtendienste. Und besonders für Europa.
Seit 2014 treten die Präsidenten der drei deutschen Geheimdienste Bundesnachrichtendienst (BND), Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) einmal jährlich zusammen im Deutschen Bundestag auf, um den Abgeordneten Bericht über ihre Arbeit und die allgemeine Gefahrenlage in Deutschland, Europa und der Welt zu erstatten. Ins Leben gerufen wurde die Anhörung mit der Absicht, den Geheimdienstchefs auf die Finger zu schauen und sie, wenn nötig, öffentlich ins Kreuzverhör zu nehmen. Dahinter verbarg sich ein unter vielen Abgeordneten verbreitetes Misstrauen gegenüber der Tätigkeit der Nachrichtendienste.
Auch das hat sich seit dem 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, gewandelt. Die diesjährige Anhörung Mitte Oktober nutzten die Präsidenten der Dienste für eine eindringliche Warnung vor Putins Russland: Dessen Geheimdienste agierten bereits heute «ohne jeglichen Skrupel», und die russische Militärmacht bereite sich darauf vor, «spätestens Ende des Jahrzehnts einen Angriff auf die Nato durchzuführen».
Deswegen dürfe es in der «Zeitenwende»-Debatte nicht nur um die militärische Stärkung Europas gehen. Sondern auch darum, die Fähigkeiten und den Aktionsradius der Geheimdienste an die veränderte weltpolitische Gefahrenlage anzupassen. Schliesslich seien die Dienste, noch vor Armee und Polizei, die erste Linie der Verteidigung, wenn es gelte, Bedrohungen zu erkennen und abzuwehren.
Der meistüberwachte Landstrich
Gerhard Conrad, langjähriger BND-Mitarbeiter in Nahost, liefert mit seinem Buch «Nichtwissen ist tödlich» eine aus der Praxis abgeleitete Begründung dessen, was die Geheimdienstchefs von der Politik fordern. Zwischen 2009 und 2011 gehörte Conrad einem Verhandlungsteam an, das die Befreiung des von der Hamas entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit erwirkte – im Austausch gegen 1027 in israelischen Gefängnissen einsitzende Palästinenser, unter ihnen auch den mittlerweile von Israel getöteten Drahtzieher des Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023, Yahia Sinwar.
Erhellend sind Conrads Ausführungen vor allem dann, wenn er die Ereignisse in Nahost in den vergangenen gut zwölf Monaten entlang nachrichtendienstlicher Bewertungs- und Analysemassstäbe darlegt. Wobei ihm seine Detailkenntnis sowohl der Topografie als auch der soziokulturellen Gemengelage des Gazastreifens zugutekommt. Dass der israelische Sicherheitsapparat, der zu den besten der Welt zählt, im Vorfeld des 7. Oktober 2023 versagt hat, steht für Conrad ausser Frage.
Grundsätzlich zählt Gaza zu den meistüberwachten Landstrichen weltweit: Telefone werden abgehört, E-Mails mitgelesen, Drohnen und Satelliten liefern hochauflösende Bilder von fast allem, was sich überirdisch abspielt. An Indizien für den bevorstehenden Angriff habe es nicht gefehlt, schreibt Conrad. So sei mithilfe moderner Überwachungstechnologie frühzeitig beobachtet worden, wie Hamas-Terroristen in einem nachgebauten Kibbuz den Häuserkampf trainiert hätten.
Verhandeln um die Geiseln
Die Fehler, die zu der Katastrophe führten, sieht Conrad in erster Linie beim Faktor Mensch. Auf Ebene der Analyse seien die einzelnen Puzzlestücke nicht richtig zusammengesetzt worden. Ungleich schwerer wiege jedoch, dass die politische und militärische Führung Israels der Hamas eine paramilitärische Operation der Dimension des 7. Oktobers 2023 schlicht nicht zugetraut und deshalb alle dahingehenden Hinweise als «überambitioniert» abgetan habe.
Besonders lesenswert sind Conrads Darlegungen dazu, welche politisch-operative Rolle die Nachrichtendienste, auch die europäischen, derzeit bei den Verhandlungen um die Freilassung der weiterhin in der Gewalt der Hamas befindlichen israelischen Geiseln spielen dürften. Doch können auch sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Darlegungen im Buch mitunter der rote Faden fehlt. Etwa, wenn Conrad unvermittelt von seinem Spezialgebiet Nahost zur amerikanischen Chinapolitik übergeht oder in die globale Klima- oder Handelspolitik abschweift.
Dennoch übersetzt Conrad aussenpolitische Entwicklungen auf fassliche Weise in nachrichtendienstliche Denkmuster. Wenn Europa globalpolitisch künftig eine Rolle spielen wolle, davon ist er überzeugt, reiche es nicht aus, die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und militärisch aufzurüsten. Darüber hinaus müssten auch die eigenen nachrichtendienstlichen Fähigkeiten, die seit Ende des Kaltes Krieges sukzessive zurückgefahren worden seien, wieder ausgebaut werden, sowohl technologisch als auch personell. Europa müsse auch auf diesem sicherheitspolitisch sensitiven Feld eigenständig und ohne die Unterstützung der Vereinigten Staaten agieren können.
Gerhard Conrad: Nichtwissen ist tödlich. Der Nahe Osten und die Rolle der Geheimdienste. Econ-Verlag, Berlin 2024. 256 S., Fr 36.90.